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Blutrot
Seit sechs Jahren fahre ich im Herbst in das kleine, verträumte Bergdorf und verbringe hier drei Wochen Urlaub. Ich wohne in einer kleinen Ferienwohnung am Dorfrand ohne Fernseher, ohne Telefon, ohne Tageszeitung. Die meisten Einwohner sprechen ihren deutschen Dialekt, obwohl das Dorf in Italien liegt und wenn ich morgens zum Bäcker gehe, erfahre ich alles Wichtige brühwarm und mit großer Anteilnahme. Nachmittags sitze ich mit den Männern vor der Cafeteria und trinke meinen Espresso. Mit meinen 50 Jahren bin ich der Jüngste und da ich fast zwei Meter groß und sehr hager bin, falle ich ins Auge. Manchmal soll ich auch aus der großen weiten Welt des Ruhrgebiets erzählen, aber in der Regel ist viel interessanter, was die Kinder geschrieben haben. Denn im Dorf leben nur noch die Alten. Alle anderen sind ausgewandert, in die Nähe nach Milano oder in die Ferne nach New York oder San Francisco, manche sogar nach Australien oder Japan.
Sonntags wandere ich mit den Dorfbewohnern in das Kirchlein, das auf einem eigenen Hügel außerhalb des Ortes liegt. Auch wenn der Innenraum im Barock gestaltet wurde, ist er mit einer Ausnahme recht schlicht. Auf einem Altaraufsatz steht ein triumphierender Christus, eine wunderbare Arbeit, die mich schon bei meinem ersten Besuch berührt hat. Nachdem ich in den Reiseführern und im Internet keine hilfreichen Informationen gefunden hatte, wandte ich mich an den Pfarrer, einen gebürtigen Florentiner, der seit zwanzig Jahren die Gemeinde auf ihrem irdischen Weg geleitet und inzwischen ein ganz passables Deutsch spricht. Ich kann nämlich immer noch kaum italienisch. Schon in der Schule waren mir Fremdsprachen ein Gräuel, weshalb ich Versicherungsmathematiker wurde. Denn Zahlen sind jedenfalls in der heutigen Zeit international.
Pfarrer Don Antonio war ein wenig untersetzt und nicht gerade schlank. Das fiel unter seiner weit geschnitten Soutane aber nicht sehr auf, doch wenn wir beide zusammenstanden, erinnerten sich viele an alte Stummfilme.
Er erzählte mir: „Diese Statue ist geschnitzt von Baldassare Further .Er hatte seine Werkstatt in Firenze, kam aber aus Tirol und hieß eigentlich Balthasar. Im Alter bekam er schwere Arthritis, so dass er mit seinen Händen nur mit großem Schmerz arbeiten konnte. Da packte er seine Werkzeuge, diese Statue und einen Block Lindenholz zusammen, übergab die Werkstatt seinem Gesellen und wanderte hierher, in sein Heimatdorf. Seine Enkelin nahm ihn auf und Toni, seine vierzehnjährige Urenkelin trug Sorge für ihn.“
„Und die Statue hat er der Kirche geschenkt?“
„Ja, als Opfer für einen Platz auf dem Friedhof und um Messen für sein Seelenheil. Über 200 Jahre her ist er gestorben, aber eine Messe lesen wir immer weiter jedes Jahr am 12. Juni. Der Christus wird an dem Tag mit Blumenkränzen geschmückt und die Kirche verwandelt sich in ein Meer von Blumen.“
Ich spielte immer mal mit dem Gedanken, im Juni Urlaub zu machen, um diesen Tag mitzuerleben, aber dann überholten mich die Ereignisse.
„Es hat in Hannover anscheinend Manipulationen bei mehreren großen Abschlüssen gegeben und wir müssen jetzt möglichst schnell aufklären, ob die Risikobewertungen zutreffend sind. Deshalb muss ich Sie leider bitten, Ihren Urlaub zu verschieben.“ Mein Chef schien wirklich sehr betroffen zu sein und ich wollte meiner Firma gerne helfen. Die Arbeiten erwiesen sich als schwierig und zogen sich hin. Schließlich konnte ich erst im April für drei Wochen in Urlaub gehen. Am Sonntag nach Ostern würde ich wieder zurück fahren müssen.
Erst als ich im Dorf ankam, erkannte ich, dass die Passionszeit vor Ostern hier sehr ernst genommen wurde. Ich konnte aber schnell feststellen, dass ich mit diesen besonderen Tagen gut zurecht kam. Das eingeschränkte Speisenangebot in der Trattoria bekam mir als Möchtegern-Vegetarier nur gut, Tanzvergnügen lagen mir ohnehin nicht und manche andere Bräuche fand ich interessant. Am Palmsonntag ging ich mit in die Kirche. Es war wirklich einiges los. Offensichtlich waren manche jüngere Verwandte zu Besuch gekommen. Sonst saßen die alten Menschen auf den wenigen Stühlen im Kirchenschiff, aber jetzt standen überall junge Ehepaare und schwatzten miteinander, Kinder liefen durch den Raum und auch die älteren Menschen gingen umher und begrüßten die Besucher. Es dauerte einige Zeit, bis ich an meinem Lieblingsplatz angekommen war. Inzwischen war der Pfarrer mit den Ministranten eingezogen und die Gespräche ebbten zu einem leisen Gemurmel ab. Dann schaute ich zum Altar, um mich auf die Messe zu konzentrieren. Ich traute meinen Augen kaum und das große Gesangbuch fiel mir aus der Hand und ein lautes Platsch schallte durch das Kirchenschiff.
„Wo ist der Christus geblieben?“ murmelte ich. Denn auf dem Altar stand jetzt eine Pieta, von der ich meine Augen gar nicht losreißen konnte. Nach der Messe sprach ich deshalb kurz mit dem Pfarrer und schon am nächsten Tag konnte ich ihn besuchen. Wir tranken zusammen Kaffee und nach einem einleitenden Austausch kam ich zur Sache: „Ich habe mich über die Pieta, die auf dem Altar steht, sehr gewundert.“
„Die Figur ist so alt wie der triumphierende Christus, und in der Passionszeit steht sie auf dem Altar.“
„Nun gut, sie mag ja alt sein, aber ich war doch sehr betroffen. Die Proportionen des Toten stimmen nicht, die Arme sind zu lang und scheinen verdreht zu sein. Dafür sind die Beine zu kurz und scheinen auch ungleich lang zu sein. Und der Rock der Maria ist zwar blau, aber erst hatte ich gedacht er hat rote Streifen, aber dann habe ich gesehen, dass er voller Blut ist. Es gibt ja solche Darstellungen wie den Blutkruzifixus des heiligen Bernhard, aber üblich sind sie meines Wissens nicht. Und vor allem über Marias Gesicht war ich sehr erstaunt um nicht zu sagen, erschrocken. Kennen Sie die ‚Madonna brutta‘ aus Don Camillo?“
Der Pfarrer lächelte. „Ja, aber in unserer Figur ist kein Schatz versteckt. Sie ist il tesoro.“
„Wie kann so eine hässliche Figur ein Schatz sein?“
„Das wichtigste Merkmal der Figur nach Meinung der Kunsthistoriker haben Sie bestimmt gar nicht wahrgenommen.“
„Ich weiß es nicht, was meinen Sie den?“
„Die Mutter sitzt nicht, sondern sie steht mit dem Sohn auf ihren Armen.“
Ich überlegte und stellte dann fest: „Ja, ich kenne keine andere stehende Pieta und so, wie Sie von der Figur reden, nehme ich an, das alles hat einen Grund. Aber welchen?“
Der Pfarrer schwieg einen Augenblick, dann meinte er: „Sie sind ja schon seit einigen Jahren immer wieder hier zu Besuch, also denke ich, kann ich Ihnen die Geschichte geben.“
„Es gibt also wirklich eine Geschichte zu der Figur?“
„Damals war hier noch Österreich und alle Menschen sprachen Deutsch. Der Pfarrer Gruber lebte hier vor fast dreihundert Jahren und er hat aufgeschrieben, was geschehen ist.“
Don Antonio holte aus seinem Schreibtisch einige maschinenbeschriebe Seiten und gab sie mir. „Das ist eine Abschrift in Deutsch, wie es heute gesprochen wird.“
Ich begann zu lesen: „Ich berichte hier erstaunliche Ereignisse, aber ich habe nur aufgeschrieben, was ich selber gesehen und erfahren habe. Auf einem Bauernhof am Ortsrand lebte eine Magd. Sie war als Säugling auf den Stufen meiner Kirche abgelegt worden und ich fand eine Familie, die sich des Findelkinds annahm. Der Säugling wuchs zu einer jungen Frau heran. Sie war klein und mollig und ihre Gesichtszüge erinnerten eher an einen Affen als an einen Menschen. Sie hatte unter dem Spott der Dörfler zu leiden. Eines Tages wurde sie von einigen jungen Männern im Wald überrascht, die es nicht bei Worten beließen, sondern ihren Spaß mit ihr trieben. Leider hat sie sich niemandem offenbart, auch mir nicht.
Neun Monate später gebar sie einen verkrüppelten Jungen. Das Kind wuchs bei ihr auf und Mutter und Kind zeigten sich möglichst wenig im Dorf. Der Knabe hatte zu lange Arme, aber zu kurze Beine. Ein Bein war verdreht, so dass er nur mühsam gehen konnte. Als er alt genug war, arbeitete er als Knecht und half seiner früh gealterten Mutter. Beide wurden weiter von den jungen Burschen des Dorfes gehänselt, und die Männer, die vor fünfzehn Jahren jung gewesen waren, beschimpften sie auch, aber es blieb bei verbalen Angriffen, auf die beide überhaupt nicht reagierten. Als der Junge eines Tages alleine arbeitete, wurden aus den Hänseleien bald Püffe und Schläge. Der Junge wehrte sich auch jetzt nicht, er lief aber auch nicht weg. Die Tätlichkeiten arteten dann so weit aus, dass der Junge schließlich blutüberströmt zu Boden sank und starb. Das erfuhr ich erst am Abend dieses Tages. Der Junge war in der Frühe am Donnerstag der Karwoche verstorben. Am späten Vormittag hielt ich die zweite Messe. Das schreckliche Ereignis hatte sich auch im Dorf noch nicht herumgesprochen. Mein Ministrant wollte gerade das Glöckchen zum Einzug läuten, schaute aber nur zur Kirchentür und stotterte ‚Madonna‘. Ich eilte sofort aus der Sakristei, um zu schauen, was geschehen war und starrte fassungslos zur Kirchentür. Die Menschen in der Kirche sahen mich verwundert an und folgten dann meinem Blick hin zur Kirchentür. Dort stand die Mutter in ihrem blauen Arbeitskittel, die Kapuze über den Kopf gezogen und in ihren Armen trug sie ihren blutbefleckten Sohn. Langsam ging sie auf den Altar zu. Ich blieb noch eine Weile reglos stehen, dann eilte ich in die Sakristei, holte eines der dort lagernden Leichentücher und wies die Ministranten an, das Tuch vor den Altarstufen auszulegen. Während die Mutter mit ihrem toten Kind durch die Kirche schritt, begannen die Frauen zu weinen und niederzuknien. Zögernd schlossen sich die Männer ihnen an. An den Stufen angekommen, legte die Mutter ihren Sohn auf das Tuch und ich begann mit der Aussegnung. Der Tote wurde dann in das Tuch eingewickelt und von mehreren Männern auf den Kirchhof getragen. Der Totengräber hatte bereits ein Grab ausgehoben, da er von dem tragischen Tod des Jungen vom Bauern unterrichtet worden war. Am Ostersonntag hob er ein zweites Grab aus, die Mutter war in der Nacht im Schlaf gestorben.“
Hier endete der Bericht. „Das ist ja eine traurige und auch gruselige Geschichte. Es scheint, die Figuren der Pieta seien die Magd und ihr getöteter Sohn, aber wie ist das möglich?“
Don Antonio reichte mir eine weitere Seite und ich las: „In der Donnerstagsmesse war auch der alte Balthasar Further. Er lebte schon seit zwei Jahren im Dorf und hatte in dieser Zeit meistens auf einer Bank vor dem Hof seines Sohnes gesessen und die Sonne genossen. Aber sein Schnitzwerkzeug hatte er nicht mehr in seine verkrüppelten Hände genommen. Nach der Beerdigung des Jungen ging er in den Anbau, in dem er lebte und in dem sein Werkzeug lagerte und blieb dort Tag und Nacht. Nur Toni durfte den Raum betreten. Sie brachte ihm Essen und was er sonst zum Leben brauchte, aber sie verriet niemandem, weshalb ihr Urgroßvater in seiner Wohnung blieb und was er dort machte.
Nach zehn Monaten, die ihm nicht nur körperliche Schmerzen bereitet hatten, rief er mich zu sich, übergab mir die Pieta und bestimmte, dass sie immer in der Passionszeit an Stelle des triumphierenden Christus aufgestellt werden solle.“
Ich war von dieser Geschichte so mitgenommen, dass ich eine Zeitlang schwieg, um sie in mich aufzunehmen. Und dann drängte sich mir eine Frage auf:
„Die Ereignisse sind also schriftlich festgehalten worden und auch nach über zweihundert Jahren einigen Gelehrten und wenigstens dem Ortspfarrer bekannt. Aber ist denn das Gedächtnis an dieses schreckliche Ereignis im Dorf heute noch lebendig?“
„Auf dem Friedhof sind zwei Gräber. Sie sind mit Immergrün bewachsen und es gibt auch keine Grabsteine. Aber immer zu Beginn der Passionszeit pflanzen die Bewohner des Dorfes auf die Gräber blühende Pflanzen, die sie sorgsam herangezogen haben. Die Gräber leuchten dann in ihren drei Farben über den ganzen Kirchhof. Blau für den Kittel der Magd, weiß für den toten Jungen und rot - blutrot.“