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Blutroter Mohn
Morgen für Morgen rattert der Vorortzug durch die Felder und bringt die Pendler aus den Dörfern zur Arbeit in die Stadt. Sein Tempo ist langsam und bedächtig, er hält an jeder noch so kleinen Station und manchmal, wenn ich aus dem Fenster schaue, denke ich, dass es möglich sein müsste auszusteigen, um Blumen zu pflücken.
Nur an einer Stelle, wenn er schnaufend die Kuppe eines Hügels erklommen hat und sich wieder hinunter in die Ebene stürzt, nimmt der Zug Fahrt auf, ein Geschwindigkeitsrausch im Kleinen.
Morgen für Morgen sitze ich an meinem Fensterplatz und lasse die Bauernhäuser, die kleinen lichten Pinienwälder und die weiten Felder an mir vorüberziehen. Ich sehe den Vögeln am Himmel nach und träume, der Zug brächte mich in den Süden zu einem Urlaubsort am Meer.
Menschen sehe ich selten. Hin und wieder braust ein Auto auf einem schmalen Weg der Autobahn entgegen.
Eines Tages im Frühsommer sah ich sie. Dort, wo der Zug zwischen den Hügeln in schneller Fahrt der Ebene zustrebt, stand ein kleines, etwa fünfjähriges Mädchen. Der Fahrtwind des Zuges spielte mit ihren blonden Locken und ließ ihr hellblaues Kleidchen flattern. Sie stand einfach nur da und sah zu, wie der Zug an ihr vorüberglitt, als beobachte sie etwas Außergewöhnliches, nie Dagewesenes. Ich überlegte, wo sie wohl hergekommen war, denn weit und breit war kein Haus zu sehen, nur die in der Morgensonne glänzenden Felder.
Tag für Tag sah ich sie nun. Sie stand immer an der gleichen Stelle, unbeweglich wie eine Puppe. Manchmal hatte ich das Bedürfnis, ihr zuzuwinken, aber es wäre mir wie ein Eindringen in ihre Welt erschienen. Ich ließ die Hand immer wieder sinken.
Genau einen Monat später kreuzten sich unsere Augen zum ersten Mal. Der Zug war ungewöhnlich langsam gefahren und für einen Moment hielten ihre Augen die meinen fest. Und als wir schon vorüber waren schien es mir, als hätte sie gelächelt.
Tag für Tag fanden sich nun unsere Augen, als wäre ein Bann gebrochen. Ich hatte den Eindruck, als würde sie auf mich warten, nicht auf den Zug, nur auf mich, um mir für einen kurzen Augenblick des Vorbeifahrens zuzulächeln. Ihr Strahlen machte mir Mut und eines Tages hob ich die Hand und winkte ihr zu. Als wir am nächsten Morgen wieder vorbeibrausten, da winkte sie mit beiden Händen zu mir herauf und lachte, dass ihre weißen Zähne blitzten.
Tag für Tag freute ich mich auf diesen kleinen Morgengruß, der mich auf meinem Weg zur Arbeit erwartete. Und sie enttäuschte mich nie, es verging kein Tag, an dem sie nicht da stand und winkte und lachte.
Der Sommer überzog die Felder mit einem Teppich aus roten Mohnblumen. Wenn der Zug den Gleisen durch die Felder folgte, erschien es mir, als würde selbst die Luft rötlich schimmern von der Pracht der Blüten.
Da ich in Fahrtrichtung saß, konnte ich das kleine Mädchen schon von weitem sehen. Doch an diesem Tag stand sie nicht an dem gewohnten Platz. Ich wollte mich schon enttäuscht abwenden, da sah ich sie.
Mit fliegenden Haaren rannte sie den Hügel hinunter. In den Händen hatte sie einen Strauß Mohnblumen, den sie dem Zug, nein, mir, entgegenschwenkte. Sie hatte sich bestimmt verspätet, weil sie die Mohnblumen für mich gepflückt hatte. Sie lief schneller und immer schneller. Die Mohnblumen in ihrer Hand leuchteten wie frisches Blut. Sie schien nicht anhalten zu können, stolperte, fing sich wieder und lief weiter den steilen Hang hinunter, direkt auf den Zug zu. Die roten Blütenblätter lösten sich aus ihrem Strauß und wehten hinter ihr her, es sah aus, als liefe sie durch blutroten Regen.
Es konnte nur Sekunden gedauert haben, dass ich sie laufen sah, aber mir erschien es Ewigkeiten, die ich sie beobachtete, wie sie immer näher kam, ich blickte auf die roten Blüten, die sie mir entgegenstreckte, ich glaubte ihren Blick zu sehen, der mich hinter den Fenstern des Zuges suchte.
Mir blieb das Herz stehen, meine Hände wurden feucht. Wie konnte ich sie nur dazu bringen, anzuhalten? Ich riss das Fenster auf. Der Fahrtwind blies mir ins Gesicht, dass meine Augen tränten. Nur undeutlich durch den Tränenschleier sah ich sie auf den Zug zulaufen, sie stolperte auf den flachen Bahndamm und ich riss an der Notbremse. Die Bremsen kreischten, aber es war zu spät, einer der Wagons hatte sie schon erfasst.
Der Zug stand und ich riss die Tür auf und stürzte hinaus. Ich lief am Zug entlang und sah schon von weitem die blutroten Blüten auf den Geleisen leuchten. Sie vermischten sich mit den blonden Locken, zwischen denen rotes Blut hervorsickerte und auf die Gleise tropfte.
Nacht für Nacht liege ich nun wach und frage mich, ob ich es hätte verhindern können, wenn ich nicht gelächelt hätte, wenn ich nie gewinkt hätte, wenn ich nie mit diesem Zug gefahren wäre. Ich weiß, dass es nicht meine Schuld war, aber ich werde mich immer schuldig fühlen, schuldig, ein Lächeln erwidert zu haben.