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Boléro - Der ewige Kampf

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31.10.2003
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Boléro - Der ewige Kampf

Erster Akt


Sapere aude
(Wage es, zu wissen)

Die Detonation des Schusses erreicht mein Ohr, bevor der Schmerz einsetzt. Ich sehe das starre Gesicht des Uniformierten, der nach guter, alter John Wayne-Manier den Revolver zurück in den Halfter gleiten lässt. Meine Beine geben nach.
Dies ist eindeutig keine Vision, schießt es durch meinen Kopf.

Vision: ein im äußeren Raum anschaulich gesehenes Bild, das für andere Betrachter nicht vorhanden ist.

Es hatte harmlos angefangen; ein simpler Ausfall irgendwelcher Verknüpfungen im Gehirn. Meine Frau Molly und ich hatten noch gelacht.
Mir war in einem ganz lapidaren Satz das Wort für dieses hölzerne Ding mit den vier Beinen nicht mehr eingefallen.
„Hast du meinen Autoschlüssel gesehen?“, hatte Molly gefragt.
„Er liegt da drüben auf dem …“ Kurzes Schweigen. „Auf dem …“ Ich hatte die Stirn in Falten gelegt, ebenso wie Molly, die mich fragend angesehen hatte. Ich sah doch diesen Schlüssel auf dem verdammten …
„Auf dem …“ Ich hatte es noch einmal versucht. Nichts. Das Wort war weg.
Ich deutete mit dem Finger auf das Ding, Mollys verwundertem Blick ausweichend.
„Du meinst den Tisch?“, fragte sie vorsichtig.
Ich sah sie an. Sie hätte mich auch fragen können: „Du meinst den Wrngsslw?“ Das von ihr genannte Wort sagte mir rein gar nichts. Ein Druck war in meinem Kopf entstanden, kein schmerzhafter, lediglich dieser verkrampfte Druck der Verzweiflung. So etwas gab es doch nicht! Ich wusste doch, dass ich dieses Ding, an dem man essen konnte, kannte. Ich wusste es!
Und Sekunden später war es wieder da. Tisch! Natürlich Tisch. Wie hatte ich das vergessen können? Wir hatten gelacht.


* * *​

Ich höre den Uniformierten etwas brüllen. Mein Magen verkrampft sich. Schweiß steht auf meiner Stirn. Der Hüne macht sich daran, die Straße zu überqueren …


* * *​

Es kam der Tag im Park. Und meine erste Vision.
An einem Sonntagmorgen schlenderten Molly und ich über den Weg, und ich hörte die Steine unter meinen Schuhen knirschen. Viel zu laut, wie ich fand.
„Ich finde es schön, dass wir mal wieder Zeit für uns haben“, sagte Molly und hakte sich fester bei mir ein.
„Ja schön“, sagte ich durch das Tosen der Steine hindurch. Ich sah nach unten. Ein ganz gewöhnlicher Weg durch einen ganz gewöhnlichen Park. Warum waren die Schritte so laut?
Ich blickte zu Molly, doch sie hatte ihren Kopf an meine Schulter gelegt und schaute verträumt in den Himmel. Ich lächelte, sah das Meer von Rosen, die einen farbenprächtigen Kontrast zum tristen Grün der Wiese bildeten. Sie rochen nach gebratenen Würstchen, zumindest drang der einschneidende Geruch zu mir herüber. Mein Magen knurrte.
Ich sah mich um, allerdings konnte ich den Geruchsverursacher nirgends ausmachen. Lediglich unzählige Tauben befanden sich jetzt auf der großen Wiese neben uns. Ich runzelte die Stirn. Wo waren die Rosen?
Molly summte ein Lied. Ein Sperling neben uns flog gegen einen der Baumstämme und zerplatzte an der Rinde. Ich zuckte zusammen, verharrte erschrocken in der Bewegung und starrte mit offenem Mund auf den gekrümmten Kadaver im Moos.
Molly sah mich an: „Was hast du?“
Mein Herz donnerte, jedes Wesen im Park musste es hören können. Die Tauben sahen zu uns herüber, dann erhoben sie sich wie auf Kommando in die Luft und stoben auseinander. Der Würstchengeruch wurde stärker. Verbrannter.
„David, was ist mit dir?“
Ich blickte ungläubig in ihre Augen, konnte nicht nachvollziehen, was sie mich gerade gefragt hatte. War sie denn blind? War es ihr entgangen, wie dieser winzige Vogel sich den Schnabel durch seinen Schädel katapultiert hatte? Sah sie denn nicht die dünnen Beinchen, die steil nach oben gerichtet waren, als griffen sie nach der letzten Hoffnung, den Baum doch noch umfliegen zu können?
Meine Hand erhob sich zitternd, deutete auf den Boden, doch da war nur noch Moos. Der Vogel war verschwunden. Auch der Würstchengeruch.


* * *​

Für einen Moment wird mir schwarz vor Augen. Der Uniformierte verschwimmt, die Geräusche um mich herum werden dumpfer. Ich höre Stimmen vereint mit einem stetigen Piepen direkt neben mir. In mir?


* * *​

Die Visionen kamen wieder, die Abstände wurden kürzer, die jeweiligen Sequenzen dafür umso länger. Und erschreckender: Hupende Autos, gezogen von galoppierenden Pferden, heulende Sirenen, direkt neben mir. Mein zuckender Körper, der daraufhin beinahe einem Infarkt erlegen wäre. Und wenn ich mich umsah, nur freie Straßen und kopfschüttelnde Passanten.
„Du solltest einen Arzt aufsuchen, David“, hatte Molly eines Morgens am Frühstückstisch gesagt, während sie sich den heißen Kaffee über die Hand schüttete und die verbrühte Haut mit dem Brötchenmesser abschälte.
Inzwischen hatte ich mich fast an solche Anblicke gewöhnt, und ich gab ihr Recht. Noch während ich mit meinem Hausarzt telefonierte, hörte ich sie in der Küche grunzen wie ein Schwein bei der Fütterung. Die Geräusche, die sie dabei zusätzlich durch ihren Darmausgang erzeugte, verursachten einen Druck in meinem Magen.


* * *​

Diagnose: Überarbeitung
Behandlung: Ruhe; Spaziergänge, sportliche Aktivitäten
Resultat: keine positiven Veränderungen
Diagnose: Burn-out-Syndrom, Wahrnehmungsstörungen
Behandlung: Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, Clozapin einmal täglich
Resultat: keine positiven Veränderungen
Diagnose: zunehmende Wahrnehmungsstörungen, vorwiegend visuellen Charakters
Behandlung: Überweisung, neurologische Untersuchung
Das waren die Ergebnisse der darauf folgenden Tage. Und jeder wurde schlimmer.


Heute

Mein Ford Fiesta katapultierte mich über die linke Spur der Autobahn. Vorbei an Bäumen, deren Stämme träge gen Boden wiesen. Ich schüttelte den Kopf. Die Leitplanke direkt neben mir schien näher zu rücken. Jetzt bloß nicht ausweichen. Alles war unwirklich. Visionen! Ich kannte es ja bereits.
Ich befand mich auf dem Weg zur Klinik. Zur Ergebnisbesprechung der neurologischen Untersuchung.
Mein Blick war starr nach vorn gerichtet. Der Lkw, den ich zum Überholen angesetzt hatte, schwankte leicht. Nur nicht ausweichen! Ich war inmitten einer Vision.
Jemand lachte hinter meinem Rücken, und erschrocken blickte ich in den Innenspiegel. In weiter Ferne folgte mir ein Wagen. Nichts weiter.
Ich erreichte den Lkw. Es war ein Viehtransporter. Die dünnen Lüftungsschlitze mit den fingerdicken Gitterstäben wirkten wie grinsende Münder mit unnatürlich geraden Zähnen. Gestank nach Kot drang zu mir herein.
Immer nach vorne schauen ... gleich würde es vorbei sein.
Ich sah Hände, die sich bleich aus den Lüftungsschlitzen des Viehtransporters wanden. Hände, deren Haut so blass war, als würde sie in diesem Moment zum ersten Mal das Sonnenlicht sehen. Finger zuckten, griffen nach etwas, das nicht da war. Schreie ersetzten den beißenden Gestank.


Institut für Neuropathologie; Zimmer 305; Prof. Dr. med Walter Brinkmann

Meine Finger hatten sich ineinander geschlungen, so dass die Kuppen einen lilafarbenen Kontrast zum Weiß der Knöchel abgaben.
Nachdem ich die Autobahnfahrt heil überstanden hatte, war ich vor gut dreißig Minuten in der Klinik eingetroffen. Ich saß vor dem mächtigen Schreibtisch von Professor Brinkmann, schmunzelte ein wenig aufgrund der Assoziation zu einer längst vergangenen Fernsehserie, und blickte in meinen Schoß.
Der Professor stand vor einer Wand mit leuchtend bunten Fotos der Kernspinuntersuchung meines Kopfes, während seine Finger durch seinen Bart kraulten. Ich hörte ihn lautstark lachen, ohne dass er eine Miene verzog. Etwas surrte an meinem Ohr.
„Nun, Herr Riemschneider.“ Ich wusste, was jetzt kommen würde. Schließlich hatten die Wahrnehmungsstörungen, wie Professor Brinkmann sich so vortrefflich auszudrücken pflegte, in letzter Zeit an Intensität deutlich zugenommen.
Der Professor drückte auf einen Knopf an der Wand und die bunten Bilder verblassten. „Wir sind zunächst von einer Paranoiden Schizophrenie ausgegangen, was sich auch bestätigte.“
„Zunächst?“
Der Professor nahm hinter dem Schreibtisch Platz, schob die schmale Brille auf seinem Nasenrücken zurecht, stützte die Unterarme auf und verschränkte fachmännisch die Finger.
„Mich machte die von Ihnen genannte Häufigkeit der Wahrnehmungsstörungen ein wenig stutzig. Eher ungewöhnlich, woraufhin ich die Kernspinuntersuchung anordnete.“
„Was habe ich?“
Brinkmann atmete tief ein. „Es tut mir leid, Herr Riemschneider.“
„Was habe ich?“
„Wir haben bei der Untersuchung einen Tumor entdeckt.“
Diesmal atmete ich tief ein.
„Zum Glück haben wir ihn jetzt entdeckt. Wir dürfen die Operation auf keinen Fall länger hinauszögern.“
Ich zuckte zusammen, sah den Professor an, der jetzt in einem großen Buch blätterte. Die halbvertrocknete Pflanze im Hintergrund verströmte einen unangenehmen Geruch. Ich konnte ihn nicht zuordnen. Er war einfach nur unangenehm. Hatte der Professor gerade etwas von einer Operation gesagt? Mein Kopf schmerzte.
„Ich gehe davon aus, dass der Tumor für einen großen Teil Ihrer Störungen verantwortlich ist. Aufgrund des enormen Anstiegs der Häufigkeit Ihrer Wahrnehmungsstörungen innerhalb eines relativ kurzen Zeitraumes, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch. Ich gehe weiterhin davon aus, dass die Wahrnehmungsstörungen immer häufiger auftreten werden“, fuhr Professor Brinkmann fort. „Wie Sie ja bereits festgestellt haben, werden Sie Dinge sehen oder hören, die nicht der Realität entsprechen.“ Er blickte mich eindringlich an. Die Pflanze im Hintergrund sah völlig gesund aus. „Es wird Ihnen allerdings wie die Realität erscheinen. Wir müssen daher schnellstmöglich handeln.“
„Wie viel Zeit bleibt mir?“
„Passt es Ihnen morgen?“
„Morgen?“
„Wir werden morgen mit den letzten Vorbereitungen beginnen. Übermorgen entfernen.“
Professor Brinkmann nahm die Brille ab. Sein linker Augapfel quoll hervor, löste sich zwischen den Lidern und fiel heraus. In Höhe des Mundwinkels blieb er schwingend hängen, gehalten durch den rotschimmernden Sehnerv.
„Oh, bitte entschuldigen Sie.“ Der Professor grinste verlegen und drückte die gallertartige Masse wieder zurück an ihren angestammten Platz.
„Ich werde morgen früh hier sein“, erwiderte ich.

* * *​

Wahrnehmungsstörungen. Unstimmigkeit der Akustik. Halluzinationen. Die Worte des Professors hallten durch die Luft und erfüllten den Innenraum meines Fiestas mit ihrer Niedertracht. Ich blickte durch die Scheibe auf das Klinikgebäude, das ich vor zehn Minuten verlassen hatte.
Im Radio bekundete Bob Geldof seine Abneigung gegen Montage. Wie Recht er doch hatte. Kurz darauf ertönte Nie mehr Boléro in der deutschen Fassung von Karel Gott. Ich drehte am Lautstärkeregler, und die Musik erfüllte mich mit sanfter Gleichgültigkeit. Es tat gut.
Professor Brinkmann hatte mir vorhin eine Packung mit Tabletten gegeben. „Nehmen Sie eine, Herr Riemschneider. Sie wird Ihnen für ein paar Stunden Ruhe geben.“ Danach war er auf seinen Schreibtisch gesprungen, hatte sich wie ein wütender Schimpanse vor mich gehockt und mir geifernd ins Gesicht geschrien: „Ich werde das Geschwür selektieren, Herr Riemschneider. Mit meinen eigenen Zähnen werde ich diese bösartige Wucherung herausbeißen. Werde den Eiter lutschen und mich mit Ihrem Blute balmen.“
Jetzt schlug ich die Hände vors Gesicht und weinte. Zum ersten Mal, seit es begonnen hatte, konnte ich weinen.
Nach einer Weile begann mein Kopf zu schmerzen. Ein dumpfer Druck entstand. Ich hatte das Gefühl, einen dieser Luftballons, der an den Gasflaschen auf dem Rummel angeschlossen war, unter der Schädeldecke zu haben. Hatte ich bisher jemals Schmerzen verspürt? War die Region, in der sich diese Geschwulst eingenistet hatte, überhaupt schmerzempfindlich?
Ich wusste es nicht. Für übermorgen war die Operation angesetzt. Und danach ein Leben ohne Visionen. Ein Gefühl der Erleichterung breitete sich in meiner Brust aus. Ich würde wieder leben.
Schnell schluckte ich eine weitere Pille.
Nach einer Weile stieg ich aus dem Wagen und schloss ihn ab. Die Tabletten begannen zu wirken. Ich merkte es an einem tauben Gefühl auf meiner Kopfhaut. Irgendwie hatte ich auch das Gefühl, klarer denken zu können. Ich würde zu Fuß gehen und den Wagen hier stehen lassen - bis zum Hauptbahnhof war es nicht weit - von da aus mit dem Zug. Vielleicht tat mir die Luft ja gut. Es war kalt. Ich knöpfte den Mantel zu und lächelte über die anderen Passanten, die in T-Shirts und kurzen Hosen der strahlenden Sonne trotzten.
Warum hatte ich eigentlich keine Angst? Ein bösartiges Geschwür wucherte in meinem Kopf, übermorgen stand mir die neurochirurgische Entfernung bevor. Müsste ich nicht vor lauter Panik zusammenbrechen? Was wäre, wenn etwas schief ginge? Ein winziger Schnitt zu viel. Würde ich als sabbernder Grinser in einem metallischen Stuhl mit Rädern enden? All das malte ich mir aus, doch ich verspürte keinerlei Regung. War mir alles egal? Ich könnte mich doch zumindest freuen, dass es bald vorbei sein würde. Keine Regung. Setzte der Tumor meine Gefühle außer Kraft?
Ein junges Mädchen kam mir entgegen. Sie lächelte mich an, hauchte mir im Vorbeigehen einen schemenhaften Kuss zu. Ich blieb stehen und blickte ihr nach. Sie war höchstens dreizehn, doch ihr schwingender Gang stand dem von Marilyn Monroe in „Manche mögen´s heiß“ in nichts nach.
„Hey, bist du ´n Kinderficker?“
Vor mir hatte sich ein kleiner, kahlköpfiger Kerl aufgebaut. Seine Hand schlug gegen meine Schulter.
„Bist du ein Kinderficker?“ Er brüllte es laut. Einige Passanten blickten beschämt herüber, andere überhörten auffällig.
Ich steckte die Hände in die Manteltasche und wollte an Mister Zivilcourage vorbeigehen. Ich fragte mich, was er mich wirklich gefragt hatte. Sein schaler Atem, der nach knoblauchüberdeckter Vanille roch, stand in der Luft. Der schleichende Druck in meinem Kopf war immer noch nicht ganz verschwunden, oder er war wieder neu entstanden. Was waren das für scheiß Tabletten? Der Vanillegeruch nahm eine exkrementebehaftete Nuance an.
Die Glatze packte mich am Oberarm und hielt mich fest. „Ich hab dich was gefragt.“
Sollte ich antworten? Doch worauf?
Ich blickte hinab, stieß seinen Arm beiseite und ging.
„Kinderficker!“, tönte es hinter meinem Rücken. Ich ignorierte es. Es war nicht echt.

Fünf Minuten später sah ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Polizisten von außergewöhnlicher Größe. Der Hüne stand mit dem Rücken an eine Häuserwand gelehnt und sah zu mir herüber. Eine ältere Dame blieb vor ihm stehen und schien ihn etwas zu fragen. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, zog er seine Waffe und schoss ihr in den Kopf. Ein Mann im Nadelstreifenanzug beschwerte sich, als ein roter Strahl seine Hose beschmutzte. Der Uniformierte sah ihn eindringlich an.
Der Nadelstreifenmann begann zu schreien, ohrenbetäubend und eindringlich. Das Gesicht verzerrte sich zu einer grotesken Maske, das Kreischen wurde schriller. Ich wich unwillkürlich einen Schritt zurück, obwohl ich mich auf der anderen Straßenseite befand.
Urplötzlich verstummte der Mann, der Schrei war weiterhin in seinem Gesicht eingebrannt, und es begann zu einer zähflüssigen Masse zu zerschmelzen. Augen, Nase und Mund flossen ineinander, bildeten eine verwirrende Einheit. Der Körper tat es dem Gesicht gleich, der Stoff des Anzugs vereinte sich mit dem Fleisch und zerlief zu einer breiigen Pfütze auf dem Asphalt
Als der Uniformierte jetzt zu mir herüberlächelte, merkte ich erst, dass ich stehen geblieben war und ihn mit offenem Mund fixierte.
Weiterhin lächelnd richtete er seine Waffe auf mich und schoss.
Ein harter Schlag gegen meine Schulter ließ mich aufschreien, und ich presste die Hand gegen den Schmerz. Blut quoll zwischen den Fingern hindurch. Meine Knie knickten ein. Ich schwankte, hatte Mühe, nicht den Halt zu verlieren.


Jetzt

Mein Gott! Wie eine Explosion dringt die Erkenntnis in meinen Schädel. Es ist real! Keine Wahrnehmungsstörungen! Dort drüben auf der anderen Straßenseite steht tatsächlich ein Irrer, der auf mich schießt. Ich schreie erneut, spüre, wie sich mein Magen zusammenzieht. Eine Frau geht an mir vorbei, sieht kurz herüber und nickt.
Der Polizist richtet erneut seine Waffe auf mich. Durch seine Größe hat er keine Mühe über die anderen Passanten hinwegzuzielen. Ich stürme los, höre die Kugel in die Häuserwand einschlagen, vor der ich eben noch gestanden habe. Ein weiterer Schuss folgt. Der Kerl ist verrückt. Was zum Teufel geht hier vor? Ich renne durch die Menschenmenge, die träge den Gehsteig entlang schleicht, stoße gegen einige von ihnen und schreie auf, wenn meine Schulter gegen diese menschlichen Barrikaden schlägt. Sie machen nichts, sie scheinen mich nicht einmal wahrzunehmen.
Hektisch blicke ich zurück, sehe den Polizisten, der mit strammen Schritten die Straße überquert. Ist er noch größer geworden? Wie ein Berserker stößt er die Leute beiseite, die seinen Weg kreuzen. Wieder dringt ein kurzer Schmerzensschrei an meine Ohren, als ein kleiner Junge neben mir in den flüssigen Aggregatzustand wechselt. Das alles kann doch nicht real sein.
Der Gestank der Menschen nimmt an Intensität zu und legt sich auf meinen Verstand; gibt mir das unbändige Verlangen, ihn hinauskotzen zu wollen. Was ist mit diesen scheiß Tabletten? Sie scheinen alles schlimmer zu machen. Oder wirklicher? Der schießende Idiot hinter mir ist existent. Eindeutig! Oder etwa nicht? Während des Laufens blicke ich auf meine Schulter. Der Mantel hat sich rot gefärbt. Real! Der Schmerz dringt durch den Stoff hindurch, schreit mich zur Bestätigung an. Ich stoße gegen eine alte Frau, fasse ihre eingefallenen Schultern.
„Hey!“, schreie ich sie an. „Was ist hier los?“ Ich schüttle sie. Sie sieht mich nur an, lächelt. Ich lasse sie los und renne weiter.
Wieder donnert ein Schuss durch die träge Luft, wieder reagiert keiner der Passanten, nur mein Herz setzt einen beängstigenden Augenblick lang aus.
Wolken ziehen auf. Dicht und undurchdringlich. Die Sonne sticht hell durch ein winziges Loch. Sie brennt in meinen Augen. Ich renne und meine Schulter explodiert mit jedem Atemzug. Ich höre den Polizisten hinter mir durch die Menge brüllen. Seine Waffe brüllt ebenfalls, die Schädeldecke der Frau neben mir mit den beiden Alditüten, platzt weg. Sie geht noch einige Schritte, bis die Tüten sie zu Boden ziehen.
Ein VW-Kombi rast auf mich zu. Ich sehe den Fahrer, der jegliche Regung das Lenkrad umklammert. Ich kenne ihn. Es ist Molly, meine Frau. Der Motor heult auf.
Mit einem schnellen Sprung schaffe ich es gerade noch, in einer kleinen Gasse zu verschwinden, bevor der Wagen in ein Schaufenster kracht. Eine gewaltige Detonation fräst sich hinter meinem Rücken über die Straße. Brennende Menschen laufen durcheinander. Jetzt reagieren sie endlich.
Durch das Getöse höre ich immer noch das Brüllen des Polizisten. Es durchdringt die Symphonie des Chaos wie die prägnante Disharmonie eines unpassenden Solos.
Warum laufe ich eigentlich davon? Es sind doch lediglich Visionen. Ich flüchte vor unechten Erscheinungsformen! Etwas sticht in meinem Kopf, tief drin.
Ich bleibe stehen, keuchend, kurz davor, meinen Mageninhalt über meine Schuhe zu verteilen. Der penetrante Gestank, der unverändert in der Luft hängt, hilft nicht gerade dabei, dieses zu verhindern. Es ist eine widerwärtige Mixtur von Schweißausdünstungen, Fäkalien und brennendem Fleisch.
Auf dem von hohen Häuserwänden gesäumten Weg vor mir liegen zwei Personen. Es sind das Mädchen mit dem Marilyn-Monroe-Gang und der kleine, kahlköpfige Kerl. Das Mädchen liegt nackt auf dem Rücken, hat die Beine bis zu den Wangen angewinkelt. Der Kerl liegt über ihr mit herabgelassenen Hosen. Sie blicken mich an. Ihre Münder sind rund, ebenso wie die kreisförmig angeordnete, doppelte Zahnreihe. Die unzähligen, nadelspitzen Zähne des Kahlköpfigen beginnen zu rotieren, werden immer schneller, erzeugen sogar ein surrendes Geräusch. Er drückt sie auf den Brustkorb des Mädchens und fräst sich durch spritzende Knochensplitter, bis sein Gesicht in ihrem Innern verschwunden ist. Das Mädchen lächelt mich dabei an. Die rhythmischen Bewegungen des Mannes werden heftiger.
Ich spüre den Ekel tief aus mir emporsteigen, wie das heiße Blut aus meiner zerschossenen Schulter.
„Los, kommen Sie hier herein!“, schreit ein Mann in einem der Häusereingänge, unterstrichen durch wildes Gestikulieren mit den Armen. Er reißt mich aus meiner Vision. Oder holt er mich in eine hinein? Das Licht, das hinter seinem Rücken aus dem Türrahmen auf die Straße fällt, ist so grell, dass es in den Augen sticht. Für einen Augenblick vergesse ich die Schmerzen in der Schulter.
Sekunden später schließt sich die Tür hinter mir.
„Das war knapp“, sagt der Mann.
Ich kann sein Gesicht nicht erkennen. Es wirkt unscharf. Meine Augen brennen weiter, obwohl das Licht nicht mehr so grell ist.
„Kommen Sie hier herüber. Setzen Sie sich erst einmal.“
Der Schemenhafte deutet auf einen Stuhl in einem angrenzenden Zimmer, den ich klar erkennen kann.
„Ich hole etwas für Ihre Schulter. Ziehen Sie schon mal den Mantel aus.“
Er verschwindet aus dem Raum. Ich höre polternde Geräusche. Sie klingen metallisch. Vorsichtig befreie ich mich von meinem Mantel und sehe mich um. Eine unordentliche Küche, Kochtöpfe türmen sich aus einer Spüle heraus, der Herd steht offen, und Reste der letzten Pizza leben auf einem schmierigen Blech. Meine Schulter stößt einen spitzen Schmerz hervor, mein Kopf ebenfalls. Ich habe das Gefühl, nicht mehr klar denken zu können. Die Mikrowelle fiept gleichmäßig, und es nervt mich.
Ich lasse mich in den Stuhl fallen, und plötzlich habe ich das Gefühl, woanders zu sein. Ganz kurz nur. Der Raum ist verschwunden. Ich liege irgendwo und blicke in eine grelle Lampe. Es riecht nach Desinfektionsmittel.
„Sie müssen in ein Krankenhaus.“
Ich zucke zusammen, als die Stimme direkt neben meinem Ohr ertönt.
„Als Laie würde ich sagen, die Kugel steckt noch drin.“ Der Mann, der mich in seine Wohnung geholt hat, hockt sich vor mich und knöpft mein Hemd auf. Ich bin verwirrt, habe gar nicht bemerkt, wie er wieder den Raum betreten hat. Eine Schüssel mit Wasser steht auf dem Tisch. Mullbinden liegen daneben.
„Ich kann das hier nur notdürftig versorgen. Sie müssen in ein Krankenhaus.“
Etwas surrt in meinem Kopf. Ist es der Tumor? Immer noch ist der Mann unscharf. Wenn ich ihn ansehe, beginnen meine Augen zu brennen. Und je länger ich es versuche, umso schlimmer wird es. Wo befinde ich mich wirklich?
Ich will ihn fragen, ob er real ist, doch was wird er sagen, wenn er es ist? Warum fragt er mich eigentlich nicht, was passiert ist? Warum will er nicht wissen, weshalb ich verfolgt wurde?
„Ich … ich kann Sie nicht richtig erkennen“, sage ich. Das Sprechen tut weh. Augenblicklich steigt mir wieder dieser seltsame Geruch nach Desinfektionsmittel in die Nase.
Der unscharfe Mann hat mein Hemd entfernt und säubert vorsichtig die Wunde.
„Mein Name ist Martin Bechtel.“ Er hat eine sehr beruhigende Stimme. Sein Atem weht ein leichtes Zitronenaroma in den Raum.
„David Riemschneider.“ Ich versuche mir vorzustellen, wie alt er wohl ist, doch seine Stimme kann sowohl einem Mittzwanziger als auch einem Fünfzigjährigen gehören.
„Sie müssen in ein Krankenhaus, David“, sagt Herr Wie-alt-auch-immer-Bechtel noch einmal. Er hat meine Schulter verbunden. Irgendetwas zischt unter dem Verband. Gestank nach brennendem Fleisch. Meine Augen brennen ebenfalls.
Ein lautes Klopfen an der Tür lässt mich zusammenzucken.
„Warten Sie hier, und verhalten Sie sich ruhig“, sagt Martin. Er verlässt den Raum.
Ich atme schwer und spüre den kalten Schweiß, der auf meiner Stirn entsteht. Er rinnt mir in die Augen. Ich wische ihn nicht fort. Mein Kopf ist leer, und ich versuche, die aufkeimende Lethargie zu verdrängen. Wer ist dieser Martin Bechtel? Wer ist dieser irre Polizist?
„Die Wahrnehmungsstörungen werden immer häufiger auftreten, Herr Riemschneider. Sie werden dazu führen, dass sie Dinge sehen oder hören, die nicht der Realität entsprechen. Es wird Ihnen allerdings wie die Realität erscheinen.“ Professor Brinkmanns Stimme in meinem Kopf verstärkt meine Gleichgültigkeit.
Eigentlich ist es doch egal. Ich kann nicht mehr zwischen Realität und Vision unterscheiden. Was soll´s also? Ich weiß weder, ob Martin Bechtel echt ist, noch was es mit der Schießerei auf sich hat. Ist das Loch in meiner Schulter echt? Bilde ich mir den Schmerz nur ein? Hat sich der Tumor so sehr in den Nervenstrukturen verankert, dass er über sie bestimmen kann wie ein Dirigent über seine zuckenden Musiker?
Leise Stimmen sind hinter der angelehnten Küchentür zu hören. Da ist die beruhigende Stimme von Herrn Bechtel und dazwischen eine tiefere, dumpfe, die kurz lauter wird.
„… eliminieren!“, meine ich zu hören. Oder war es intubieren?
Ein „Pscht“ dämpfte sie. Dumpfe Detonationen dringen von außen herein. Es herrscht das Chaos.
„Es ist doch einerlei“, sagt die tiefe Stimme. Ich habe das Gefühl, als sei sie direkt in meinem Kopf. Blitze zucken vor meinen Augen.
Durch den grellen Spalt der Küchentür sehe ich zwei Personen im Halbdunkel des Flurs. Die eine trägt Polizeiuniform, die andere einen weißen Kittel. Die Kittelperson steht mit dem Rücken zu mir gewandt. Ihre behaarten Beine enden in hornigen Hufen. Martin Bechtel erkenne ich nicht, höre ihn aber jetzt.
„Ich werde ihn rüberbringen!“, zischt er unsichtbar.
Der Kittelmann schabt mit den Hufen über den Holzboden. Als er sich kurz umdreht, erkenne ich das Gesicht von Professor Brinkmann. „Wie lange noch?“, keucht er, als hätte er einen Hundertmetersprint hinter sich.
„Ich werde ihn rüberbringen“, wiederholt die beruhigende Stimme von Martin Bechtel.
„Er hat schon viel zu viel gesehen“, dröhnte jetzt der Polizist. „Wir müssen es hier und jetzt erledigen!“
Der Druck in meinem Kopf nimmt zu. Warum brüllt der Mann so laut? Ich will schreien, doch mein Atem erzeugt lediglich einen pfeifenden Ton. Mein Hals brennt. Ich ersticke. Meine Hände verweilen ruhig in meinem Schoß.
„Er hat sich bereits“, kreischt Brinkmann, „mit meiner Version des Hirntumors abgefunden. Sie hätten daher nicht auf ihn schießen müssen, mein Lord.“
Ich atme flach.
Der Polizist brüllt so laut, dass die Küchentür vibriert. „Ihr wagt es, mich in Frage zu stellen?“
Brinkmann wimmert, hebt seinen Kittel, dreht sich und streckt dem Uniformierten sein mit dichtem Fell überwuchertes Hinterteil entgegen.
Der Polizist grunzt zufrieden. Ich erkenne einen etwa unterarmgroßen Penis, der gewandt in den Professor eindringt. Brinkmann grinst, die Zunge hängt hechelnd aus seinem geifernden Maul und seine Augen fallen heraus. Sie hüpfen wie Flummis über den Boden. Eines verfängt sich in einem Nagel und platzt auf. Es knallt.
„Wir werden es sofort erledigen, Diener“, dröhnt der Uniformierte.
Ich lege meinen Kopf zurück und blicke zur Decke. Die Lampe ist grell. Es ist doch alles egal. Spätestens übermorgen wird es vorbei sein. Übermorgen werden sie dieses Ding aus meinem Kopf geschnitten haben. Ich schließe die Augen. Nichts ist real. Auch nicht dieser beißende Gestank.
Die Haustür fällt ins Schloss. Schritte nähern sich. Es sind eindeutig mehr als eine Person, die jetzt die Küche betreten. Ich öffne die Augen nicht. Es ist nicht real …


Zweiter Akt


Nosce te ipsum
(Erkenne dich selbst)

Mein Name ist David Riemschneider. Ja, das ist mein Name. Mein Name ist David Riemschneider. Ich hatte einen Hirntumor.

Pip … pip … pip …

Das stetige Piepen des EKG beruhigt mich. Ich lächle mit geschlossenen Augen und lausche der technischen Verstärkung meines Herzschlags. Ich lebe …


* * *​

„Hallo Herr Riemschneider.“ Ein breites Grinsen. „Können Sie mich verstehen?“
Die Stimme klingt warm, und schwerfällig öffne ich die Augen.
Das Zimmer, in dem ich liege, ist gedimmt durch indirektes Licht, das von einer abgeschirmten Neonröhre an der hinteren Wand herrührt. Ein weiß gekleideter Mann schiebt sich ins Bild.
„Willkommen zurück“, sagt er und greift nach meinem Arm. Seine Finger sind kalt, und für einen Augenblick ist mir, als berühre mich eine Leiche. „Können Sie sich erinnern, Herr Riemschneider?“
Ich frage mich, warum der Kerl meinen Puls misst, bis ich feststelle, dass das Piepen des EKG verstummt ist; sie müssen es abgeschaltet haben. Ja, ich werde das Schlimmste überstanden haben.
Als ich nicht antworte, fährt der Mann in Weiß fort: „Ich bin Professor Brinkmann.“ Eine bedeutungsschwangere Pause folgt. „Ich habe Sie operiert.“
Ich weiß, möchte ich sagen, doch irgendwie habe ich Schwierigkeiten, meine Lippen zu bewegen.
„Sprechen Sie jetzt nicht. Wir haben Sie intubiert, und ihr Hals ist noch arg geschwollen. Ein paar Tage Ruhe und Sie singen wieder die schönsten Arien.“ Er lächelt und legt meinen Arm behutsam auf das Bettlaken zurück.
Warum fragt er mich etwas, wenn er weiß, dass ich nicht antworten kann? Aber das scheint eines dieser ungelösten Phänomene der Ärzteschaft zu sein.
Brinkmann blickt auf einen Zettel. Noch einmal lächelt er und verlässt das Zimmer.


Pip … pip … pip …


* * *​

„Es ist schön, dass es dir wieder besser geht, David.“
Ich hebe das Bierglas und proste meinem Gegenüber zu. „Ja“, sage ich und nehme einen kräftigen Schluck.
Martin steckt sich eine Zigarette an. „Rauchst du eigentlich noch?“
„Habe ich geraucht?“
Martin grinst. „Allerdings.“ Er hält mir die Schachtel entgegen. Dankend lehne ich ab.
„Hm“, die Schachtel verschwindet in der Brusttasche seines Hemdes. „Wie ist es jetzt eigentlich?“
„Wie ist was?“ Rauch steigt mir in die Nase, und ich kann nicht sagen, ob er gut oder schlecht riecht. Er riecht einfach nur nach … nichts.
„Ich meine“, fährt Martin fort, „kannst du dich an alles erinnern? Tut es weh?“
„Ich weiß nicht, ob ich mich an alles erinnern kann.“ Ich merke an Martins Blick, dass er nicht versteht, was ich damit sagen will, und schnell füge ich hinzu: „Und es tut nicht weh.“ Ich überlege, ob ich ihm sagen soll, dass ich mich daran erinnere, wie er mich in seine Wohnung geholt hat. Damals, als mich dieser irre Polizist verfolgt hat.
Eine Kellnerin taucht hinter Martin auf. „Braucht ihr noch was, Jungs?“
Sie schaut mir tief in die Augen, während ihre Mundwinkel unnatürlich stark zucken.
Martin bestellt zwei Flens, ohne aufzusehen, und als die Kellnerin lächelnd nickt, erkenne ich, dass ihr ein Schneidezahn fehlt.
Die Kneipe, in der wir uns befinden, ist bis auf den letzten Platz besetzt. Ich lasse meinen Blick unauffällig über die Menschen schweifen, während Martin mir irgendwelche Erlebnisse aus unserer Schulzeit erzählt und herzlich lacht.
Ich stelle fest, dass die Gäste aufs Schärfste bemüht zu sein scheinen, nicht in unsere Richtung zu blicken. Auch der Wirt hinter dem Tresen interessiert sich mehr für den Boden zu seinen Füßen, als um das Geschehen in der Kneipe. Die Kellnerin mit dem fehlenden Zahn sehe ich nicht.
„Zwei Flens“, sagt sie im selben Augenblick neben mir und ich zucke dermaßen zusammen, dass mein Stuhl auf dem Holzboden ein quietschendes Geräusch erzeugt.
Martin starrt mich an, und für einen kurzen Moment schwebt eine erdrückende Stille durch den Raum. Wie in diesen dämlichen Westernfilmen, wenn der Killer durch die Schwingtür schreitet.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken“, lächelt die Kellnerin, stellt mein Bier auf den Tisch und streichelt mir über den Rücken. Sie beugt sich zu mir herab – die typische Kneipengeräuschkulisse setzt wieder ein – und haucht mir ins Ohr: „Ich würde mich heute Abend gern von dir ficken lassen.“
Dann geht sie davon.
„Ist alles in Ordnung?“, will Martin wissen.
Ich sage nichts.


* * *​

Pip … pip … pip …

„So, das brauchen wir jetzt nicht mehr.“ Professor Brinkmann drückt einen Knopf und das Piepen verstummt.
Ich lausche, und als ich mein Herz heftig gegen die Brust schlagen spüre, weiß ich, dass ich nicht tot bin. Wo ist Martin? Wo die Kellnerin, die unbedingt mit mir ficken wollte?
„Irgendetwas stimmt nicht“, krächze ich.
Brinkmann beugt sich über mich, tastet über den Verband, der um meinen Kopf gewickelt ist. „Natürlich stimmt irgendwas nicht, Herr Riemschneider. Sie wurden am Gehirn operiert. Es wird noch eine Weile dauern, bis alles wieder so funktioniert wie früher.“ Er gibt mir eine Spritze. „Aber Sie sind hier ja in guten Händen.“
„Was ist mit den Visionen?“, frage ich leise.
Brinkmann legt die Spritze auf ein kleines silbernes Tablett. „Nun … ja“, er scheint zu überlegen, „die gehören der Vergangenheit an. Ja, der Vergangenheit.“ Er steht auf. „Eine üble Zeit. Übel, übel.“
Er dreht sich um, verlässt das Zimmer, und ich weiß, dass er mich belogen hat.


* * *​

„Nimmst du noch eins?“
Ich schüttle den Kopf, und wieder steigt mir der geruchlose Rauch von Martins Zigarette in die Nase.
Ich greife nach seiner Hand. Martin hebt die Brauen, dann sieht er sich beschämt um. „Äh… David. Du … du hältst meine Hand.“
„Martin, ich weiß nicht, ob die Operation gut verlaufen ist.“
„Wie meinst du das?“ Sanft zieht er seine Hand weg, grinst und greift nach seiner Flasche, ohne davon zu trinken.
„Ich … ich weiß noch immer nicht, was echt ist.“ Ich stelle fest, dass viele der Gäste gegangen sind. Ein ungutes Gefühl keimt in mir auf. Wann ist das geschehen? Und warum habe ich nichts mitbekommen? Auf einmal kommt mir ein Gedanke: „Wie oft waren wir hier?“, frage ich schnell.
Martin sieht mich verdutzt an, und ich fahre fort: „Seit meiner Operation. Wie oft waren wir seitdem hier?“
„David, du machst mir Angst. Weißt du das wirklich nicht?“
„Wie oft?“
„Wir sind jeden Freitag hier.“
„Und das heißt?“
Wieder blickt sich Martin um.
„Was heißt das?“, frage ich noch einmal. „Wie oft?“
„Nun, deine OP ist über ein Jahr her.“


* * *​

„Wie weit ist er?“
„Geben Sie uns noch ein paar Tage“, flüstert Professor Brinkmann zu einer Person, die ich nicht erkennen kann, weil er sie mit seinem Körper verdeckt. Sie stehen neben der Tür des Krankenzimmers.
Ich will etwas sagen, doch noch immer schmerzt mein Hals. Außerdem macht mich so langsam dieses Piepen des EKG irre.
Deine OP ist über ein Jahr her. Martins Worte jagen mir einen Schauer über den Rücken.
„Warum dauert es so lange?“, fragt die nicht sichtbare Person.
Brinkmann blickt herüber und ich schließe schnell die Augen. „Er wird verstehen“, sagt er leise. „Nur noch ein paar Tage.“
Jetzt blickt die zweite Person an dem Professor vorbei und ich erkenne Martin. Seine Haare sind länger, viel länger als vorhin in der Kneipe. Vorhin?
Deine OP ist über ein Jahr her.


* * *​

Nichts stimmt hier, durchfährt es mich. Noch immer ist alles genauso wirr, wie vor meiner Operation.
Ich warte, bis die beiden den Raum verlassen haben, dann stütze ich mich auf meine Arme und setze mich hin. Für einen Moment dreht sich der Raum, es rauscht in meinem Kopf, und ich meine wieder, das EKG zu hören. Doch ich weiß, dass es nur in meinem Kopf ist. Ist es das?
Ich blicke neben das Bett. Kein Gerät mit endlosen Schnüren, die mit meinem Körper verbunden sind.
Vorsichtig lasse ich die Beine aus dem Bett gleiten. Der Boden ist angenehm warm.
An der Wand unter der abgeschirmten Neonröhre hängt ein Spiegel; darunter ein kleines Waschbecken. Als ich Sekunden später vor besagtem Becken stehe, sehe ich meine Brust im Spiegel. Warum hängen sie das Ding so tief auf?
Ich bücke mich und starre in das bleiche Gesicht eines Mannes mit ungepflegtem Bart. Der Verband um meinen Kopf glänzt hell. Ich greife nach der Stelle, wo das Ende befestigt ist, und es dauert nicht lange, bis die weiße Stoffschlange vor mir im Waschbecken liegt.
Vorsichtig drehe ich den Kopf. Mein Haar sieht strähnig aus, doch sosehr ich meinen Kopf auch drehe, da ist überall Haar. Meine Finger tasten am Hinterkopf und auch dort fühle ich Haare. Nur Haare. Trocken schlucke ich nicht vorhandenen Speichel.
Keine Operation! Sie haben dich definitiv nicht operiert!
Deine OP ist über ein Jahr her.
„Warum hast du mich angelogen, Martin?“, frage ich in den Spiegel. Noch einmal drehe ich den Kopf in alle Richtungen. Eindeutig keine Narbe.


* * *​

Glücklicherweise befanden sich meine Sachen im Schrank des Krankenhauszimmers, so dass ich nicht in diesem erniedrigenden Engelshemdchen meine Flucht antreten musste.
Ich gehe über den Flur und meide den Blickkontakt zu den Schwestern, die meinen Weg kreuzen. Das Bedürfnis zu rennen nimmt mit jedem Schritt zu, doch ich reiße mich zusammen.
Was ist das hier für eine Klinik? Was ist mit meinem Hirntumor? Ich weiß nur so viel, dass ich von hier verschwinden muss.
„Hallo“, zwinkert mir ein entgegenkommender Pfleger zu.
Ich senke den Blick und erwidere seinen Gruß nicht.
Warum haben sie mich nicht operiert?
Ich beschleunige meinen Gang, als ich in weiter Ferne die großen Glastüren des Ausganges sehe.
Die Hostess hinter dem Informationstresen blickt auf. „Wo wollen Sie hin, Herr Riemschneider?“ Es ist die Kellnerin mit dem fehlenden Schneidezahn.


* * *​

Die Luft hier draußen riecht seltsam. Ich kann nicht sagen wonach. Ein wenig erinnert sie mich an den sterilen Geruch von Martins Zigarette in der Kneipe. Die Straße vor mir ist menschenleer, der Asphalt glänzt feucht. Dunkle Wolken bedecken den Himmel.
Langsam gehe ich weiter, als helles Kinderlachen um eine Ecke zu mir herüber dringt. Dann ist es wieder still.
Was hast du eigentlich vor?
Ich werde mir ein Taxi nehmen und zur nächsten Polizeistation fahren. Ja genau.
Ich blicke mich um, doch unabhängig von der Tatsache, dass sich keine Menschenseele hier aufhält, kann ich auch keinerlei Fahrzeuge ausmachen. Kein Taxi, David.
Wieder dringt das Kinderlachen zu mir herüber. Diesmal verstummt es nicht.
Ich mache mich auf den Weg zu der Häuserecke, von wo es kommt, und kurz bevor ich sie erreiche, ist es wieder still. Ich bleibe stehen und lausche.
Ein mir bekanntes Gefühl überkommt mich. Ich weiß, dass hier etwas nicht stimmt, und dieses Gefühl schreit mich aus meinem Innern heraus an, von hier zu verschwinden. Vorsichtig blicke ich um die Ecke.
Eine breite Gasse, die in einiger Entfernung durch eine hohe Mauer begrenzt wird, taucht auf. Etwa auf halbem Weg stehen fünf Kinder und starren in meine Richtung. Eines von ihnen, ein Junge in kurzen Shorts und Krawatte, hält einen Armstumpf, dessen Finger noch zucken, in den Händen. Ein Mädchen hat sich einen unterhalb der Nase abgetrennten Kopf auf ihr blondes Haar gesetzt, und das Blut tropft stetig von ihren langen Zöpfen auf das helle Kleid. Die drei anderen sind ebenfalls mit rot schillernden Tropfen übersät. Eines von ihnen ist dabei, seine eigenen Finger zu essen.
Alles ist wie früher. Warum haben sie mich nicht operiert?
Die Kinder fallen auf die Knie und verbeugen sich, als ich ganz um die Ecke trete.


* * *​

„Was ist mit dir, David?“ Diesmal umfasst Martin meine Hand.
Ich öffne die Augen. Mein Blick ist verschleiert. Habe ich geheult?
„Geht es dir nicht gut?“
Als sich das Bild vor meinen Augen klärt, erkenne ich, dass die Kneipe wieder voll ist. Mein Hals schmerzt und ich nehme einen großen Schluck aus meiner Flasche. Das Bier schmeckt abgestanden.
Ich blicke Martin in die Augen. „Ich wurde nicht operiert.“ Martin zieht seine Hand zurück. Dann lächelt er mich an.
„Habe ich Recht? Ich wurde nicht operiert.“
„Sieh dich um, David. Sieh dich um. Fällt dir denn gar nichts auf?“
Ich sehe die Gäste, die mit gesenktem Blick auf ihre Getränke starren. Einige unterhalten sich leise.
„Nein“, sage ich. „Was soll mir auffallen?“
Martin dreht sich herum. „Hey, ihr Wichser!“
Ich zucke zusammen. Was geht in Martin vor?
„Ihr dummes Gesocks! Arschlöcheeeer!“
Ich erstarre. Blicke auf die Gäste. Nicht einer von ihnen reagiert auf Martins Beleidigungen.
Jetzt umspielt ein breites Grinsen mein Gesicht. „Huuu… The sixth sense? Wir sind tot, richtig? Ist es das, was du mir weismachen willst?“
Martin sieht mich an. „Was immer du mir sagen willst, aber wir sind ganz und gar nicht tot. Woran erinnerst du dich, David? Ich meine, woran erinnerst du dich vor deiner Operation?“ Er betont das Wort Operation auffällig.
„Ich hatte Visionen.“
„Etwas genauer bitte.“
„Es gab viele. Seltsame Gerüche. Undefinierbare Geräusche. Wesen …“
„Und du meinst, das waren Visionen?“
Ich blicke tief in Martins Augen. „Ich war verheiratet“, platzt es aus mir hervor. Warum bin ich nicht früher darauf gekommen? Was war mit Molly, meiner Frau?
„Du warst nie verheiratet, David.“ Martins Stimme klingt ruhig.
Ich erinnere mich an die Situation vor diesem Laden, als Molly versucht hat, mich mit ihrem Wagen zu überfahren.
„Da war dieser Cop“, flüstere ich.
„Du meinst diesen Cop, der dich verfolgt hat? Der dich beinahe erschossen hätte?“
Ich sehe mich durch die Menschenmenge rennen, den Uniformierten hinter mir, der sich schießend einen Weg durch die reaktionslosen Menschen bahnt. Ja, niemand reagierte auf diesen Berserker. Wie hüllenlose Puppen. Genau, wie hier in der Kneipe.
„Ich war der einzige, der ihn gesehen hat“, stelle ich flüsternd fest.
„Du hattest keine Visionen, David. Du warst die Vision.“
Ich schlucke.
„Dein Verstand wollte in die Welt der Unfertigen abdriften“, fährt Martin fort.
„Der Unfertigen?“
Martin macht eine Geste mit dem Arm. „Die Welt der Unfertigen. Menschen, David.“
„Ich verstehe gar nichts mehr.“
„Zwei Welten, David. Nicht mehr lange, aber zurzeit sind es noch zwei Welten.“ Martin lächelt. „Wir stehen kurz vor der großen Schlacht, David. Komm mit nach draußen.“
Wir stehen auf. Die zahnlose Kellnerin sitzt auf einem Barhocker vor dem Tresen, lächelt herüber und spreizt ihre Beine. Ich sehe, dass sie unter ihrem Mini keine Unterwäsche trägt, als Martin mich am Oberarm packt und zur Tür schiebt. „Später“, sagt er.
Noch immer blickt keiner der übrigen Gäste auf. Ich sehe, wie sie anfangen zu flimmern, durchsichtig werden.
„Willkommen zurück!“, grinst Martin breit, als er die Kneipentür aufstößt.
Ein beißender Gestank schlägt mir entgegen, doch als ich hinaustrete, empfinde ich ihn nur noch halb so unerträglich.
Der Himmel ist von dicken, schwarzen Wolkenschichten gesäumt. Tornadogleich wirbeln sie umher, immer wieder unterbrochen durch gewaltige Explosionen aus gleißendem Licht.
„Er ist zurück!“, brüllt Martin neben mir, und die Menge vor uns fällt auf die Knie.
Es sind Tausende, vielleicht sogar Millionen von Wesen, die den unendlich scheinenden Platz vor uns ausfüllen. Dampfende Krater verteilen ihren Brodem unter die zuckenden Körper, speien giftige Gase in die schwarze Wolkenfront, die jetzt wie schwangere Leiber herabhängt. Ich sehe haarige Spinnenbeine, die aus fleischigen Körpern ragen, Wesen mit mehreren Köpfen auf spindeldürren, meterlangen Hälsen, deren Gesichter ausschließlich aus Hunderten von Zähnen bestehen. Einige von ihnen haben menschliche Gestalten, recken die Arme, aus deren Fäusten jetzt hornähnliche Schwerter platzen, gen Himmel. Ganz vorne steht das blonde Mädchen mit den blutigen Zöpfen und dem halben Kopf auf ihrem Haar. Sie verschränkt die Arme vor der Brust und verbeugt sich. Ein einheitlicher Schrei aus tausenden Kehlen wälzt sich zu mir herüber und gibt mir zu erkennen, dass sie bereit sind. Bereit für die endgültige Schlacht. Das weiß ich jetzt.
Unter ihnen befindet sich Professor Brinkmann, der sich erhebt und auf uns zuschreitet. Seine behaarten Beine enden in blutigen Hufen und aus seiner Schädeldecke hat sich ein gewaltiges Horn geschoben. Seine Augäpfel sind verschwunden, und irgendetwas, das Ähnlichkeit mit einer Zunge hat, zuckt in den leeren Höhlen.
Ich blicke neben mich. Martin steht an meiner Seite und reicht mir gerade mal bis zur Hüfte. Sein Blick ist verklärt auf die Menge gerichtet.
„Der König ist zurück!“, keucht er, nimmt seine Augen heraus und lässt sie neben sich auf den dampfenden Asphalt fallen.
Brinkmann kommt vor mir zum Stehen. „Euer Hut, mein Lord!“
Ich nehme die riesige Polizeimütze entgegen, setze sie auf und lächle. Sie passt wie angegossen.


* * *​

„Schwester, geben Sie mir den Bohrer. Wir werden jetzt die Schädeldecke öffnen.“
„Ja, Doktor Brinkmann.“


* * *​

Pip … pip … pip …



Dritter Akt


Si vis pacem, para bellum.
(Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor)

Erneut klopft es zart an der Tür.
Ich sitze auf einem mit Fell überzogenen Stuhl, der nach feuchtem Hund riecht, und lasse die Arme herabbaumeln. Vor mir auf dem gewaltigen Schreibtisch mit der Marmorplatte liegt ein überdimensionales Buch, eine Schüssel mit geronnenem Blut steht daneben, und als ich hineinblicke, beginnt es zu brodeln.
„Herein!“ Meine Stimme dröhnt, obwohl ich es nicht will. Langsam wird die Tür aufgeschoben. Es ist Martin, der mit gesenktem Haupt eintritt. Er schließt die Tür und fällt auf die Knie.
„Lass den Quatsch“, dröhne ich und augenblicklich steht er wieder auf seinen Füßen, blickt mich aus leeren Augenhöhlen an, aus denen blutige Tränen laufen.
„Was ist mit dir?“, versuche ich so sanft wie möglich zu klingen und deute auf den Sessel vor dem Schreibtisch, in den sich Martin jetzt wieder mit gesenktem Kopf fallen lässt. Irgendwie wirkt er in dieser Position so winzig. Ach, was sag ich? Er ist winzig.
„Sieh mich an!“
Sein Körper zuckt, als hätte er einen Stromschlag erlitten. „Mein Lord?“
Ich stehe auf und gehe um den Schreibtisch herum. Augenblicklich fährt Martins Kopf wieder Richtung Schoß. Rote Tropfen fallen aus seinem Gesicht und landen vor seinen zitternden, nackten Füßen.
Ich erreiche den Sessel - warum bin ich so verdammt groß? -, schließe die Augen, und als ich sie wenig später öffne, habe ich meine normale Körpergröße wieder erreicht. Normale Körpergröße? Dass ich nicht lache. Was ist in dieser Welt, in die mich Martin gebracht hat, schon normal?
Ich lege meine Hand auf Martins Schulter, spüre sein Zittern. „Hey, alter Junge.“ Meine Stimme ist leise, beruhigend, und während ich mich neben ihn hinknie, stelle ich fest, dass das Zimmer, in dem wir uns befinden, bestialisch stinkt.
Er blickt auf, und in den leeren blutigen Augenhöhlen wabern winzige Fleischfäden; sie erinnern mich an Bambusvorhänge, die bei jedem Windzug klappern. Sein Gesicht ist mit roten Bahnen übersät.
„Wo sind deine Augen?“
Jetzt lächelt er, berührt meine Hand, sagt aber nichts. Ein Häufchen Elend, mit nichts mehr zu vergleichen mit dem Martin, der mir noch vor wenigen Stunden in dieser ominösen Kneipe gegenübergesessen hatte.
„Darf ich?“, fragt er gebrechlich.
Ich runzle die Stirn. „Natürlich“, sage ich, ohne zu wissen, was er meint.
Er greift umständlich in seine Hosentasche, holt zwei gallertartige Gebilde hervor, die wenig später in den leeren Höhlen verschwinden. Als er die Lider wieder öffnet, blicke ich in seine Augen. „Danke“, sagt er.
„Ich habe keine Visionen mehr.“
Martin sieht mich an. „Das ist gut, mein Lord.“
„Lass bitte dieses Mein-Lord-Gequatsche sein.“
Martins Unterkiefer erstarrt, seine Augen weiten sich. „Sagt bitte nicht, Ihr seid immer noch nicht hier.“
Ich fasse seine Schultern, schüttle ihn. „Ich bin hier, Martin. Doch weiß ich nicht, was ich hier soll. Ich weiß nicht einmal, wo oder was hier ist.“
Es klopft laut, und Professor Brinkmann tritt ein. Als er mich in meiner menschlichen Gestalt entdeckt, verschwinden im Bruchteil einer Sekunde seine Hufe und verwandeln sich in grüne Krankenhausschuhe. Er dreht sich zur Wand, greift in seine Kitteltasche und führt die Hände schnell zum Gesicht. „Was geht hier vor?“, zischt er leise, als er auf uns zukommt. Direkt vor mir kommt er zum Stehen, stiert mich an.
Dann an Martin gewandt: „Was ist mit ihm?“
Ich sehe, dass Martin nervös wird, zu stottern beginnt.
Noch einmal wiederholt Brinkmann seine Frage, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. „Erzählen Sie mir nicht, er ist immer noch nicht zurück.“
Martin sieht mich an, seine Lider zucken, und während meine Wut über das ungehörige Verhalten des Professors ansteigt, beginnt Martin erneut blutige Tränen zu weinen.
Im selben Moment wird Brinkmann kleiner. Viel kleiner. Ich runzle die Stirn, bis ich merke, dass nicht der Arzt kleiner wird, sondern ich größer. Was bildet sich dieser Wurm ein?
Brinkmanns Blick fährt hoch, sein im gleichen Augenblick schmelzendes Gesicht erstickt den Schrei bereits in seiner Entstehung.
„WURM!“, höre ich mich brüllen. „DU ZWEIFELST?“ Es dauert nur Sekunden, bis Brinkmann in einer breiigen Pfütze vor meinen Stiefelspitzen glänzt.
Ich blicke hinab zu Martin, der wieder seine Augen entfernt hat, keuche und höre das Grollen, das die Mauern vibrieren lässt – mein Keuchen.
Eine gewaltige Klaue greift Martins Körper, und ich hebe ihn vor mein Gesicht, während sein Wimmern langsam erstickt.
„Du wirst jetzt“, sage ich so leise wie es mir möglich ist, und doch sehe ich, wie Martins Haare wehen. „Du wirst mir jetzt genau erklären, was hier vorgeht, mein Freund. Hast du mich verstanden?“
„Ja, mein Lord!“, kreischt Martin.
„Und wenn du mich noch einmal mein Lord nennst, wirst du dich mit Brinkmann vereinen.“ Ich drücke ihn wie einen Hund mit der Nase in die Pfütze. Dann lasse ich ihn los und mich kurz darauf wieder in den nach feuchtem Hundefell riechenden Stuhl fallen. „Und pack deine verdammten Augen wieder rein!“


* * *​

Das Feld ist weit, unendlich weit. Die Sonne wirft nur winzige Schatten, wärmt meine Haut. Alles ist still. Ich schließe die Augen. Alles ist so unendlich still.
Als ich sie wieder öffne, stehe ich auf einem langen Flur. Da sind Türen. Rechts und links viele Türen. Vor einer liegt eine durchsichtige Plastikflasche, und durch das Fenster am Ende des Flurs erkenne ich, dass es draußen dunkel ist. Regen schlägt gegen die Scheibe. Irgendwo scheppert etwas auf den Boden.
Vor dem Fenster macht der Flur einen Knick nach rechts, und ich vernehme dumpfe Schritte, die sich diesem Knick nähern. Langsam weiche ich zurück. Die Schritte müssen jeden Augenblick die Ecke erreichen. Ich atme schneller. Wieder scheppert etwas, jetzt unmittelbar hinter meinem Rücken. Ich wirble herum. Eine silberne Metallschüssel liegt umgedreht auf dem Boden. Sonst nichts. Alles ist still. Auch keine Schritte mehr.
Dann stehe ich wieder auf dem endlos weiten Feld, und als ich nach unten blicke, erkenne ich, dass ich mich in einem bis zu den Knien reichenden See aus Blut befinde. Hin und wieder tauchen Gebeine aus der warmen Flüssigkeit empor, kleinen Delphinen gleich, die schnell wieder in der Tiefe verschwinden. Es handelt sich dabei um menschliche Gebeine.
Der See selbst reicht bis zum Horizont, den träge vor sich hin dampfende Vulkane begrenzen.
Ich drehe mich nicht um, starre auf den Regen, der noch immer gegen die Scheibe schlägt. Irgendjemand steht am Ende des Flurs hinter der Ecke. Ich sehe es an den Stiefelspitzen.


* * *​

„Wir stehen kurz vor der großen Schlacht, David.“
Ich fahre mit den Händen durch mein Haar. Tief in meinem Innern weiß ich, was Martin meint. Die letzte Schlacht! Doch will ich es nicht wissen, alles in mir sträubt sich. Es ist wie eine Schlacht in mir.
Martin schiebt die Schüssel mit dem geronnenen Blut beiseite und beugt sich über den Schreibtisch. „David, die Unfertigen werden immer mächtiger. Wir müssen es tun. Wir müssen es jetzt tun!“
„Ich weiß“, fahre ich ihn an, dass er zurückzuckt. „Und doch weiß ich es wieder nicht.“ Jetzt leiser: „Du musst mir helfen, Martin. Diese Wesen da draußen. Wer sind diese Wesen?“
Martin blickt verstohlen zur Tür. „Du solltest aufhören damit“, flüstert er. „Du bist ihr Herrscher. Ihr Schöpfer. Bisher konnten wir deine ... ich nenne sie einmal Visionen, geheim halten. Brinkmann“, Martin deutet auf die Pfütze neben seinem Sessel, „hat ihnen erzählt, du seiest drüben, wegen des Tores. Sie haben es ihm abgekauft.“ Für einen Moment schweigt Martin. „Sie haben ihm vertraut. Doch wenn du jetzt noch einmal abkommst, David, werden sie nicht mehr zu überzeugen sein. Nicht mehr jetzt, wo Brinkmann …“
„Aber wer sind sie? Woher kommen sie?“ Mein Kopf beginnt zu schmerzen – es ist der Hirntumor – und ich presse die Hände gegen die Schläfen. „Wie soll ich sie befehligen, wenn ich nichts über sie weiß?“
„David, du musst mir jetzt eine Frage beantworten.“
Ich blicke ihm in die Augen, die mich beinahe flehend ansehen. „Frag.“
Er scheint nach Worten zu suchen. „Hast du mittlerweile akzeptiert, dass dies hier die Welt ist, in die du gehörst?“
Mein Unterarm pulsiert, und borstige Haare keimen aus der rauen Haut. Die Finger werden länger, hornige Nägel platzen aus den Kuppen. Ich hebe die Klaue vors Gesicht. „Das habe ich. Aber warum wollen wir gegen die Menschen kämpfen?“
„Glaube, David. Es ist der Glaube!“ Er steht auf, ohne mich dabei anzusehen.
„Glaube?“
„Es ist vielleicht unsere letzte Chance, David. Je mehr die Unfertigen ihren Glauben verlieren, umso stärker werden sie.“
Ich erhebe mich ebenfalls, gehe um den Schreibtisch herum, vorbei an Martin, der mir gerade bis zur Hüfte reicht, und blicke aus dem Fenster an der seitlichen Wand, die aussieht als sei sie mit Elefantenhaut überzogen.
Überall brennen grelle Flammen, gewaltige Berge am Horizont, die dampfenden Vulkanen gleichen, speien ihren fauligen Atem in den Himmel, der mit einer schwarzen Wolkenschicht alles unter sich zu erdrücken scheint.
„Wir sind in der Hölle“, flüstere ich, dass es von den Wänden widerhallt.
Martins Lachen klingt hinter meinem Rücken beinahe erfrischend, und als ich mich umdrehe, verstummt er augenblicklich. „Die Hölle. Ja, so würden es die Unfertigen nennen. Hölle.“
„Und wie nennst du es?“
„Es ist deine Welt, David. Du bist ihr Erschaffer.“
Jetzt versuche ich zu lächeln. „Du meinst, ich bin Gott?“
„Ja, David. So nennen dich die Unfertigen. Ohne dich zu kennen. Bis jetzt, David. Doch sie beginnen zu zweifeln. Die wenigen Verfechter des Glaubens verlieren ihre Autorität, und die Unfertigen werden stark durch ihren Zweifel. Ihren Zweifel an dir, David.“
„Es gibt doch viele, die an Gott glauben.“ Meine Stimme klingt verzweifelt. „Sie können nicht existieren ohne Glauben an mich. Dazu sind sie zu schwach. Ohne Glaube sind sie nichts.“ Der Schmerz in meinem Kopf nimmt mit jedem Wort zu.
„Oh nein, David. Das Gegenteil ist der Fall: Ohne Glaube werden sie stark. Komm mit hinaus.“
Wir verlassen den Raum und tauchen in einen stinkenden Pfuhl aus brennend heißer Luft. „Sieh dir deine Welt an, David. Sieh sie dir an.“
Der Raum, aus dem wir gekommen sind, befindet sich auf einer kleinen Anhöhe, von der aus ich einen Blick bis hin zu den dampfenden Vulkanen am Horizont habe. Der gesamte Platz ist mit Wesen ausgefüllt. Zuckende Leiber, die durch ihre einheitlichen wabernden Bewegungen den Eindruck eines brodelnden Meeres hinterlassen. Ein Meer, das nur darauf wartet, dass sich die Wolken noch dichter vereinen, das nur darauf wartet, dass der Sturm losbricht. Friedlich liegt es da, und doch gleichzeitig so bedrohlich.
Keines der Wesen blickt zu uns herauf. Blutgestank steigt mir in die Nase.
„David, wenn die Unfertigen nicht mehr glauben, dann haben wir keine Chance, diese Welt zu verlassen. Sieh dich doch um.“ Martin deutet zum Horizont. „Die Pforten speien bereits jetzt nur noch wenig Feuer. Die Anzahl ihrer Glaubensstätten, ihrer Kirchen, nimmt rapide ab. Bald schon werden wir keine Möglichkeit mehr haben, in ihre Welt zu gelangen.“
Ich schreite zurück in das Zimmer und höre, wie Martin mir leise folgt. Das Raunen der Menge verstummt, als er die Tür schließt.
„Wenn ich Gott bin, habe ich alle Macht der Welt“, sage ich.
Martin stellt sich neben mich. „Noch, David. Noch. Und genau deshalb solltest du sie nutzen.“ Er greift nach meinem Arm. „Du musst das Tor in die Welt der Unfertigen öffnen, David. Wir brauchen dich! Wir brauchen ihre Welt.“
„Auch die Menschen sind meine Schöpfung.“
Martin dreht sich um und wirbelt mit der Hand. „Schnickschnack. Sie sind unfertig. Natürlich sind sie deine Schöpfung, aber betrachte es als einen Versuch. Das da draußen ist die Vollendung.“ Er schnauft mit hochrotem Gesicht.
„Warum wollen wir sie vernichten?“
Martin sieht mich an, seine Lider zucken. Dann sagt er leise: „David, du brauchst keinen Grund. Unfertige müssen ihr Handeln stets begründen. Niemals führen sie einen Krieg ohne Grund. An den Haaren herbeigezogen, aber es ist ihnen egal. Hauptsache ein Grund.
Du bist Gott, David. Wir sind deine Vollendung. Wir brauchen keinen Grund!“
Er lächelt, und ich lächle zurück.


* * *​

„Molly?“
Meine Frau steht vor mir, hält meine zitternde Hand zwischen ihren Fingern. „David, Schatz. Was tust du denn?“
Ich sehe die Plastikflasche auf dem Linoleumboden liegen, daneben die silberne Schüssel. Wir befinden uns auf diesem Flur, und ich halte mich mit der linken Hand an einem fahrbaren Stativ mit Tropf fest. Ein dünner Plastikschlauch endet in einer dicken Nadel, die in meinem Handrücken versunken ist.
„Komm, Schatz. Komm zurück auf dein Zimmer.“ Mollys Stimme klingt sanft. „Komm zurück.“
Du bist nicht verheiratet, David. Ich höre Martins Worte, die er mir sagte, als wir uns in der Kneipe gegenüber saßen. Du warst niemals verheiratet!
Doch genauso hatte er mir in der Kneipe gesagt, dass meine Operation schon über ein Jahr her sei. Alles war doch so echt. Diese Wesen. Diese pestilenzartige Welt. Ich, deren Herrscher. Ich … Gott.
Du warst die Vision, David. Auch das hatte Martin gesagt.
„Sagst du mir, was passiert ist, Molly?“ Sie will mich über den Flur führen, doch meine Beine bewegen sich nicht. Ich sehe diese Ecke am Ende des Flurs. Vorhin stand dort noch jemand, dessen Stiefelspitzen ich gesehen hatte. Es waren Polizeistiefel.
Die Sonne, die durch das Fenster am Ende des Ganges scheint, erhellt die Wand neben mir, so dass ich das Bild, das dort hängt, nicht mehr erkennen kann.
„Wie meinst du das, Schatz? Weißt du denn nicht mehr, dass du morgen operiert wirst?“ Molly hustet mich an, und ich spüre, wie etwas Feuchtes meine Wange hinabläuft. „Oh, entschuldige bitte.“ Sie zieht ihren Handschuh aus und wischt mir damit über die Wange. Als sie ihn wieder überstreift, erkenne ich, dass es sich dabei um ihre Haut handelt.
Ich schreie und weiche zurück, so dass das Stativ mit einem lauten Scheppern zu Boden fällt. Die Plastiknadel wird aus meinem Handrücken gerissen, und ein winziger Blutstrahl benetzt den hellen Linoleumboden. Nach einem kurzen Moment wirft der Boden an dieser Stelle Blasen.
Jetzt vernehme ich wieder Schritte hinter der Ecke. Es sind winzige, nackte Fußpatscher, die sich langsam nähern. Molly lächelt. Ein Wimmern dringt an mein Ohr, während sich meine Blase entleert und der heiße Urin mit dem Blut auf dem Boden eine glänzende Einheit bildet.
Mollys Augen beginnen zu bluten, und zierliche Bäche laufen an ihrer bleichen Wange hinab. Hinter der Ecke taucht das kleine Mädchen mit den Zöpfen auf. Der kurz unter der Nase abgetrennte Männerkopf ist ihr, einer grotesken Kappe gleich, bis zur Stirn gezogen. Das Fleisch fault bereits.
Ihr blaues Kleid wirkt schmierig und einige der sich darauf befindlichen Flecken glänzen feucht. Eine Puppe hängt an ihrem Arm, während sich der Daumen der anderen Hand in ihrem Mund befindet. Sie wirkt niedlich, und als sie direkt neben Molly zum Stehen kommt, erkenne ich, dass es sich bei der Puppe um einen Säugling handelt, dessen Gedärm eine blutige Spur auf dem hellen Boden hinterlässt.
„Hallo Papa“, sagt sie, ohne den Daumen aus dem Mund zu nehmen. Kurz kann ich erkennen, dass der Nagel fehlt.
Molly blickt zu ihr hinab, streichelt über den halben Männerkopf, so dass dessen Haare an ihren Fingern kleben bleiben.
Ich falle auf die Knie, lasse die Stirn in die Urin-Blut-Pfütze sinken und weine.
Kleine, kalte Hände berühren wenig später meinen Nacken. Ich will nicht aufstehen. Nie wieder. Es soll einfach nur aufhören. Ich will, dass es ein Tumor ist. Ein dicker, scheiß Tumor. Und entweder sollen sie ihn jetzt endlich wegoperieren, oder er soll mich töten. Hauptsache dieser ganze Irrsinn hat endlich ein Ende. Ich will nicht Gott sein. Die kleinen Finger streicheln sanft weiter.
„Du musst doch nur noch das Tor öffnen, Papa.“
Ich blicke auf, sehe durch die Tränen hindurch in das kleine Gesicht mit den zwei Augenpaaren. Ich greife ihr blaues Kleid, reiße sie zu mir heran und brülle ihr ins Gesicht. „WIE? Wie, verdammt noch mal, soll ich das verdammte Tor öffnen?“
Jetzt lächelt die Kleine. Ihr Kopf dreht sich, und als ich ihrem Blick folge, sehe ich Molly noch immer auf dem Flur stehen. Sie hat sich die Bluse aufgeknöpft, und ihre nackten Brüste erinnern mich groteskerweise an die schöne Zeit, die ich mit ihr gehabt habe. Damals, als sich noch keine bösartige Wucherung zwischen meinen Hirnwindungen befand.
Das Mädchen deutet auf Mollys Bauch, während diese damit beginnt, ihre Finger unter ihre Haut neben dem Nabel zu bohren. „Hilf ihr, und öffne das Tor!“
Ich sehe wieder diese behaarten Unterarme – meine Unterarme -, die langen Klauen mit den hornartigen Fingernägeln, die nach vorne schießen. Ich sehe sie in Molly eindringen, höre ihren grässlichen Schrei, als die Klauen sie auseinander reißen und ihren Oberkörper aufklappen wie ein Gebetsbuch.
Schwarzer Qualm steigt aus Mollys Unterleib auf, der noch immer auf dem Boden des Krankenhausflurs steht, während die beiden Teile ihres Oberkörpers an ihren Seiten herabhängen.
Ein gewaltiges Grollen wälzt sich über den Flur, lässt Risse in den Wänden entstehen, aus denen zähflüssiger Schleim emporquillt. Unterarmdicke Maden fallen heraus, winden sich heran und beginnen wenig später Mollys herabhängende Seitenteile zu fressen.
Überall ertönen Schreie, Scheiben bersten, und die Vulkane, die ich durch das offene Fenster hindurch erkenne, speien ihre Flammen in den schwarzen Himmel. Die Pforten sind geöffnet!
Schatten zischen nun aus Mollys Unterleib hervor, jagen über den Flur, und bevor sie in irgendwelchen Zimmern verschwinden, verwandeln sie sich zu Körpern, ähneln Geschwüren, aus denen weitere Wucherungen hervorplatzen und sich zu grotesken Leibern formen.
Vernichtungsmaschinen für die Unfertigen. Meine Vollendung!
Ich folge ihnen in die Krankenzimmer, in denen die Unfertigen in ihren Betten hocken, ihre flehenden Augen auf mich gerichtet, kurz bevor meine Schöpfung sich um sie kümmert.
Ihre Schreie werden lauter, dringen selbst von draußen herein, vereint zu einer Symphonie der Verzückung. Dies ist mein Werk. Ich bin der Schöpfer und der Dirigent. Die letzte Schlacht. Meine Schlacht. Denn ich bin Gott!
Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie kämpfen. Sehe sie in Häuser und ihre hornartigen Schwerter in menschliche Körper eindringen. Schreiende Unfertige, rennend, kniend und Gott um Hilfe bittend.
Rotierende Münder mit messerscharfen Zähnen fräsen sich durch zentimeterdicke Kirchenportale, erreichen Flehende mit hocherhobenen Händen, die wenig später in blutenden Stümpfen enden. Und während sie zuckend in ihrem eigenen Lebenssaft ertrinken, finden sie ihren Glauben wieder.
Millionenfach speien die Vulkane Krieger aus. Föten, die sich lavagleich aus Felsritzen winden und deren Fleisch sich zu einem gigantischen Fluss vereint, aus dem Sekunden später spinnenähnliche Geschwulste hervorbrechen, um sich zu neuen Schöpfungen zu verbinden. Sie überschwemmen die Kontinente, waten durch Seen aus kniehohem Blut, in denen das Gedärm wie Seetang umherschwappt; immer weiter meine Apokalypse verbreitend.
Ich gehe zurück auf den Flur und bleibe vor dem Mädchen stehen. So winzig wirkt sie neben meinen Polizeistiefeln. Sie blickt mich mit ihren großen Augen an.
„Es ist vollbracht“, sage ich, zertrete sie und verlasse das Krankenhaus, um meine Armee zum Sieg zu führen.
Gottes Sieg!



Letzter Akt


Vae victis
(Wehe dem Besiegten)

„Hey, altes Haus. Alles Gute zum Geburtstag. Sieh mal, ich hab dir Blumen mitgebracht. Obwohl, du hast ja hier mehr als genug. Warte, ich schiebe dich ein wenig in den Schatten. So, und jetzt erzähl doch mal, was du in dem letzten Jahr so alles erlebt hast.“
„Nu lass ihn doch, Martin. Ich weiß gar nicht, warum du immer so tust, als würde er dich verstehen.“
„Er ist mein Freund, Schatz. Ein alter Freund, nicht wahr, David?“
„Er ist ein Mörder von sechsundachtzig Menschen. Von sechsundachtzig wehrlosen Menschen in einem Krankenhaus. Abgeschlachtet hat er sie. Wie Vieh.“
„Jetzt ist es aber gut. Das ist jetzt mehr als zehn Jahre her.“
„Frauen und Kinder waren dabei. Alle wehrlos.“
Martin erhebt sich. „Du weißt, woran es gelegen hat. Paranoide Schizophrenie. Er ist nie verurteilt worden.“
„Sie hätten ihm das Hirn rausschneiden sollen, oder der Tumor hätte ihn von innen zerfressen müssen.“
„Nimm es ihr nicht übel, David. Du weißt, sie war schon immer ein olles Meckerweib.“
„Na ja, wenigstens haben sie bei der Operation ein bisschen zu viel weggeschnippelt.“ Sie lacht gehässig.
„Warum gehst du nicht schon mal in die Cafeteria und isst ein großes Stück Kuchen, Schatz?“
„Ja, das werde ich tun. Ich bestell dir einen Kaffee mit. Also lass dir nicht unendlich viel Zeit.“
„Da geht sie hin. Du musst nicht böse sein, David. Wenn ich dieses Weib nicht so sehr lieben würde, hätte ich sie schon längst in den Wind geschossen und mir was Neues gesucht. Warte, ich wische dir den Speichel ab.
So, altes Haus, du hast ja gehört, dass der Kaffee auf mich wartet. Ich sag der Schwester Bescheid, dass sie dich gleich noch ein bisschen in die Sonne schiebt. Und wenn ich nächstes Jahr wiederkomme, dann will ich, dass du bis dahin wieder sprechen gelernt hast. Ist das klar, David?
Denk immer daran: Wir brauchen dich!“


* * *​

Martin gackert wie ein altersschwaches Huhn und während sich zum dritten oder vierten Mal an diesem Tag meine Blase unkontrolliert entleert – ich merke es nur an dem Geruch -, erkenne ich in seinen Augen, dass es ihn freut. Ja, es freut ihn, mich hier so sitzen zu sehen. Hilflos, verkümmert und gefangen in diesem armseligen Körper. Ich rieche die Blumen, die überall um mich herum wachsen, spüre die Sonnenstrahlen, die meinen feuchten Schritt wärmen.
Am Ende des riesigen Gartens lächeln ein paar seiner Engel herüber.
Das Einzige, was ich bewegen kann, sind meine Augen und so fokussiere ich meinen Blick wieder auf Martin, der noch immer vor meinem Rollstuhl hockt. Er grinst breit.
„Es war niemals ein Hirntumor“, sage ich ohne zu sprechen.
Martins Grinsen wird noch breiter, beinahe berühren die Mundwinkel seine Ohren. „Das sagte ich dir schon, David.“ Auch seine Lippen bewegen sich jetzt nicht mehr.
„Du hast mir aber noch nie gesagt, warum.“
Martin steht auf und schüttelt den Kopf. „David, David. Habe ich dir nicht schon einmal etwas über Gründe und deren Bedeutung gesagt? Denke einfach darüber nach.“ Er steckt die Hände in seine Hosentaschen. „Zeit genug hast du ja.“ Er lacht laut mit starrer Mine und geht.
„Martin!“, brülle ich ihm hinterher. Kein Laut dringt an meine Ohren, doch sehe ich am leichten Zucken seiner Schultern, dass er mich gehört hat. Er unterbricht sein Gehen, dreht sich jedoch nicht um.
„Was willst du noch?“, höre ich ihn denken.
Ich rieche die warmen Dämpfe meines Urins.
„Du sagtest, ich sei Gott.“
Jetzt kommt Martin noch einmal auf mich zu. „Du bist ein armseliger Wurm, David. Mehr nicht. Armselig. Sieh dich doch an. Sieht so ein Gott aus?“ Lachen. „Nicht du bist Gott, David. Nicht du.“
Ich verstehe nicht, wie er das meint, verstehe gar nichts mehr. Seit Jahren verstehe ich nichts mehr. Wie lange lag die letzte Schlacht zurück? Die Schlacht, in der meine Schöpfung gegen die Unfertigen angetreten war. Hatten wir den Kampf verloren? Es muss wohl so sein.
Zwei Engel in hellem Gewand nähern sich uns. Ich funkle sie an, will sie verbrennen mit meinem Blick, doch nichts passiert. Martin hat recht: Ich bin ein armseliger Wurm.
Einer der Engel fährt seinen Nagel aus; glänzend platzt er aus der Fingerkuppe hervor. Die dicke Ader an seinen Unterarm pulsiert. Er sticht mir den Nagel in den Hals und pumpt sein heißes Blut in mich hinein. Blut, das mich seit Ewigkeiten lähmt, mich in dieser Körperhülle gefangen hält.
Martin macht eine kurze Handbewegung, und die Engel ziehen sich zurück.
„Lieber David“, denkt er, beugt sich hinab bis kurz vor meinem Gesicht. „Du verstehst es wirklich nicht, habe ich Recht? Es ist unser beider ewiger Kampf. Nicht du bist Gott, David. Du bist nur der Gefallene. Und auf ewig wirst du mir unterliegen. War es jemals anders?“ Er wartet, doch ich antworte nicht. „Seit du mir damals den Krieg erklärt hast, David, seit dieser Zeit unterliegst du mir. Und du wirst mir immer unterliegen.“ Wieder eine kurze Pause. „Allerdings muss ich gestehen, dass es diesmal gar nicht so einfach war. Aber es war mir wieder ein tiefstes Vergnügen. Ein tolles Spiel. Leider hast du es erneut verloren. Schachmatt, David.“ Er erhebt sich. „Und jetzt gebe ich dir wieder ein weiteres Jahr Zeit zum Nachdenken, wie du es beim nächsten Mal anstellen willst. Wir haben alle Zeit der Welt.“
Sein Lachen hallt noch Stunden später durch meinen Verstand.


* * *​

Täglich bohren sie mir ihre langen Nägel unter die Haut, täglich hauchen sie mir ihren pestilenzartigen Atem gegen das Gesicht. Das Wissen um meine Hilflosigkeit lässt sie jegliche Höflichkeit vergessen. Ich höre jeden ihrer widerwärtigen Gedanken, weiß, dass sie eigentlich Angst haben, und dass sie nur versuchen, diese vor mir zu verbergen. Doch ich kann sie riechen – ihre Angst -, sie strömt aus ihren Körpern wie Schwefeldampf aus einem Vulkan. Allerdings frage ich mich manchmal, woher diese Angst rührt? Ich bin ein armseliger alter Krüppel, gefesselt an meinem Rollstuhl. Halten sie mich für gefährlich? Bin ich gefährlich? Sie stellen mich medikamentös ruhig; ich kann mich nicht bewegen, kann nicht sprechen und kann weder meine Blase noch meinen Darm kontrollieren.
Sie haben Angst, weil sie wissen, dass es nicht ewig so weiter gehen wird. Nicht ewig.


* * *​

Der Polizist keucht. Noch ein Atemzug. Ein gewaltiger Feuerball strömt in seine Lungen, lässt sie platzen, bevor züngelnde Flammen aus seinem Brustkorb zischen.
Er schreit nicht mehr, seit Jahren nicht mehr. Nicht hierbei. Er akzeptiert den Schmerz, fällt auf die Knie und lässt seine Hände in die glühende Lava unter seinen Füßen sinken. Sie schmelzen in einem Meer aus unerträglicher Pein. Er kann das schmorende Fleisch, die brennenden Knochen riechen. Ganz kurz nur, ehe die Flammen, die aus seinem Brustkorb platzen, sein Gesicht erfassen. Langsam sinkt er in den glühenden Pfuhl, spürt, wie sich sein Körper zersetzt, jede einzelne Fleischfaser, jede einzelne Sehne, jeder Nerv. Die gesamte Palette des Schmerzes vereint sich zu einem fokussierten Höhepunkt. Jetzt schreit David doch. Es ist ein Schrei der Wut, ein Schrei des unbändigen Hasses. Es geht nicht anders, noch nie ging es anders. Er, der eigentliche Herr des Schmerzes, muss sich diesem unterwerfen. Vor ihm niederknien und winseln, wie ein räudiger Köter, dem bei lebendigem Leibe das Fell abgezogen wird.
Es dauert lange, unendlich. Ewig. Er stirbt nicht. Niemals. Und irgendwann steht er wieder zwischen den glühenden Wänden in der heißen Luft, die ihm mit jedem Atemzug die Lunge verätzt. Solange, bis er wieder in der Lava schmilzt.
Er bewegt sich nicht, will nicht diese Wände berühren, denn wenn er das tut, brennt ihm die Lava wieder die Knochen weg. Es ist ein schäbiges Gefühl, ohne Hände, ohne Arme dort zu stehen, ohne Würde und am Schlimmsten: ohne Macht.
Die Schreie seiner Schöpfungen, die in den brennenden Wänden gefangen sind, dringen zu ihm herüber. Er sagt ihnen, sie sollen da heraus kommen, doch können sie ihn nicht hören. Nicht, solange er in dieser alten Menschenhülle in dem Rollstuhl gefangen ist. David weiß nicht, welches Gefängnis schlimmer ist, und noch weniger weiß er, wie er einem von beiden entkommen könnte.
Direkt neben ihm quillt ein Kopf aus der Lavawand. David sieht das panische Auge, welches in der heißen Luft augenblicklich zerplatzt, und noch bevor das spritzende Innenleben ihn erreicht, verdampft es wie ein Tropfen auf heißem Stein. Der Schrei, der aus dem schmelzenden Mund dringt, verbreitet seinen fauligen Brodem in der Luft, während die Haut Blasen wirft und sich langsam vom Muskel löst.
David wendet sich ab. Er denkt an Martin - Es ist unser beider ewiger Kampf. Nicht du bist Gott, David. Du bist der Gefallene - sowie Milliarden Mal zuvor in den vergangenen Jahren, in denen er zwischen diesen Wänden steht. Martin, sein ewiger Widersacher. Wieder einmal hat er es geschafft. Hat den Sieg errungen.
Jetzt muss David lachen. Es dröhnt, wird augenblicklich verschluckt in der Unendlichkeit der winzigen Festung. Sekunden später platzt seine Lunge erneut. Er fällt.


* * *​

Meine Augen verengen sich zu Schlitzen. Das einzige, was ich noch bewegen kann. Aber ich weiß, dass ich diesem Gefängnis irgendwann entkommen werde. Gott wird mich nicht ewig hier gefangen halten können. Noch nie ist ihm das gelungen. Noch nie!
Tränen der Wut rinnen meine Wangen hinab, so wie der Urin an meinen Schenkeln. Ich werde es schaffen, das weiß ich. Irgendwann werde ich zurückkehren. Und dann Gnade Gott und seinen Unfertigen. Der gefallene Engel wird auferstehen. Ich werde zurückkehren, Martin. Und der Sieg wird mein sein.
Ich schiele nach unten und sehe, dass sich mein rechter Zeigefinger bewegt. Ganz leicht nur.

 

Liebe Leserin, lieber Leser.

Zunächst wollte ich einen vierten Teil zu "Nie mehr Bolero" schreiben, doch dann musste ich berücksichtigen, dass die drei Vorgänger ja schon einige Zeit zurück liegen.
So entschloss ich mich, eines meiner Lieblingsstücke einer Überarbeitung zu unterziehen. Ich habe einige Kürzungen vorgenommen und einiges umgeschrieben, so dass das gesamte Konzept hoffentlich schlüssiger erscheint.
Natürlich ist auch ein entsprechendes Ende hinzugekommen.
Noch immer ist "Boléro" eine Geschichte, die mich nicht loslässt. Ich habe hier versucht, das Ganze intensiv aus der Sicht Davids zu schreiben. Der Leser soll noch immer die Verzweiflung spüren, die in ihm vorgeht. Gelungen?

Gruß! Salem

 

Nie mehr Boléro - nur noch das kalte Grauen

Gelungen sicher, aber pack doch bitte bitte Karel wieder rein!

Und bitte ebenfalls die Szene mit dem Professor, in der er keine ganzen Sätze sprechen kann ("Wir. Ich. Morgen. Müssen selektieren.") wieder mit aufnehmen. Das war eines der Highlights der Originalstory und ein guter Seitenhieb auf die oft angewandte Schreibtechnik, in denen "Sätze" nur aus einzelnen Worten bestehen...

 

Hi scully.
Vielen Dank für den Hinweis. Ich war immer der Meinung, dass gerade diese Szene überflüssig sei, aber da habe ich mich wohl getäuscht. Wird gemacht!
Gruß! Salem

 

Hallo Salem

Obwohl ich mich bereits in den ersten Abschnitten mit verwirrenden Geschehnissen konfrontiert sah, packte mich der Stoff, nicht ahnend, wohin die Reise geht.

„Wir sind zunächst von einer Paranoiden Schizophrenie ausgegangen, was sich auch bestätigte.“

Das Fette würde ich in diesem Satz kleinschreiben.

„Mich machte die von ihnen genannte Häufigkeit der Wahrnehmungsstörungen ein wenig stutzig. Eher ungewöhnlich,

:lol: Bei der vorgehenden Diagnose war ich auch über die Massivität der Erscheinungen gestolpert, doch abwartend, was sich da differentialdiagnostisch noch kumuliert. Der Übergang zum neuen Befund ist dir aber überzeugend gelungen.

Im Radio bekundete Bob Geldorf seine Abneigung gegen Montage.

Meinst du hier nicht Bob Geldof (Robert Frederick Zenon Geldof)?

Tränen der Wut rinnen meine Wangen hinab, so wie der Urin an mei¬nen Schenkeln.

Hier hat sich ein Trennungsstrich eingeschlichen.

Ich schiele nach unten und sehe, dass sich mein rechter Zeigefinger bewegt. Ganz leicht nur.

Dies deutet darauf hin, dass eine Fortsetzung folgen könnte. Also doch noch „Nie mehr Bolero“?

Das Konzept erscheint mir durchaus schlüssig, auch wenn ich nach dem ersten Akt eigentlich einen anderen Verlauf erwartete. Doch das ist das blöde an Erwartungshaltungen, man meint den weiteren Verlauf vorwegnehmen zu können, was zum Glück nicht immer gelingt.
Im zweiten Akt fand ich die Sequenzen etwas hingezogen, den Spannungsbogen lähmend, was sich vielleicht durch den Kontrast der anfänglich starken Überzeichnungen – die später endgültig einsetzen - sich noch mehr abhebt.
Insgesamt finde ich es aber ein beachtliches Stück, sehr intensiv und in seiner Fülle an Details beinah erdrückend. Man spürt aus den Sätzen, wie du hier „Horror“ in seiner ganzen Vielfalt komponiertest, es zu einem Opus aufsteigen liessest.
Zum Inhalt denke ich, dass es in seinen Ansätzen gut durchdacht ist, sich aber für mein Empfinden, der Schlussakt „Nie mehr Bolero“, direkt aufzwingt. Dies liesse sich gut mit den Entwicklungen bei Schizophrenie harmonieren. Zumindest aber sollte Riemschneider, wenn an seinem Hirn etwas zu viel geschnipselt wurde, sich zumindest nochmals als Racheengel erheben können.

Gern gelesen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Anakreon.

Der Übergang zum neuen Befund ist dir aber überzeugend gelungen.
Das freut mich gerade als Nichtarzt :D

Meinst du hier nicht Bob Geldof (Robert Frederick Zenon Geldof)?
Den meine ich tatsächlich und war mein Leben lang der Meinung, er hieße Geldorf. Unglaublich, da lerne ich auf meine alten Tage doch immer wieder dazu :)

Im zweiten Akt fand ich die Sequenzen etwas hingezogen, den Spannungsbogen lähmend
Du hast Recht, er hebt sich von den Geschehnissen doch deutlich vom ersten Akt ab. Das, was sich im ersten Akt entwickelt, tritt nun zum Vorschein. Ich habe versucht, die Wahnvorstellungen rein aus Davids Sicht zu erzählen. Für ihn ist ja alles stellenweise real.

Man spürt aus den Sätzen, wie du hier „Horror“ in seiner ganzen Vielfalt komponiertest, es zu einem Opus aufsteigen liessest.
Ein sehr schönes Kompliment. Vielen Dank.

Zumindest aber sollte Riemschneider, wenn an seinem Hirn etwas zu viel geschnipselt wurde, sich zumindest nochmals als Racheengel erheben können.
Ach, Anakreon, dabei habe ich mir doch sooo vorgenommen, dass es keinen weiteren Teil geben wird. Und jetzt gießt du wieder Blut auf Salems kranke Fantasie ... ;)

Vielen Dank für deine Zeit und deinen Kommentar. Habe mich sehr gefreut.

Gruß! Salem

 

Hallo Salem,
Immer wieder gerne gelesen, ein Thema das dir liegt ;)
Es ist gut, dass du keinen vierten Teil geschrieben hast.
Nie wieder Bolero ist eine zu starke Geschichte, als dass du sie durch das anstücken neuer Teile Folgen verstümmeln sollst (nur um so wie einige Unterhaltungskonzerne, noch ein paar Millionen mehr aus den Lesern herauszuholen ;)

Der erste Teil selbst ist für sich stehen schon so gut und rund und abgeschlossen, dass der Übergang zur einer einzigen Geschichte noch nicht voll gelungen ist.
2 er und 3 er Teil sind für mich besser verschmolzen -
- nur eine Anmerkung, keine Kritik:es tut der zusammengesetzten Geschichte jedoch gut, dass du alle Teile nochmals überarbeitet hast.

Der erste Teil ist in sich am stärksten: zu gut hältst du hier die Balance zwischen sein und schein:

Später wird deine Argumentation zum Teil löchrig:

„Glaube, David. Es ist der Glaube!“ Er steht auf ohne mich dabei anzusehen.
„Glaube?“
„Es ist vielleicht unsere letzte Chance, David. Je mehr die Unfertigen ihren Glauben verlieren, umso stärker werden sie.“
- der Glaube ist kaum vorgekommen und glaube machte nur Sinn, wenn ei Mensch mit Glauben widerstand leisten könnte, oder besser gesagt, ein MEnsch ohne glauben. Die Horden der Unterwelt machen aber keinen Unterschied zwischen Gläubigen und Ungläubigen.

„Warum wollen wir sie vernichten?“
Martin sieht mich an, seine Lider zucken. Dann sagt er leise: „David, du brauchst keinen Grund. Unfertige müssen ihr Handeln stets begründen. Niemals führen sie einen Krieg ohne Grund. An den Haaren herbeigezogen, aber es ist ihnen egal. Hauptsache ein Grund.
Du bist Gott, David. Wir sind deine Vollendung. Wir brauchen keinen Grund!“
- die Argumentation wiederum ist gut - und ausbaufähig.

" Schwester, geben Sie mir den Bohrer. Wir werden jetzt die Schädeldecke öffnen.“
erstes Anführungszeichen fehlt
Die Anzahl ihrer Glaubensstätten, ihrer Kirchen, nimmt rapide ab. Bald schon werden wir keine Möglichkeit mehr haben, in ihre Welt zu gelangen.“
das finde ich ungelenk formuliert: Entweder Glaubensstätten oder Bethäuser oder einfach Kirchen.
Ich gehe auffällig unauffällig über den Flur und meide den Blickkontakt zu den Schwestern, die meinen Weg kreuzen.
Der erste Satz ist abgedroschen- besser weglassen.
Was hast du eigentlich vor?
Ich werde mir ein Taxi nehmen und zur nächsten Polizeistation fahren. Ja genau. Und dann wird dieses Krankenhaus, oder was es auch immer sein mag, gewaltig eins auf den Deckel bekommen.
die Drohung wirkt schwach und unglaubwürdig - hier kannst du noch etwas kürzen: in diesem Teil verliert die Geschichte etwas an Schwung

lg
Bernhard

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Salem,
ich wusste nicht, dass Gott mit Vornamen Martin heißt. Und er ist ein echt gemeiner Sack, wie er diesen armen Teufel David quält.

Deine Geschichte gefällt mir richtig gut. Es fängt so schön einfach und harmlos an mit einem vergessenen Wort und verschlingt sich dann immer mehr. Was mir außerordentlich gut gefällt, das ist die Schilderung von ganz alltäglichen Dingen, die so einen kleinen Ruck erfahren, ein Geruch, der nicht passt, die Stämme, die zum Boden weisen. Und man weiß plötzlich nicht mehr, was wahr ist an der Wahrnehmung.
Das ist hier so eine Stelle, einfach mal als Beispiel, da ist noch gar nichts Widerliches passiert, aber du bereitest es klasse vor.

Mein Ford Fiesta katapultierte mich über die linke Spur der Autobahn. Vorbei an Bäumen, deren Stämme träge gen Boden wiesen. Ich schüttelte den Kopf. Die Leitplanke direkt neben mir schien näher zu rücken. Jetzt bloß nicht ausweichen. Alles war unwirklich. (...)
Mein Blick war starr nach vorn gerichtet. Der Lkw, den ich zum Überholen angesetzt hatte, schwankte leicht. Nur nicht ausweichen! Ich war inmitten einer Vision.

Wie gesagt, ein Beispiel von ganz vielen, die mich vom Beschreiben und der Ausdrucksweise her neidisch machen.

Ich fand das übrigens interessant, wie sehr du mit dem Geruch arbeitest, die meisten Autoren beschränken sich ja gestreng nach der Regel "show don't tell" auf die optische Wahrnehmung und auf die Dialoge, mir ist aufgefallen, dass die Geschichten, die stark mit allen Sinnen erzählen, einen mehr hineinziehen. Weiß nicht, ob das nur mir so geht, aber ich finde, dass ein Geruch sehr stark eine Atmosphäre beeinflussen kann, umso besser, wenn man es beherrscht, Gerüche erfahrbar zu machen.

Ich hab übrigens gar nichts von dem vorhergesehen, was du da an Einfällen präsentiert hast. Ich habe allenfalls gedacht, naja, werden wohl OP-Probleme sein, egal, auch wenns so ist, er schreibt hier echt abgefahren, der Salem, aber dann hast du mich eins ums andre Mal so an der Nase rumgeführt, dass ich mittlerweile nicht mehr weiß, wieviele ich davon habe. Klingt vielleicht ein bisschen naiv, aber manchmal finde ich das gar nicht so schlecht, wenn man ein wenig unschuldig auf Geschichten "losgeht". Da gibts dann mehr zu entdecken!
Hat echt Spaß gemacht, dir durch deine Visionen und Welten zu folgen und dann beim Teufel zu landen, mit dem man eher Mitgefühl hat als mit dem ganzen göttlichen Rest.
Oder ist alles vielleicht doch nur die Ausgeburt der kranken Phantasie eines Amokläufers? Oder etwa doch nicht? Echt spannend das Ganze.

Und das sag ich dir jetzt nicht, weil du heut Geburtstag hast, sondern ich habs ganz einfach so empfunden. Aber (garnicht nebenbei) hab ich gleich die Gelegenheit, dir zu gratulieren und dir einen tollen Tag und ein tolles Jahr zu wünschen. Auf dass die Schrecklichkeiten nur in deiner Feder wüten mögen. :gelb:

Ich hab sie zweimal gelesen und ich les sie bestimmt auch noch ein drittes Mal, deine Geschichte, denn die Idee, die dahintersteht, die Atmosphäre und diese vielen widerlichen kleinen Einzelheiten, dieses Spiel mit Visionen, die sich übereinanderschichten und einander durchdringen, das ist schon ein echt beeindruckendes Werk. Wie so ein Rollbild von Hieronymus Bosch, was sich ganz langsam vor einem aufdreht und immer wieder ein neues perfides Detail preisgibt.

Ich musste übrigens an ein Buch von Joe Hill denken, das ist der Sohn von Stephen King, das handelt auch von einem Teufel. Der Roman hat mit deiner Geschichte nichts gemein bis auf die eine Sache, nämlich dass man mit dem Teufel mitfühlt. Ich glaube, ich werde in Zukunft solche Sprüche, wie "Geh doch zum Teufel" mit etwas anderen Augen sehen. :D


Ein paar Kleinigkeiten, die mir en passant aufgefallen sind, falls du so ein Perfektionist bist wie ich.

Die Detonation des Schusses erreicht mein Ohr KOMMA bevor der Schmerz einsetzt. Ich sehe das starre Gesicht des Uniformierten, der nach guter, alter John Wayne-Manier den Revolver zurück in den Halfter gleiten lässt.

Der Uniformierte, ein wahrhafter Hüne, sah ihn eindringlich an. Er war mit Sicherheit über zwei Meter groß, mindestens.
wahrhafter Hüne und der Satz danach, das ist doppelt gemoppelt, da könnte man was ändern

Der Körper tat es dem Gesicht gleich, der Stoff des Anzugs vereinte sich auf molekularer Ebene mit dem Fleisch und zerlief zu einer breiigen Pfütze auf dem Asphalt.
auf molekularer ... hmmm, was will man mit so einer Formulierung sagen? Man will es doch so richtig ineinanderließen lassen, oder? Würde man es überhaupt wahrnehmen, dass sich etwas stärker vermischt als vermischt zu sein? Also die breiige Pfütze ist ungleich stärker als dieser molekulare Kram, ich find, das könnte man weglassen.

Trotz der für mich kalten Hitze beginne ich zu schwitzen.
Find ich ein bisschen ungelenk ausgedrückt. Aber hab auch keine bessere Idee.

Er drückt sie auf den Brustkorb des Mädchens und fräst sich durch spritzende Knochensplitter KOMMA bis sein Gesicht in ihrem Innern verschwunden ist.

Hat sich der Tumor sosehr in den Nervenstrukturen verankert, dass er über sie bestimmen kann wie ein Dirigent über seine zuckenden Musiker?
so sehr / ansonsten schönes Bild mit diesem dirigierenden Tumor und den zuckenden Musikern.

„Er ist ein Seher!“, keucht er KOMMA als hätte er einen Hundertmetersprint hinter sich.

Warum fragt er mich etwas, wenn er weiß, dass ich nicht antworten kann? Aber das scheint eines dieser ungelösten Phänomene der Ärzteschaft zu sein.
:D Stimmt

Es wird noch eine Weile dauern KOMMA bis alles wieder so funktioniert wie früher.“

Ich gehe auffällig unauffällig über den Flur und meide den Blickkontakt zu den Schwestern, die meinen Weg kreuzen.
Das würde ich umformulieren, klingt bisschen schlabbrig.

und ein waberndes Hirn mit hunderten von winzigen Zähnen schiebt sich durch die Schädeldecke.
Hunderten

Dampfende Krater verteilen ihr Brodem unter die zuckenden Körper, speien giftige Gase in die schwarze Wolkenfront, die jetzt wie schwangere Leiber herabhängt.
ich denke, es muss ihren Brodem heißen, ist ja ein ganz normales männliches Nomen und das ist der Akkusativ: Wen verteilen sie? Ihren Brodem/Dampf


Ich sehe haarige Spinnenbeine, die aus fleischigen Körpern ragen, Wesen mit mehreren Köpfen auf spindeldürren, meterlangen Hälsen, deren Gesichter ausschließlich aus hunderten von Zähnen bestehen.
Hunderten

Normale Körpergröße? Das ich nicht lache.
dass

Was ist in dieser Welt, in die mich Martin gebracht hat, schon normal? Man denke da nur an seine Bewohner.
Den fetten Satz würde ich weglassen. Hast sie ja eindrucksvoll geschildert. Die Replik macht es schwächer.

Ich sehe, dass Martin nervös wird, zu Stottern beginnt.
stottern

Ich runzle die Stirn, bis ich merke, dass nicht der Arzt kleiner, sondern ich größer werde.
das klingt grammatikalisch ein bisschen gekrotzelt, würde dann ja heißen dass nicht der Arzt kleiner werde. Und das passt nicht. Für mich klingts runder, wenn man schreibt: dass nicht der Arzt kleiner wird, sondern ich größer. Aber weise mich jetzt bitte nicht auf den Bezug hin. Ich weiß schon, trotzdem find ichs besser.


Er steht auf KOMMA ohne mich dabei anzusehen.

Ihr blaues Kleid wirkt schmierig und einige der sich darauf befindlichen Flecken glänzen feucht. Eine ebenfalls feucht schimmernde Puppe hängt an ihrem Arm, während sich der Daumen der anderen Hand in ihrem Mund befindet.
Unfreiwillige Verdopplung. Oder? Fandich jedenfalls hier nicht so glücklich.


Martin gackert wie ein altersschwaches Huhn und während sich zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Tag meine Blase unkontrolliert entleert – ich merke es nur an dem Geruch -, erkenne ich in seinen Augen, dass es ihn freut.
Das ist so ein blöder umgangssprahlicher Ausdruck, er ist null präzise und mittlerweile eine Worthülse geworden. Das würde ich anders lösen. Vielleicht einfach nur schon wieder.

Seid du mir damals den Krieg erklärt hast, David, seit dieser Zeit unterliegst du mir. Und du wirst mir immer unterliegen.“
seit


Das Wissen um meine Hilflosigkeit entbehrt sie jeglicher Höflichkeit.
Das kann man so nicht zusammenstellen.
Das "sie" müsste weg: Das Wissen ... entbehrt jeglicher Höflichkeit. Find ich hier aber auch nicht so gelungen.
Oder umformulieren, was ich besser fände, die Idee, die dahinter steht, ist ja gut.

Ja - ich hab deine Geschichte richtig gerne gelesen.
Feier noch schön und lass es dir gut gehen.
Liebe Grüße Novak

 

Hallo Salem

Ich habe bislang noch keine deiner Bolero-Geschichten gelesen, insofern gehe ich völlig "unbelastet" an diese Geschichte ran.

Zunächst muss ich dir ein Kompliment machen: Die Geschichte vermag trotz ordentlicher Länge zu unterhalten, was in erster Linie deinem flüssigen Stil und den wenigen Fehlern zu verdanken ist. Mit diesem Stil bist du durchaus in der Lage, den Leser (zumindest mal mich) zu fesseln und "bei der Stange zu halten", das ist ja gerade bei längeren Geschichten nicht immer einfach.

Ich muss jedoch gestehen, dass mir der Einstieg nicht so leicht fiel, die kurzen Kapitel, die zeitlichen und örtlichen Sprünge ... da war mir nicht so recht klar, wohin das alles gehen soll. Vermutlich haben es "Kenner" der Materie da leichter. Den ersten "echten" Abschnitt, wo dem Prot. das Wort "Tisch" nicht mehr einfällt, fand ich richtig gut. Schön geschildert, es muss wirklich erschreckend sein, wenn man dermassen aus dem Alltag gerissen wird. Dann setzen die Visionen deines Prot. ein, und ich fand es schade, dass du so schnell ins "Übernatürliche" schwenkst. Versteh mich nicht falsch, die Visionen sind keinesfalls schlecht und auch schön beschrieben, werden für mich aber zu inflationär verwendet. Der Prot. schlittert ja praktisch von einer Vision in die nächste, da bleibt kaum mehr Zeit um Luft zu holen, und so nutzen sie sich ab. Weniger wäre da mMn mehr gewesen, vor allem, weil sich Bilder auch wiederholen (bspw. die herausfallenden Augen). Ich hätte es stärker gefunden, wenn du noch intensiver auf "Alltagsprobleme" des Prot. eingegangen wärst (wie bspw. das Vergessen) und erst nach und nach zu den Visionen gegangen wärst. Das wäre ein geradliniger Spannungsverlauf gewesen, denn die Visionen selbst steigern sich für mich nicht mehr, wiederholen sich eher, wie gesagt.

Nach der - angeblichen - Operation nimmt die Geschichte wieder mehr Fahrt auf, da ich irgendwann wirklich nicht mehr wusste, wer jetzt recht hat, was Realität und was Einbildung ist. Diese Verwirrung nicht nur bei deinem Prot. darzustellen, sondern auch für den Leser zu erzeugen ist dir gut gelungen. Auch hier wieder - für mich ein Tick zu viel Visionen, zu viele Bilder. Bevor das eine richtig auf mich wirkt, kommt schon das nächste, die Kinder, die Schritte hinter der Ecke, der See aus Blut ... das ist alles für sich genommen nicht schlecht, aber ein bisschen zu viel zusammengewürfelt.

Die Auflösung dann gefällt mir gut, die finde ich originell, das ist eigentlich eine tolle Idee, für die eine KG fast zu wenig Platz bietet, dieser epische Kampf zwischen Götter (?). Ich könnte mir auch vorstellen, etwas Ähnliches in doppelter Länge zu lesen. Den Absatz hier find ich richtig stark:

Rotierende Münder mit messerscharfen Zähnen fräsen sich durch zentimeterdicke Kirchenportale, erreichen Flehende mit hocherhobenen Händen, die wenig später in blutenden Stümpfen enden. Und während sie zuckend in ihrem eigenen Lebenssaft ertrinken, finden sie ihren Glauben wieder.
Millionenfach speien die Vulkane Krieger aus. Föten, die sich lavagleich aus Felsritzen winden und deren Fleisch sich zu einem gigantischen Fluss vereint, aus dem Sekunden später spinnenähnliche Geschwulste hervorbrechen, um sich zu neuen Schöpfungen zu verbinden. Sie überschwemmen die Kontinente, waten durch Seen aus kniehohem Blut, in denen das Gedärm wie Seetang umherschwappt; immer weiter meine Apokalypse verbreitend.

Gerne noch hätte ich mehr über die Begegnung der "Schatten" mit den "Unfertigen" gelesen, das hätte mir besser gefallen als Davids unzählige Visionen zu Beginn und in der Mitte.

Was mir noch so am Text aufgefallen ist:

Ich saß vor dem mächtigen Schreibtisch von Professor Brinkmann,

Musstest du den so nennen? Ich hatte immer das Gesicht von Klausjürgen Wussow vor Augen ...

„Mich machte die von ihnen genannte Häufigkeit der Wahrnehmungsstörungen ein wenig stutzig.

Ihnen

Ein würgender Kloß breitete sich in meinem Hals aus.

Kann man so nicht sagen, der Kloß selbst würgt ja nicht.

Sie machen nichts, sie scheinen mich nicht einmal wahr zu nehmen.

wahrzunehmen

Die unzähligen, nadelspitzen Zähne des Kahlköpfigen beginnen zu rotieren, werden immer schneller, erzeugten sogar ein surrendes Geräusch.

erzeugen

Meine Schulter stößt einen spitzen Schmerz hervor,

Klingt nicht so prickelnd, irgendwie schräg.

Es herrscht das Chaos.

Würde den Artikel hier streichen.

Das EKG dringt in meinen Verstand, und kurz bevor ich wieder einschlafe, weiß ich, dass hier irgendetwas nicht stimmt.

Das ist mir zu allgemein formuliert. "Ich weiss, dass hier etwas nicht stimmt." Das hast du auch einfach zu oft in diesem Teil, vgl. etwa:

Etwas stimmt mit den Gästen nicht.

und

„Irgendetwas stimmt nicht“, krächze ich.

und

Nichts stimmt hier, durchfährt es mich.

und

Ich weiß, dass hier etwas nicht stimmt, und dieses Gefühl schreit mich aus meinem Innern heraus an, von hier zu verschwinden.

Das nervt dann irgendwann ...

Rauch steigt mir in die Nase, und ich kann nicht sagen, ob er gut oder schlecht riecht. Er riecht einfach nur nach … Geruch.

Es riecht nach Geruch? Was soll das bedeuten? ("Rauch" wäre hier mEn besser).

Ein Häufchen Elend, mit nichts mehr zu vergleichen mit dem Martin, der mir noch vor wenigen Stunden in dieser ominösen Kneipe gegenübergesessen hatte.

Ich kanns nicht genau sagen, aber der Satz klingt sehr seltsam. Dieses "... mit nichts mehr zu vergleichen mit dem Martin ...", kann man das wirklich so sagen? Eher doch: "... nicht mehr zu vergleichen mit dem Martin ...", oder?

„WURM!“, höre ich mich brüllen. „DU ZWEIFELST?“

Grossbuchstaben wirken immer so deplatziert in Geschichten.

Ja soviel mal von meiner Seite. Unterm Strich eine schöne Geschichte mit einer tollen Idee und schöner Sprache. Man merkt, dass du nicht zum ersten Mal geschrieben hast. Allenfalls die zu häufigen (und sich wiederholenden) Visionen haben die Geschichte für mich etwas in die Länge gezogen, da könntest du meinem Empfinden nach noch etwas kürzen. Sonst aber tipptopp.

Viele Grüsse.

 

Hallo Bernhard, hallo Novak, hallo Schwups.

Mit arger Verspätung ein herzliches Dankeschön für eure Kommentare. Dann wollen wir mal:

Lieber Bernhard.

Immer wieder gerne gelesen, ein Thema das dir liegt
Vielen Dank! Hehe
ist eine zu starke Geschichte, als dass du sie durch das anstücken neuer Teile Folgen verstümmeln sollst
Was ich ja aber eigentlich gemacht habe :Pfeif:
- der Glaube ist kaum vorgekommen und glaube machte nur Sinn, wenn ei Mensch mit Glauben widerstand leisten könnte, oder besser gesagt, ein MEnsch ohne glauben. Die Horden der Unterwelt machen aber keinen Unterschied zwischen Gläubigen und Ungläubigen.
Ich meinte, durch den mangelnden Glauben, verringert sich die Chance, in die Welt der Unfertigen zu gelangen. Der Glaube ist die einzige Möglichkeit, das Tor zu öffnen.
Deine Verbesserungsvorschläge habe ich übernommen. Klingen einleuchtend.


Hallo Novak.

Ich fand das übrigens interessant, wie sehr du mit dem Geruch arbeitest
Das freut mich. War hier auch mal eine Art von Experiment.
Ich hab übrigens gar nichts von dem vorhergesehen, was du da an Einfällen präsentiert hast.
Jeah, das freut mich noch mehr.

Dass du dich so in die Geschichte hineingelesen hast, finde ich richtig toll. Auch deine Anmerkungen habe ich übernommen. Habe die Geschichte noch ein weiteres Mal überarbeitet. Vieles gekürzt, einiges hinzugefügt :)

Hallo Schwups.

Zunächst muss ich dir ein Kompliment machen: Die Geschichte vermag trotz ordentlicher Länge zu unterhalten
Welches ich dankend und mit Freuden entgegennehme.

Ich muss jedoch gestehen, dass mir der Einstieg nicht so leicht fiel
Auch hier habe ich ein wenig gefeilt und einfach einige Zeitsprünge in den virtuellen Mülleimer verfrachtet.
Ebenso habe ich deine Anregung übernommen, einiges bei den Visionen zu kürzen. Nicht viel, muss ich gestehen, denn die Geschichte soll ja genau davon leben. Aber du hast recht, ab und zu braucht der Leser natürlich eine kleine Verschnaufpause. Der arme, sich auflösende Mann ist übrigens komplett rausgeflogen.
Diese Verwirrung nicht nur bei deinem Prot. darzustellen, sondern auch für den Leser zu erzeugen ist dir gut gelungen
das freut mich ungemein, denn das war mein Vorhaben.
Die Auflösung dann gefällt mir gut, die finde ich originell, das ist eigentlich eine tolle Idee, für die eine KG fast zu wenig Platz bietet
Du glaubst nicht, wieviele Ideen mir da schon wieder durch den Kopf schweben. Aber keine Angst. Sie bleiben, wo sie sind. Erstmal ;)

Auch deine Korrekturen habe ich größtenteils übernommen. Vielen Dank fürs Finden.

Euch dreien möchte ich nochmal ganzer herzlich für eure Mühe danken. Hat mir sehr geholfen, bei der nochmaligen Gesamtüberarbeitung. Aber wie heißt es so schön, ein Text ist ja nie ganz fertig.

Gruß! Salem

 

Hi Salem,

mein erster Bolero, ich kenne weder die Vorversion noch die anderen Teile, ich vermute, in jedem Teil geht es David gegen Goliath, äh, Gott ... eine gute Grundidee.

Überhaupt finde ich den Text hier gelungen. Aber er hat Längen. Am Anfang geht das noch gut los, da ist auch eine Steigerung der Spannung, erst fehlt das Wort für Tisch, dann platzt ein Spatz, dann wird es wild. Aber dann bleibt es "wild" über eine viel zu lange Strecke, und was mich wirklich gestört hat, die Visionen da sind ziemlich beliebig. Es macht bestimmt großen Spaß, sowas zu schreiben, aber die zufällige Aneinanderreihung möglichst ekliger Bilder ergibt doch keinen Grusel. Die wird langweilig irgendwann. Mit beliebig meine ich: es ist kein Muster hinter den Visionen zu erkennen, da hätte von einer Szene zur nächsten wirklich ALLES passieren können, da verpufft die Spannung, weil ich keine Erwartungshaltung aufbauen kann. Also, ob da ein Pfleger Scheiße schlürft oder ob plötzlich ein Dinosaurier von oben durch die Decke bricht und jemandem den Kopf abbeißt - alles gleichgültig, alles sinnfrei, geht nur um den Ekel-Effekt.
Du reizt das viel zu sehr aus, hier noch ein blutiges Zöpfchen und da noch ein platzender Augapfel, das wird doch öde, wenn es weder einer mir sympathischen Figur passiert noch Konsequenzen für den plot hat.

Die Auflösung am Ende hat mir gut gefallen. Aber im Mittelteil zu viel ungerichtetes Bildergeballer. ;)

LG,
MG

 

Hi MG.

mein erster Bolero, ich kenne weder die Vorversion noch die anderen Teile
Diese Geschichte beinhaltet alle Teile in zusammenhängender Form ;)

Es macht bestimmt großen Spaß, sowas zu schreiben
hehe, das auf alle Fälle.

da hätte von einer Szene zur nächsten wirklich ALLES passieren können, da verpufft die Spannung, weil ich keine Erwartungshaltung aufbauen kann.
Meine Intention war natürlich, dass der Prota in beinahe jeder Situation einer Vision gegenüberstehen könnte. Ich habe die Geschichte immer mit einem Traum verglichen. Passiert etwas ekliges, so passiert es immer und immer wieder. Eine konsequente Aneinanderreihung von unvorstellbaren Dingen. Bezugnehmend auf den Titel habe ich versucht, die Geschichte ähnlich dem Werk von Ravel stätig zu steigern, immer heftiger werdend bis zum all erlösenden Ende.
Deine Kritik gibt mir aber zu Denken. Jetzt, wo die vier Teile zusammen stehen, ist es vielleicht wirklich zu viel des Guten. Vielleicht hole ich noch einmal die Schere hervor :)

Ich danke dir auf jeden Fall fürs Lesen und für deinen hilfreichen Kommentar.

Gruß! Salem

 

Bezugnehmend auf den Titel habe ich versucht, die Geschichte ähnlich dem Werk von Ravel stätig zu steigern, immer heftiger werdend bis zum all erlösenden Ende.
Genau sowas hab ich nicht gesehen. Also diese Steigerung war am Anfang klar Tisch-Spatz-x. Und x war für mich dann ein sehr langes auf und ab, eben keine Steigerung mehr, da hab ich dann irgendeine Struktur vermisst und deswegen meinte ich "ungerichtet".

Wenn das vorher vier Einzeltexte waren ... hmja, vielleicht rührt daher das Problem?

Aber wie gesagt, gut zu lesen fand ich's ja trotzdem.

 

für mich dann ein sehr langes auf und ab, eben keine Steigerung mehr, da hab ich dann irgendeine Struktur vermisst
Diesbezüglich habe ich jetzt noch einmal speziell den zweiten Akt entschlackt.
Denn ich denke auch, dass der Leser irgendwann weiß, was für eklige Visionen David hat. Habe den netten kotschlürfenden Pfleger entfernt, ebenso seine Verwandlung hinter der Häuserecke.
Es scheint tatsächlich eine unendliche Geschichte zu sein ;)

 

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