Bodega de Ragazza
Den ganzen Vormittag hatte er verzweifelt versucht zu ergründen, was mit ihm passiert war. Und was überhaupt passiert war. Die Nacht hatte er in einem kleinen Raum verbracht – auf einem Holzbrett. Ein dunkler Raum; schäbig aber nicht dreckig. Die Wände waren schlicht, um nicht zu sagen unverputzt. Die dürftige Beleuchtung war nicht mehr nötig, seit es hell geworden war. Im Großen und Ganzen fühlte er sich wie in einem sich im Rohbau befindenden Einfamilienhaus. Als er aus dem vergitterten Fenster seines Zimmers sah, musste er jedoch feststellen, dass er sich in etlichen Metern Höhe befand. Die Stahltür des Zimmers, ganz in grau gehalten, stellte sich als verschlossen heraus. So wurde aus seinem Zimmer seine Zelle.
Als es noch dunkel war, hatte jemand ihm essen und trinken gebracht. Davon hatte er aber nicht viel mitbekommen. Das Brot war trocken, die Wurst roch bereits und hatte diesen feuchten, klebrigen Film, der sich bildet, wenn man Wurst zu lange aufbewahrt. Der Kaffee war in Ordnung, obwohl etwas zu süß. Das Essen konnte ihn aber nur kurze Zeit vom Nachdenken abbringen. Wie war er hierher gekommen? Hatte er sich gar etwas Schlimmes zu Schulden kommen lassen? Und: Warum antwortete niemand auf sein intensives Klopfen an der Tür? Von Zeit zu Zeit liefen uniformierte Personen daran vorbei. Doch keine von ihnen schien sich um ihm zu scheren. Nach geraumer Zeit des Türanbrüllens und Verzweifelungsklopfens beschloss er, sein Schicksal mit Fassung zu tragen und die Ruhe zu bewahren. Wenigstens bis klar war, warum er hier festgehalten wurde. Den gesamten Vormittag hatte er nun kombiniert, gefolgert und gerätselt. Was war passiert?
An den Tag zuvor hatte er nur partielle Erinnerungen. Genauer gesagt: der Zeitraum, den er bewusst erlebt hatte, konnte lediglich eine halbe Stunde betragen haben. Lautes Brüllen hatte Ihn aus dem Schlaf gerissen. Und eindringliches Klopfen. Nervtötendes Klopfen. Er hatte tief und fest geschlafen - vom Alkohol begünstigt. Endlich hatte das Klopfen und Brüllen aufgehört. Kurz darauf stieg der Geräuschpegel der Ruhestifter auf ein neues Maximum: Die Tür wurde eingetreten. Oder aber eingerammt. Das lief jedoch auf das Selbe hinaus. „POLIZEI!!!!“, schrieen die unerwünschten Eindringlinge. Als sie näher kamen, wurde, der Lärm den sie verursachten, unerträglich. Man identifizierte ihn, legte ihn in Handschellen und führte ihn ab. Er erinnerte sich, in einen Wagen gedrängt worden zu sein, wusste jedoch nicht mehr, wie er diesen wieder verlassen hatte.
Das war also sein Gestern gewesen.
Sein Heute war bestimmt von seinem erbärmlichen Mundgeruch, schmerzenden Gliedern und kalten Füßen. Man musste ihm die Schuhe und seine Uhr weggenommen haben. Er grübelte. Da er sich an den vorangegangenen Tag im Prinzip gar nicht erinnern konnte, suchte er nach anderen Anhaltspunkten.
Wie war sein Vorgestern?
Er war gegen 16 Uhr zu Hause gewesen. Nach zehn harten Stunden Arbeit. Er hatte Zeit zur Entspannung gebraucht; Zeit zum Abschalten. Nach einem oder zwei Burbon war er eingeschlafen. Gegen 21 Uhr wieder wach geworden, entschloss er sich, an diesem Abend wegzugehen. Er duschte und zog sich um. Bald darauf verließ er die Wohnung, in der er nur zwölf Stunden später so unsanft erwachen sollte. Er zog vorbei an etlichen Bars, aß kurz ein warmes Baguette - dazu ein Scotch, um schließlich einzukehren in der „Bodega de Ragazza“, der kleinen Bar der schönen Frau, einem kolumbianischen Cafe. Es war eine dieser neuen so genannten Chillout-locations, ein In-Lokal. Er hasste diese Anglizismen, die ihn seit geraumer Zeit auf Schritt und Tritt begleiteten. Normalerweise ging er an derartigen Lokalen aus rein prinzipiellen Erwägungen vorbei. Diesmal nicht. Im Obergeschoss der zweistöckigen Bar, die in warmen Orange- bis Rottönen gehalten war, saß sie: Allein an einem Tisch, um den ein altes Sofa und zwei bequeme Sessel standen, saß sie und trank Caipirinha. Ein In-Getränk. Er hatte sich an den Nebentisch gesetzt und sich erst nach geraumer Zeit getraut, sie anzusprechen. Seiner zögerlichen Kontaktaufnahme waren einige, erst kurze, später länger andauernde, Blickwechsel vorausgegangen. Sie waren sich sympathisch. Er fragte sie nach ihrem Namen, verkniff sich die Frage nach ihrem Alter, erzählte kurz von seiner Arbeit und was er in seiner Freizeit machte. Sie gab ebenfalls Informationen über sich Preis, lächelte, wie Frauen eben lächeln können, zwinkerte und ließ ihn ihren wunderschönen Augenaufschlag bemerken. Er hatte das nicht übersehen, und nach einer halben Stunde, oder etwas mehr, waren weitere Caipirinhas bestellt. Schnell war beschlossen, dass man die Bar zusammen verlassen würde. Man ging zu ihr und er bestaunte ihre beeindruckende Bar, von der er noch eine Menge zu sich nahm. Sie hatte ebenfalls eine Menge hochprozentiger Getränke zu sich genommen, so glaubte er ich zu erinnern. Dementsprechend gelöst war die Stimmung. Kleider fielen. Flaschen leerten sich. Ihre Wohnung war groß und geschmackvoll eingerichtet. Zwar hatte er das riesengroße Bett in ihrem Schlafzimmer bemerkt, doch befanden sich beide in der Küche, als sie ihm die letzten Kleidungstücke vom Körper riss.
Gerade, als er von seiner Überlegung abgelenkt wurde, von einem Blutfleck, den er auf seinem Hemd entdeckte, öffnete sich die Tür: „Raus hier!“