Bo
Dachte Bo an seine Kindheit und sein Elternhaus, kamen ihm nur zwei Worte in den Sinn: Strenge und Bigotterie. Strenger, hitzköpfiger Vater - verhuschelte, bigotte Mutter.
Alles miefig, kleinlich, eng.
Eltern, Wohnung, Schule. Einfach alles.
Vater war den ganzen Tag außer Haus.
Als Versicherungsvertreter klapperte er die Haustüren ab, einen Monat um den anderen frustrierter.
Ursprünglich hatte er Maschinenbau studiert und nach seinem Abschluß lange Jahre in einer großen Firma gearbeitet.
Hatte es sogar bis zum Abteilungsleiter geschafft.
Doch durch sein unbeherrschtes Wesen und seine kleinliche, penible Art hatte er sich schließlich auch mit den friedfertigsten Kollegen überworfen.
Auf Firmenfeiern stand er mit verkniffenem Mund am Rand und zählte heimlich und still die getrunken Biere der Anderen.
Er sperrte die Ohren auf, horchte, wo er konnte und merkte sich jedes Wort, um es an gegebener Stelle, vorzugsweise beim Chef, fallenzulassen.
Bei der großen Entlassunswelle war er einer der Ersten, die gehen mussten.
Seitdem hatte er berufsmäßig kaum mehr ein Bein auf die Erde bekommen.
Ein Kleckerjob löste den nächsten ab, ein Streit folgte daheim auf den anderen und schließlich wurden aus zwei Bier pro Abend sechs und dann acht und manchmal auch zehn.
Nach anderthalb Jahren, Bo war gerade neun, zog die Mutter, eine ehemalige Kellnerin, mit einem Koffer und vier vollgestopften Woolworth-Plastikbeuteln aus und zu einem anderen Mann, der sieben Jahre jünger war als sie.
Bo konnte sie in ihrem neuen Leben nicht gebrauchen. Er und der Vater blieben in der Wohung zurück.
Außer, daß es keine lautstarken Streits mit der Mutter mehr gab und der Vater sich statt dessen in wehleidigen Selbstgesprächen erging, änderte sich nichts.
Bo stand früh auf, machte sein Frühstück, ging zur Schule, kam heim, machte Hausaufgaben, las oder spielte in seinem Zimmer.
Abends nahm er sich ein Glas kalte Milch aus dem Kühlschrank, dazu ein Brötchen mit Wurst oder, noch besser, mit Marmelade und verbrachte die Zeit bis Mitternacht vor dem ständig laufenden Fernseher.
Sein Vater schlief entweder schnarchend und sabbernd auf dem Sofa oder saß, wehklagend und schnüffelnd in der Küche bei seinen Flaschen. Bo kümmerte sich nicht um ihn, und der Vater kümmerte sich nicht um Bo.
Auf diese Weise kamen beide wunderbar miteinander zurecht.
Zu den Marmeladenbrötchen kamen schließlich Chips, Würstchen, Eistee, Puddings aus dem Supermarkt - alles, was schnell zur Hand war und gut schmeckte.
Er wurde unleidlich, fett und zynisch.
Dann noch unleidlicher, fetter und zynischer.
Und immer einsamer.
Hatten seine Mitschüler zuvor schon nur selten seine Gesellschaft gesucht, mieden sie ihn mittlerweile fast ganz.
Nur auf dem Heimweg von der Schule suchten sie mit dem sicheren Instinkt der Kinder, den Verwundbarsten einer Gruppe zu erkennen, seine Nähe.
"Wabber-Schlabber! Wabber-Schlabber! Heh - brauchste nich' was zu Essen?" riefen sie hinter ihm her und schmierten ihre nicht gegessenen Butterbrote an seine Schultasche.
Als Einer von Ihnen ihm eines Nachmittags ein Bein stellte und ihn dadurch zu Fall brachte, wehrte er sich das erste und einzige Mal.
Das gebrochene Nasenbein und der fehlende Vorderzahn des Beinstellers wurden Eltern und Lehrern als Sportunfall verkauft.
Seitdem hatte Bo seine Ruhe.
Er stopfte noch mehr Eistee, Chips und Würstchen in sich hinein, wurde gemieden und gehasst, war ein Außenseiter und allein, aber dennoch weit davon entfernt, unglücklich zu sein.
Er brauchte niemanden mehr. Er hatte es gefunden.
Die eine Sache, die all seine Gedanken in Anspruch nahm, die ihn in seiner Vorstellung mächtig und machtvoll werden ließ.
Wenn Bo nach dem Unterricht heimkam in die ungepflegte Wohnung, in der es entweder stank, weil der Vater zwei Schachteln am Tag verrauchte, oder es bitterkalt war, weil er gegen den Gestank die Fenster in fast allen Räumen aufriss, froh, seinen schlanken, coolen, gutaussehenden, hänselnden Klassenkameraden entkommen zu sein, warf er seine Jacke im Flur auf die Garderobe und seine meist zu großen Schuhe in eine Flurecke, suchte nach einem vor sich hin gemurmelten "Tach" in Richtung Küche, in der er den Vater vermutete, ohne weitere Worte sein Zimmer auf und drehte den Schlüssel von innen um.
Hier war sein Reich.
Nur seins, und niemand durfte hinein.
Vor zwei Jahren, als er elf war, hatte er es dem Vater unmißverständlich klar gemacht.
Bereits damals wog Bo bei einer Körpergröße von einssechsundfünfzig stolze zweiundachtzig Kilo.
Zweiundachtzig Kilo, gegen die der zwanzig Pfund leichtere Vater keine Chance hatte.
Sobald die Tür verschlossen war, zog er die verblichenen Vorhänge vor die blind gewordenen Fenster und holte eine ausrangierte Bananenkiste unter seinem Bett hervor.
Er ließ sich auf den Teppich plumpsen und leckte sich erwartungsvoll die wulstigen Lippen.
Nachdem er die Beine übereinandergeschlagen hatte, die Knie nicht ganz angewinkelt, um Platz für den Bauch zu schaffen, packte er mit glitzenden Augen seine Schätze aus der Kiste und begann mit seinen Experimenten.