Body Park
„Noch Wein, Herr Professor?“
Dankend winkte Wilming ab und kaute weiter angestrengt auf dem zähen Stück Suppenfleisch. Wie er diese Schleimerei hasste. Na ja, andererseits genoss er es auch, denn als Projektleiter lag es in seiner Hand, wie es weiterging. Und er fand, dass sich diese Macht ziemlich gut anfühlte.
Frau Doktor Klein trippelte zum nächsten ihrer Gäste und versuchte erneut, ihre billige Plörre unterzubringen. Bei Heckler, dem geschniegelten Sesselfurzer vom BKA, hatte sie mehr Erfolg. Professor Gerhard Wilming schüttelte den Kopf, wieder mal zeigte sich, dass der Mann absolut kein Niveau hatte. Allerdings redete er wenig, was ihn erträglicher machte als seine Frau, die grinsende Geiertonne. Sie gackerte bei jedem Wort, das fiel, aber Wilming schätzte, dass es damit spätestens bei der Präsentation ein Ende hatte. Der große Teller Suppe hatte sie nicht lange beschäftigen können, und so tat sie kund:
„Ich bin ja schon so gespannt, Doktor Klein! Der Professor und mein Mann waren sooo verschwiegen, als hätten die beiden ein süßes Geheimnis.“ Sie legte den Kopf schräg, so dass sich ihr Doppelkinn direkt unter das rechte Ohrläppchen verlagerte. „Wollen Sie es uns nicht jetzt schon verraten, hm?“ Sie klimperte mit den kleinen Schweinsaugen, was die umliegenden Speckwülste in träge Bewegung brachte.
Die zierliche Gastgeberin mit den langen, dunklen Haaren hatte mittlerweile den Tisch umrundet und stand bei Herrn Fischbach, dem Golfpartner des Professors. Sie schenkte Frau Heckler ein zuckersüßes Lächeln, hob den Zeigefinger und winkte kurz wie zur Ermahnung.
„Wir wollen doch schön artig sein und erst alle aufessen, nicht wahr? Beim Schnitzel erzähl’ ich Ihnen mehr,“ sagte sie kokett, was einen neuen, entnervenden Gackerausbruch provozierte. Oh Gott, dachte Wilming, die merkt nicht mal, dass sie verarscht wird.
Frau Fischbach lehnte ebenfalls weiteren Wein ab, was Wilming mit Genugtuung bemerkte. Er konnte eh kaum die Augen von der bildhübschen Frau seines Freundes lassen. Wenn er es sich eingestand, war sie auch der Hauptgrund, warum er heute Abend diesen Zirkus veranstaltete. Die harten Fakten hätte er mit Doktor Klein auch im Institut besprechen können, aber seinen Schwarm zu beeindrucken, dass war viel wichtiger. Die Hecklers waren dagegen aus rein formellen Gründen anwesend.
Nach der Hühnersuppe fuhr Doktor Klein den Hauptgang auf: Bratkartoffeln mit Schnitzel und verschiedenem Gemüse. Jetzt gelang es Frau Heckler, die Augen aufzureißen und ihre knollige Nase zuckte wildschweinartig. Der Anlass des Abends rückte für sie bis zur Vernichtung der Speisen in den Hintergrund.
Einige Augenblicke später herrschte gefräßiges Schweigen, dann meldete sich Herr Fischbach zaghaft zu Wort. „Was ist denn nun das Besondere an Ihrem Garten, Frau Doktor?“ Er war sehr groß und schmächtig und seine letzten Haare waren bereits auf dem Rückzug. Mit dünner Stimme fragte er weiter: „Züchten Sie seltene Pflanzen, beherbergen Sie Raubtiere, haben Sie einen großen Pool oder...“
„Leichen.“
Das Wort fiel wie ein Bleigewicht auf den Tisch, und alle außer der Gastgeberin hielten in ihren Bewegungen inne. Doktor Klein schob sich einen Haufen Kartoffeln in den Mund und lächelte unschuldig. Die kleine Frau saß am Kopfende des Tisches, dem Professor gegenüber. Nacheinander sah sie alle mit einem spitzbübischen Gesichtsausdruck an, die Erwartung war fast greifbar. Sie kaute fertig, lehnte sich zurück und erklärte:
„Ich studiere sie, beziehungsweise ihren Verfall. Eigentlich alles, was mit der Verwesung von Körpern zu tun hat.“ Nun stellten selbst die mächtigen Kiefer Frau Hecklers das Mahlen ein, ihr rosiges Gesicht verlor leicht an Farbe.
Professor Wilming unterbrach, indem er die Hand hob. „Bitte, Doktor Klein, dürfte ich vielleicht? Es ist wohl besser, wenn wir von vorne beginnen, damit hier kein falscher Eindruck entsteht.“
Sie schenkte ihrem Vorgesetzten ein entwaffnendes Lächeln, das die vierzigjährige Frau locker um zehn Jahre verjüngte. „Aber sicher, Herr Professor. Nicht, dass mich meine Gäste als Doktor Frankenstein in Erinnerung behalten.“ Herr Fischbach kicherte nervös.
Doktor Susanne Klein beobachtete amüsiert, wie sich ihr Chef aufplusterte. Braungebrannt und wie immer topmodisch gekleidet konnte er die Schweißflecken unter seinen Achseln nicht verbergen, eine Folge des drückend schwülen Sommerabends. Gott, was sie sich alles gefallen ließ, um ihre Forschungen betreiben zu können!
„Nun denn,“ legte Professor Wilming los. „Sie wissen sicher alle, dass bei einem Mord der oder die Tote das wichtigste Beweismittel ist. Oft ist es aber so, dass die Leiche erst nach einiger Zeit, manchmal erst nach Jahren, entdeckt wird. Gerade im letzteren Fall bleiben der Gerichtsmedizin dann nur Knochen, anhand derer sich kaum oder gar nicht die Todesursache, geschweige denn die Umstände, die zum Tode führten, feststellen lassen. Je größer der Grad der Zersetzung ist, desto schwerer wird es, das Verbrechen aufzuklären. Die USA sind uns in Sachen Kriminalistik wie so oft um Einiges voraus. Dort begann man bereits vor einigen Jahren, diesen Aspekt näher zu erforschen. Speziell zu diesem Zweck richtete man auf einem abgesperrten Gelände ein Areal ein, wo Tote unter medizinischer Kontrolle „gelagert“ wurden, wenn ich es so sagen darf. In ganz natürlicher Umgebung konnte dann studiert werden, wie sich die Witterung, Tiere oder andere Faktoren auf den Verwesungsprozess auswirken. Anhand der gewonnen Werte lässt sich, abhängig vom Fundort, sagen, wie lange eine Leiche lag, ob sie verlegt wurde, ob sie woanders starb et cetera. Diese Studien haben sehr zu einer besseren Aufklärungsquote bei ungeklärten Todesfällen beigetragen.“
Er nahm die letzte Gabel und blickte gewichtig in die Runde, bevor er sie in den Mund nahm. Die Dramatik beherrschte er, das musste Doktor Klein ihm zuerkennen.
„Und unsere Frau Doktor hier arbeitet an der gleichen Sache, natürlich in enger Zusammenarbeit mit dem BKA,“ führte er zu Ende und blickte zu Heckler, der gnädig nickte. „Projekt Body Park läuft seit gut einem Jahr. Doktor Klein war bereit, ihr Privatgrundstück zur Verfügung zu stellen, da es idealerweise abgelegen liegt und von außen nur schwer zugänglich ist. Bei ihren Studienobjekten handelt es sich übrigens ausnahmslos um Freiwillige, die ihren Körper nach dem Tod der Wissenschaft zur Verfügung stellen.“
Frau Heckler und die Fischbachs brauchten einen Moment, um das Gehörte zu verdauen, Doktor Klein sah förmlich die Zahnräder in ihren Köpfen rattern. Herr Fischbach hatte ein Bingo:
„Wenn ich dich richtig verstehe, Gerd, liegen also hier im Garten Tote?“
Doktor Klein kam der Antwort zuvor, ihr Elan war geweckt. „Ganz richtig, Herr Fischbach. Und nachher werden wir die laue Sommernacht nutzen und uns die Probanden mal näher ansehen. Dürfte dort zwar nicht so lecker duften wie hier beim Essen, aber das ist es wert, glauben Sie mir. Für mich ist der menschliche Körper nach seinem Ableben noch viel interessanter als davor. Und Sie glauben gar nicht, wie viele kleine neue Freunde Sie nach Ihrem Tod gewinnen!“ Sie blinzelte Frau Heckler zu, die mittlerweile wie ein blasser Fleischsack auf ihrem Stuhl hockte. „Aber erst nach der Herrencreme!“
Sprach’s, stand auf und ging in die angrenzende Küche, um das Dessert aufzutischen. Die dicke Heckler hatte die Ausführungen wohl schon verdaut , als sie sich zu Frau Fischbach hinüberbeugte und verschwörerisch flüsterte: „Herrencreme! Da könnte ich mich reinlegen. Und danach diese Toten, ist das nicht gruselig?“ Was der Angesprochenen nur ein gequältes Lächeln abrang.
Hitze und die bevorstehende Leichenschau konnten den Appetit der Gäste anscheinend nicht bremsen, und so schaufelte sich jeder eine gute Portion in die Schale. Das Klicken und Schaben der Löffel waren die einzigen Geräusche der nächsten Minuten, unterbrochen nur von der zaghaften Frage Frau Fischbachs, ob sie denn das köstliche Rezept bekommen könne, was Frau Doktor selbstverständlich bejahte.
Als alle fertig waren, sagte Doktor Klein: „Wenn es Ihnen recht ist, möchte ich nun die Ausführungen des Professors noch zum Ende bringen, denn ich weiß, er hat noch nicht alles gesagt, nicht wahr?“ Sie sah Wilming direkt an, das bezaubernde Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden und ihre Augen funkelten hart wie Edelsteine.
Wilming runzelte nur verständnislos die Stirn, als sie ein Blatt auseinanderfaltete, das sie wohl schon länger bei sich trug. „Ich war heute morgen in Ihrem Büro, um einige Ergebnisse zu besprechen, aber Sie waren nicht da“ fuhr sie beiläufig fort. „Dabei kam ich nicht umhin, dieses Memo auf Ihrem Schreibtisch zu finden und es mir genauer anzusehen. Es war sogar so interessant, dass ich mir eine Kopie davon machte.“ Jetzt dämmerte es dem Professor, und innerlich verfluchte er seine Unvorsicht. Nun gut, wenigstens befreite es ihn von der unangenehmen Aufgabe und die Katze war aus dem Sack.
„Sie und ihr Kriminal-Fuzzy hier,“ Klein blickte zu Heckler, dem überhaupt nicht mehr wohl in seiner Haut schien, „wollen das Projekt abblasen, weil ihnen die Gelder ausgehen. Zuerst war ich deswegen geschockt und dachte mir: Das ist also der Dank für meine aufopfernde Arbeit! Aber Sie sollten mich besser kennen, Herr Professor, als zu glauben, ich würde einfach den Mund halten und meine Sachen packen. Denn auch wenn man mich hier nicht mehr braucht, vielleicht tun es andere?“
Ihre Erklärungen hatten die ganze Runde in den Bann geschlagen, jeder sah sie entweder überrascht oder fasziniert an. Das schwere Essen schien ihnen nicht gut bekommen zu sein, man konnte es in den Mägen rumoren hören.
„Lange Rede, kurzer Sinn,“ die Doktorin sprach jetzt wieder zu allen fünf Gästen. „Es tut mir leid, dass ich Ihnen diese Umstände machen muss und dass Sie meine Arbeit nicht mehr werden bewundern können.“ Jetzt kam auch ihr Lächeln zurück. „Aber dafür werden Sie nun ein Teil von ihr, ist das nicht noch schöner? Ihr seid meine neue Forschungsgruppe!“
Verständnislosigkeit schlug ihr entgegen, dann blickten sich alle gegenseitig an und langsames Begreifen machte sich breit. Die Geräusche angestrengten Atmens wurden heftiger und Frau Heckler griff sich als Erste panisch an den schwabbeligen Hals. Der Ausdruck in Wilmings verkrampftem Gesicht verwandelte sich in blankes Entsetzen, als sich Doktor Klein zu ihm beugte und sagte:
„Ihnen ist doch sonst immer alles aufgefallen, Professor. Haben Sie denn nicht gesehen, dass meine Schale bereits voll war, als ich die Creme servierte? Aber machen Sie sich keine Sorgen, ab jetzt geht alles recht schnell. Sobald die Atmung versagt, haben Sie es fast geschafft.“ Er versuchte nach ihr zu greifen, doch ein weiterer krampfartiger Anfall ließ die geballte Faust sinnlos auf den Tisch schlagen. „Und Sie sollten sich glücklich schätzen, denn jetzt können Sie sich wirklich mit Leib und Seele der Wissenschaft verschreiben. Sie glauben gar nicht, was Russland für Möglichkeiten bietet.“
Um Sie herum begannen die Gäste, ihren letzten, makaber zuckenden Stuhltanz aufzuführen. Begleitet von gurgelnden und stöhnenden Lauten färbten sich ihre Gesichter nach und nach erst rot, dann bläulich, bevor sie vornüber auf den Tisch fielen oder nach hinten wegsackten.
Doktor Klein wartete, bis alle zur Ruhe gekommen waren, dann räumte sie den Tisch ab und zündete sich die erste Zigarette des Tages an. Der Transporter stand vollgetankt bereit, eine lange Nacht und mit Blick auf Frau Heckler auch äußerst schwere Arbeit standen ihr bevor. Die Grenze war nah, und am nächsten Morgen wollte sie schon weit in Polen sein.