- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Bon Appétit
Vanessa möchte unbedingt ihre Mama überraschen, ihr etwas Gutes tun und sie verwöhnen, denn sie hätte es verdient! Vanessas Mama ist eine gutherzige und intelligente Person, die ihren Beruf als Kinderärztin in keiner Weise verfehlt hat. »Dr. med. Marilena Zimtstern« steht auf dem Schild ihrer Praxistür. Tüchtig und mit Leidenschaft hat sie sich diesen Traum verwirklicht und ist dabei immer eine vorbildliche Mama gewesen. Nur die Beziehung zu ihrem Mann ist auf der Strecke geblieben, das hat fünf Jahre nach Vanessas Geburt zur Trennung geführt.
Vanessa ist bereits zehn Jahre alt und hat die Scheidung ihrer Eltern verhältnismäßig gut verkraftet. Regelmäßig trifft sie ihren Papa, versteht die Situation, aber wünscht sich doch insgeheim einen Mann, der ihre Mama liebt und an ihrem Familienleben teilnimmt.
Heute ist weder Muttertag noch Weihnachten, also ein perfekter Tag für eine Überraschung. Bleibt nur die Frage: Wie kann Vanessa ihre Mama am besten verwöhnen? Natürlich mit einem herrlich gedeckten Esstisch und selbstgekochten Spaghetti Bolognese. Die sind nämlich ihr Lieblingsgericht und zufällig auch Mamas.
Eine Stunde noch, dann kommt sie von der Arbeit nach Hause. Zuerst deckt Vanessa den Tisch, freilich wird bei dem warmen und sonnigen Wetter draußen auf dem Balkon gegessen. Die schönen Bambusuntersetzer zuerst, darauf Großmutters alte, kunstvoll verzierte Teller und das Besteck. Extra noch gesucht, Mama wird es lieben! Eine Vase in die Mitte, hinein die heimlich vom Feld gepflückte Sonnenblume. Ein paar Kerzen links und rechts. Grün, rot, blau und gelb, kunterbunt, das wird sie freuen! Aber noch nicht anzünden! Jetzt in die Küche, Wasser in den Topf, Salz und etwas Öl hinzu, dann den Herd auf höchste Stufe.
Das war einfach, doch wie war das noch mal mit der Soße? Was bedeutet überhaupt Bolognese? Jetzt noch in einem Kochbuch herumblättern? Sie haben doch schon so oft Bolognese gegessen!
Hätte ich Mama nur mal öfter zugeschaut und besser aufgepasst!, denkt sie sich, als auf einmal wie Regen alle Zutaten in ihr Gedächtnis rauschen. Hackfleisch, ein paar Zwiebeln und viel Knoblauch, oder wenig? Und ...? Die Tomatensoße fehlt!
»Das kann nicht sein!«, flucht sie, ist sich aber bereits der einzigen Lösung bewusst. Bis Mama nach Hause kommt, sind es dreißig Minuten, und der Supermarkt ist nur hundert Meter entfernt, gleich um die Ecke. Flink zieht sie ihre Schuhe an, reißt die Wohnungstüre auf und läuft los.
»Verzeihung, wo finde ich die Tomatensoße?«, fragt sie eine ältere Dame am Eingang.
»Das nächste Regal rechts, mein Kind.«
Sie guckt auf die Uhr, die Zeiger ticken, die Zeit rinnt. Zu ihrem Glück warten nur wenige an der Kasse, obendrein lässt ein freundlicher Herr sie vor. Sie schafft es noch rechtzeitig!Das wird Mama freuen! Ungeduldig rechnet sie, um das Geld dem Kassierer gleich passend in die Hand geben zu können. Menschen unterhalten sich, die Klimaanlage kühlt vergeblich den Raum.
Vanessa starrt auf das Kassenband, wischt sich den Schweiß von der Stirn und überlegt, wie dieses Ding heißt, das die Artikel der Kunden voneinander trennt. Plötzlich zuckt sie zusammen: Es schmerzt höllisch im Bauch. Vorahnung bahnt sich den Weg ins Gedächtnis. Der Appetit verfliegt.
Ist das wahr?, fragt sie sich und durchwühlt aufgeregt ihre Taschen. Sie hat den Hausschlüssel vergessen! Es drückt noch heftiger in der Magengegend. Sie hat sich ausgesperrt und vergessen, den Kochtopf vom Herd zu nehmen!
»Hallo«, murmelt die Kassiererin und scannt die Tomatensoße.
Vanessas Pläne und Hoffnungen lösen sich in Luft auf. Wie konnte das passieren? Alles vermasselt! Der Puls steigt, die erste Träne kullert.
»Einsneunundzwanzig, bitte!«
Vanessa rennt los.
Vor ihrem Haus entlädt ein Mann gerade seinen Lieferwagen.
»Bitte helfen sie mir!«, fleht Vanessa, »es brennt!«
Er nimmt ihre Hände. »Wo brennt es denn?«
Sie schaut ihn an und bricht in Tränen aus. »Ich wollte sie überraschen! Ich hab alles kaputtgemacht, hab meinen Schlüssel vergessen! Alles brennt!«
Der Mann redet ihr gut zu: »Beruhige dich, wir kriegen das hin! Wo ist denn deine Wohnung? Ist vielleicht ein Fenster offen?«
Seine sanfte Art tröstet tatsächlich ein bisschen. Die Vergangenheit ist sichtbar, alles wird klar, sie spürt die Bambusuntersetzer, das Besteck schimmert im Licht, der Wind bläst die Gardine durch die offene Balkontür.
»Eine Leiter! Sie ist offen, die Balkontür ist offen!«
Augenblicklich hüpft der Mann in den Lieferwagen und packt eine Leiter aus, dann laufen beide die Fassade entlang zum Balkon. Passanten gucken. Die Leiter ist aufgestellt. Eine Stufe, dann noch eine. Sie schaut ihm nach. Die Sonne blendet. Ein Bein über die Brüstung gestreckt. Jetzt ist er weg. Sie wartet, es ist unerträglich.
Der Helfer läuft in die Küche. Das Wasser brodelt. Kein Qualm, ein bisschen Dampf, aber kein Feuer, nur zerkochte Spaghetti. Er schaltet den Herd aus.
Ein Schlüssel schiebt sich ins Türschloss. Marilena betritt die Wohnung. Überrascht schauen sich beide an. Nach einer kurzen Erklärung holen sie Vanessa, die immer noch wartet.
»Es tut mir so leid, Mama, ich wollte dich nur überraschen!«
»Das hast du allerdings geschafft! Sei froh, dass nicht mehr passiert ist! Wir zwei unterhalten uns später darüber! Zu allererst bedanken wir uns bei Herrn - «
»Franco, nennen sie mich Franco. Ich bin neu hier, gerade umgezogen.«
»Vielen, vielen Dank, Franco! Kann ich Ihnen vielleicht etwas Gutes tun? Wie wäre es, wenn wir Sie zum Essen einladen?«
Ein wenig später sitzen die drei am Tisch beim Italiener um die Ecke. Alle bestellen Spaghetti Bolognese, ihr Lieblingsessen. Der attraktive Neuling erklärt Vanessa, dass die Nudeln erst bei kochendem Wasser in den Topf kommen und dass dieses Gericht einer Stadt in Italien entstammt. Aufmerksam hört sie ihm zu und bewundert dabei seine schönen Augen. Dann fällt ihr Blick auf Mama, und eine wunderbare Idee bildet sich in ihrem Kopf.