- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Blutige Spuren
„Vielleicht ist es ja von einem Menschen.“, witzelte Ole.
Sofort blickte sich sein kleiner Bruder Henry verängstigt um.
Ole lachte, obwohl er selbst auch ein wenig Angst hatte. Noch immer spürte er die Nachwirkungen des Schocks, der ihm nur wenige Momente vorher durch die Glieder gefahren war. Der Waldboden war voll von dunkelroten, fast schon schwarzen Blutspuren. Sie führten weiter in den Wald hinein und Ole, der ein wenig vorausgelaufen war, hatte sie zuerst entdeckt. Für einen kurzen Moment war da sein Herz stehen geblieben, dann hatte er nach seiner Tante Sabine gerufen.
Diese untersuchte jetzt die klebrigen Spuren mit einem kleinen Stock, den sie am Wegrand gefunden hatte. Sie hielt den vor Angst schlotternden Henry fest im Arm und Ole wünschte sich in diesem Moment nichts mehr, als auch so festgehalten zu werden. Er war zwar schon fünfzehn, aber manchmal war er doch neidisch auf seinen kleinen Bruder.
Henry war acht und bekam immer die ganze Aufmerksamkeit. Er war das wohlbehütete Kind, nicht nur zuhause, sondern auch jetzt, wenn sie bei Tante Sabine waren. Ständig hielt sie ihn im Arm oder spielte mit dem Kleinen, doch für Ole interessierte sie sich kaum. Ole hatte seine Tante früher immer bewundert. Sie war eine großgewachsene Frau, mit mausgrauen Haaren und sehr dunkler Haut. Sie war kein bisschen an ihrem Aussehen interessiert. Ihre Haare standen in alle Richtungen vom Kopf ab und die Arbeitskleidung hatte sie Second-Hand irgendwo erstanden. Das einzige was neben Henry noch ihre Aufmerksamkeit verdiente war der Wald. Sie war Försterin. Sie kannte jeden Baum und jeden Strauch in ihrem Waldstück, aber das Blut war etwas Ungewöhnliches.
Für einige lange Minuten hockte Sabine am Boden, untersuchte nicht nur das Blut, sondern auch die Pfoten Abdrücke im Schlamm darum herum. Irgendwann konnte Henry es nicht mehr aushalten und fragte: „Glaubst du das ist von einem Menschen.“
Sabine schaute auf und lächelte. „Nein mein Schatz.“, sagte sie, während sie dem kleinen Jungen durch das lange, blonde Haar strich. „Siehst du die Abdrücke dort. Die sind von einem Luchs. Er muss verwundet worden sein und streift jetzt verzweifelt durch sein Revier. Du darfst nicht immer alles glauben, was dein Bruder dir erzählt.“ Bei den letzten Worten warf sie Ole einen strengen Blick zu.
„Können wir ihn denn heilen?“, fragte Henry, dessen Augen sich schon mit Tränen füllten. Sabine nahm ihn in dem Arm.
Ole konnte sich denken, warum seine Tante nicht direkt geantwortet hatte. Bei der Menge an Blut die hier auf dem Boden verteilt war, wäre es ein Wunder, wenn der Luchs überhaupt noch lebte.
„Was hältst du davon, ihn zu suchen?“, fragte Sabine jetzt ganz leise an Henry gerichtet, der fast zu weinen anfing. Er nickte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Ohne ein weiteres Wort machten sich die drei auf den Weg. Die Blutspur führte vom Weg ab und tiefer in den Wald hinein. Eine bedrückte Stimmung lag in der Luft, die nur ab und zu mal von Henrys Schniefen unterbrochen wurde.
Ole genoss es, einfach schweigend durch den Wald zu gehen. Wen interessierte schon ein Luchs. Der Wald war groß, da würde doch wohl noch ein anderes von diesen komischen Biestern herumlaufen. Sie liefen noch ein ganzes Stück daher, bis ein süßlicher Duft von einer Anhöhe herüberwehte. Erst glaubte Ole eine ungewöhnliche Pflanze zu riechen, doch als der Duft in einen fauligen Gestank umschlug, wusste er, dass es der Tod war, den er roch.
Henry und Sabine brauchten ewig, um den Berg zu besteigen. Ole hatte sich bereits das Tier genau angeguckt. Da er nicht wusste, wie ein Luchs aussah, konnte er auch nicht sagen, ob das katzenartige Wesen mit dem weißen Bauchfell einer war. Was er allerdings sicher sagen konnte, dieses Tier hatte sich nicht einfach verletzt. In seinem Bauch klaffte ein Loch, wie als wäre ein kleiner Speer dort hindurchgetrieben worden. In dem blutigen Fell drum herum saßen unzählige von Fliegen, die aufstoben, wann immer Ole sich bewegte.
„Was ist mit ihm, Tante Sabine? Warum liegt er so komisch da?“, brüllte Henry panisch.
„Er ist tot, du Idiot.“, antwortete Ole so beiläufig wie er konnte. In seiner Brust saß ein Knoten, der immer fester wurde, je öfter Ole den Kadaver betrachtete, aber das sollten die anderen beiden besser nicht merken. Am liebsten hätte er auch geweint und sich dann von Sabine trösten lassen, wie sie es bei Henry immer tat. Doch er war der Ältere und es war nicht an ihm Gefühle für einen toten Luchs zu zeigen.
Henry war derweil in Tränen ausgebrochen. Er hätte wahrscheinlich den armen Luchs umarmt, wenn er nicht von Fliegen übersäht gewesen wäre und nach Fäulnis gestunken hätte.
Sabine nahm ihn in den Arm, während sie Ole mit dem zweiten bösen Blick des Tages strafte. „Ist ja schon gut.“, sagte sie mit beruhigender Stimme.
Henry schluchzte noch eine ganze Zeit weiter.
Ole hatte längst das Interesse an der ganzen Szenerie verloren, als das Wimmern endlich aufhörte. Er saß wie immer etwas von den anderen beiden entfernt an einen Baum gelehnt, denn der Geruch des Todes bereitete ihm Kopfschmerzen. Aber das kümmerte natürlich wieder niemanden, solange wie Henry sich über eines seiner Wehwehchen beschwerte.
„Wo ist er jetzt.“, hörte Ole aus dem Schniefen seines Bruders heraus. Der weinerliche Ton in dem die Frage gestellt wurde, heizte seine Wut nur noch weiter an. Schließlich riss ihm endgültig der Geduldsfaden und er machte sich ohne ein Wort des Abschieds auf dem Weg zum Haus seiner Tante.
Sabine nahm gar keine Notiz davon. Erst nachdem er schon ein ganzes Stück gegangen war, fragte sich Ole, was er eigentlich am Haus wollte. Die Tür war verschlossen, der einzige Schlüssel zum Haus lag sicher in Tante Sabines Tasche und in Wahrheit würde Ole am liebsten für immer im Wald bleiben. Im Wald duftete es immer nach grünen Blättern, während die Stadt immer zu nach Blumen und Kräutern roch. Das kam von den ausgiebigen Pflanzungsprojekten an Häuserwänden in den letzten Jahren. Sie kühlen das Klima in der Stadt runter und verbreiten einen süßlichen Geruch, aber Ole konnte das nicht ab. An jeder Ecke roch es nach einer anderen Pflanze. Ihm war es lieber, dauerhaft den beständigen Geruch des Waldes um sich zu haben. Deswegen bog er einfach irgendwo rechts vom Weg ab und folgte einem kleinen Trampelpfad, der wahrscheinlich von Tieren gemacht wurde. Hier und da pflückte er ein paar Beeren von Brombeersträuchern oder kletterte auf einen Baum, um die Sonne zu beobachten, wie sie ihren Weg runter in den Westen beschritt. Erst das Klingeln seines Handys holte ihn zurück auf die Erde. Sabine wurde auf dem Display angezeigt. Ole überlegte, ob er überhaupt dran gehen sollte, doch als ihm klar wurde, wie lange er weg gewesen war, überkamen ihn Schuldgefühle. Er nahm ab.
„Wo bist du? Henry und ich haben uns Sorgen gemacht!“
Natürlich hatte Henry sich Sorgen gemacht. Wahrscheinlich lag er wieder weinend in ihren Armen. Die vorherige Wut kochte erneut in Oles Brust auf. Warum hatte er den Anruf nicht einfach weggedrückt? Es war doch klar, dass es wie immer nur um Henry gehen würde.
„Hallo, Ole, bist du noch dran?“, quakte Sabine aus dem Lautsprecher. Der leicht säuerliche Unterton sagte Ole, dass er jetzt besser antwortete.
„Ja, es ist alles gut.“, antwortete er und verbarg seine Wut unter einem genervten Tonfall.
„Dann komm jetzt nach Hause. Ich muss noch ein paar Sachen erledigen und du musst währenddessen auf Henry aufpassen.“
Die Wut brodelte in der jungen Brust wie Säure. Seine Voraussage hatte sich bewahrheitet. Es ging mal wieder nur um Henry. Der konnte nicht mal auf sich alleine aufpassen, wenn er in einem leeren Raum mit verschlossenen Türen wäre, aber natürlich war er das Lieblingskind, egal wo er hinkam.
„Ole, ich habe echt keine Zeit für so einen Quatsch. Komm jetzt sofort nach Hause.“, dröhnte es noch einmal aus dem Telefonhörer.
Für einen kurzen Moment wollte Ole fragen, was sonst passieren würde, entschied sich jedoch für ein mürrisches „ja“.
Niedergeschlagen und auf Langsamkeit bedacht schlich er schließlich zum Haus seiner Tante. Was wohl passiert wäre, wenn Henry mal ein bisschen länger im Wald geblieben wäre. Sabine hätte ihn wohl kaum so angemotzt. Sie hätte ihn wahrscheinlich nicht mal angerufen, denn Henry würde ja nicht auf seinen verwöhnten kleinen Bruder aufpassen müssen.
Auf dem Rückweg zum Haus merkte Ole plötzlich wie schlapp er eigentlich war. Der Tag im Wald hatte ihn mehr Kraft gekostet, als er eigentlich gedacht hatte und jetzt sehnte sich sein Körper nach Entspannung. Mit schleppenden Schritten brachte er die letzten Meter hinter sich, dann lehnte er sich an die kühle Fassade des Hauses. Die Erde, in der die Kräuter und Blumen des vertikalen Gartens gepflanzt waren, wurde immer feucht gehalten. So war sie auch jetzt erfrischend, aber der Kräutergeruch verscheuchte Ole schnell wieder. Er folgte dem kurzen Weg unter dem Küchenfenster entlang und sprang die wenigen Stufen hoch zur Eingangstür.
Die Tür flog auf, ohne dass Ole geklingelt hätte. Sabine stand mit wutverzerrter Miene im Rahmen. „Was hast du dir dabei gedacht, einfach abzuhauen? Wenn ich dich nicht angerufen hätte, wüsste keiner wo du bist. Was wenn du dich verletzt hättest? Da hätte ja alles passieren können.“, brüllte sie ihn an.
„Und dann ist da noch dieser Wilderer.“, fügte sie betont leise hinzu, sodass Henry, der lautstark im Wohnzimmer spielte, sie nicht hören konnte.
„Ein Wilderer?“, rief Ole aufgeregt, doch noch bevor er fertig war, wusste er, dass er einen Fehler gemacht hatte. Auf dem Gesicht seiner Tante breiteten sich tiefe Sorgenfalten aus, denn einen kurzen Moment später tauchte Henry in der Tür auf. „Tante Sabine, was ist ein Wilderer?“, fragte er mit einer sehr kindischen Stimme. Sabine warf Ole den dritten strafenden Blick des Tages zu, dann flüsterte sie Henry ein paar Worte zu und ging mit ihm ins Wohnzimmer. Ole wollte unbedingt mehr erfahren über diesen ominösen Wilderer, aber Sabines Reaktion hatte vermuten lassen, dass sie das nicht vor Henry diskutieren würden. Deswegen folgte er den anderen beiden nicht ins Wohnzimmer, sondern bog in die linke Tür ein und fand sich in der Küche wieder. Zwei halbgegessene Pizzen standen dort auf der Anrichte des kleinen Raumes. Ole holte einen Teller aus dem Wandschrank und lud ihn bis oben hin voll mit Pizzastücken. Danach musste er wohl oder übel doch ins Wohnzimmer gehen, denn in der Küche war kein Platz zum Essen. „Ja, der Luchs wurde auch von so einem Mann getötet.“, erklärte Sabine gerade, als Ole das Zimmer betrat. Henry liefen dabei die Tränen über das Gesicht und er kuschelte sich nah an seine Tante heran. Dieser schien es ziemlich schwer zu fallen, tröstende Worte zu finden, deswegen streichelte sie ihrem Neffen nur leicht über die Schulter. Ole setzte sich an den Esstisch, der direkt gegenüber von dem cremefarbenen Sofa stand, auf dem sich Henry und Sabine niedergelassen hatten. Er begann schweigend zu essen, konnte aber irgendwann seinen Schwall an Fragen nicht mehr an sich halten. „Was ist jetzt mit dem Wilderer?“ Sabine hielt ihren Blick weiterhin auf Henry gerichtet. Als dieser anfing zu schluchzen, drückte sie ihn fester an sich. Erst dann antwortete sie Ole: „Der Luchs ist angeschossen worden. Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas im Wald passiert ist und ich glaube mittlerweile, dass wir es mit Wilderern zu tun haben. Der Luchs wurde erst vor ein paar Jahren wieder richtig heimisch in dieser Region und es hat viel Geld gekostet. Manche Jäger haben sich deswegen entschieden, die Luchse wieder zu bejagen, um deren Fell zu bekommen. Es ist zwar verboten worden, aber die Population der Luchse ist in letzter Zeit trotzdem wieder stark gefallen. Bisher glaubte ich, dass mein Wald da eine Ausnahme wäre, aber wenn die Wilderer so weiter machen, wird er das wohl nicht bleiben.“ Sie erklärte das in einem so ruhigen Tonfall, dass Henry beim Klang ihrer Stimme aufhörte zu weinen, doch Ole hörte den besorgten Unterton daraus heraus. „Auf jeden Fall muss ich jetzt los, um den toten Luchs zu holen. Das wird nicht lange dauern. Ich bin gleich wieder da.“ Sie streichelte Henry noch einmal über den Kopf, doch bevor sie sich zur Tür wenden konnte, fing Henry wieder an zu weinen. „Du darfst nicht gehen.“, schrie er ängstlich. Sofort drehte Sabine um und nahm ihn in den Arm. Ole fand das Schauspiel lächerlich. Henry war acht. Als er selbst acht Jahre alt gewesen war, hatte es ihm nichts ausgemacht, mal alleine zu bleiben. Stattdessen flüsterte Sabine Henry nun tröstende Worte zu, aber was sie auch versuchte, der kleine Junge wollte sie nicht gehen lassen. „Henry, ich muss diesen Luchs bergen. Ansonsten wird der Wilderer noch mehr Tiere töten und das wollen wir doch nicht.“ „Dann kannst du uns ja mitnehmen.“, schlug Ole vor, während er nach seinem letzten Stückchen Pizza griff. „Ja!“, rief Henry auf einmal ganz aufgeregt. „Kommt gar nicht in Frage. Ich nehme euch nicht mit in den Wald, jetzt wo da ein Wilderer rumläuft.“, antwortete seine Tante streng. „Aber es ist doch sogar noch hell. Der Wilderer wird doch wohl nicht vor der Dunkelheit kommen.“, konterte Ole schlagartig. „Und wir brauchen doch auch nicht lange, hast du selbst gesagt.“, fügte Henry hinzu. Das schien Sabines Willen zu erweichen. „Nun gut. Aber ihr müsst alles genauso machen, wie ich euch das sage.“ Die beiden Jungen nickten. Ole hatte zwar nicht vor, dieses Versprechen zu halten, denn vor seinem inneren Auge spielte er schon die Verfolgungsjagd mit dem Wilderer durch, aber anders würde er seine Tante wohl nicht überzeugen können. „Na gut, dann kommt mit.“ Sie bedeutete den beiden, vor ihr durch die Tür zu gehen, und folgte dann selbst.
Die rötliche Abendsonne schickte ihre warmen Strahlen durch das Blätterdach, während die drei sich ihren Weg durch den Wald bahnte. Mit Schaufel und Schubkarre war es deutlich schwerer dem kleinen Pfad zu folgen. Auch stach das Blut durch das orangene Licht nicht mehr so heraus, so brauchten sie fast doppelt so lange, um den Kadaver zu finden. Der Gestank hatte noch zugenommen und Ole fragte sich bereits, warum er überhaupt hatte mitkommen wollen. Der Plan, ein Grab im Wald auszuheben, gestaltete sich auch schwerer als gedacht, denn die starken Wurzeln der Bäume stellten sich als ebenbürtige Gegner heraus. Sabine gab jedoch nicht auf und Henry feuerte sie an. Ole hatte einfach nur Kopfschmerzen von dem fauligen Geruch. Der Baum an den er sich früher am Tag gelehnt hatte, war jetzt auch vollkommen eingehüllt von Todesduft. So kam es, dass sich Ole immer weiter von dem Kadaver entfernte. Er stieg eine kleine Anhöhe hinauf, in der Hoffnung dort ein wenig Frischluft zu finden, aber auch hier stank es nach dem toten Tier. Ole drehte sich um und wanderte wieder den Hügel hinab. Plötzlich rutscht er auf dem alten Laub aus. Er konnte sich nicht abfangen und rollte wie ein altes Fass den Hang hinunter. Dann, ein dumpfer Schlag. Sein Kopf explodierte vor Schmerz. Ole schrie auf. Alles was nun folgte wurde zu einem verschwommenen Brei, bis er irgendwie sicher auf gerade Boden lag. Seine Tante hatte sich über ihn gebeugt und Henry weinte schon wieder. Der Schmerz in seinem Kopf hatte nachgelassen, aber als Ole ihn drehen wollte, spürte er eine kleine Beule seitlich an seinem Kopf. Sabine half ihm aufzustehen und langsam kehrte die Erinnerung zurück. Nach dem Sturz waren die beiden angerannt gekommen. Sabine hatte ihn geborgen. Aber auf was war er so hart aufgeschlagen? Es hatte sich angefühlt wie auf eine spitze Ecke gefallen zu sein. Vielleicht ein spitzer Stein. Ole suchte mit den Augen die Anhöhe ab. Da war die Stelle. Genau da, wo das Laub zur Seite gedrückt worden war, ragte eine grüne Ecke aus dem Boden. Das dunkle grün und die perfekten Kanten passten kein bisschen in die Idylle des Waldes. Es war, wie als hätte sich ein Eisbär braun angemalt, um in der Wüste nicht aufzufallen. „Tante Sabine?“, fragte er schließlich. „Ja, ist alles in Ordnung mit dir?“, antwortete sie besorgt. „Ja, ja natürlich, aber was ist das da oben.“ Ole deutete auf die grüne Ecke. Sabines Stirn legte sich in Falten, während sie nachdachte. „Ich habe es da auf jeden Fall nicht hingebracht.“, sagte sie nach einer kurzen Gedenkzeit. „Komm wir schauen es uns mal an.“
Die Ecke entpuppte sich als ganze Box. Der Deckel ließ sich anheben. Was sich darin verbarg ergab für Ole zuerst keinen Sinn. Die Box war gerade so groß, dass zwei Menschen darin nebeneinander Platz gehabt hätten. In einer der Wände war jedoch ein Schlitz hineingeschnitten worden, sodass eine von außen kaum zu sehende Schießscharte bildete. Ole hüpfte ins Innere der Box und spähte durch den Schlitz. „Hey, von hier aus kann man genau auf den Weg gucken, wo wir die Spuren gefunden haben.“ „Was sagst du da, lass mich mal sehen.“ Die Stimme seiner Tante war unruhig geworden. Sie ließ sich zu Ole in die Kiste gleiten. „Du hast Recht.“, sagte sie sofort, dann fügte sie flüsternd hinzu: „Ole, bring Henry nach Hause und schließ die Tür ab. Ihr könnt den Zweitschlüssel benutzen, der unter dem Blumentopf liegt. Sollte ich morgen früh um acht nicht zurück sein, ruft ihr die Polizei und führt sie hierher. Denk dran, du hast versprochen, auf mich zu hören.“ Ole dachte einen Moment lang nach. Konnte er seine Tante hier einfach so zurücklassen? Ja. Darum ging es ihm auch gar nicht. Es war nicht Sorge, die ihn zögern ließ, sondern Neugierde. Wie gerne hätte er den Wilderer gefangen. Egal wie unrealistisch seine Vorstellung von Verfolgungsjagden war, er war so dicht dran, wirklich etwas Spannendes zu erleben. Andererseits ging es hier auch um Henry. Ole hasste es zwar, wenn sein kleiner Bruder im Mittelpunkt von allem stand, doch könnte er nicht behaupten, dass er seine Entscheidung nicht aufgrund von ihm traf. „Ok und…“, kurz suchte Ole nach den passenden Worten, die nicht zu persönlich klangen, scheiterte allerdings, „pass auf dich auf.“ Sabine quittierte das mit einem liebevollen Lächeln, strich Ole durch die Haare und stieg dann aus der Box. Ihre Berührung hatte ein komisches Kribbeln durch Oles Körper gejagt. Es war nicht angenehm, wie er sich die Nähe immer vorgestellt hatte, sondern fühlte sich eher an, als wäre er erniedrigt worden. Allerdings wurde der Gedanke von Henry verscheucht. „Ich will auch mal darunter.“, sagte dieser und war schon drauf und dran in die Kiste zu springen. „Das geht aber nicht, mein Schatz. Du musst jetzt mit Ole nach Hause gehen.“, antwortete Sabine. Man konnte ihr die Besorgnis deutlich anmerken, doch Henry schien das nicht zu kümmern. Er verzog das Gesicht, stampfte wütend auf den Boden und wollte schon weinen, als seine Tante ihn streng am Arm packte. „Wir haben jetzt keine Zeit für so ein Affentheater. Du hast mir versprochen, dass du auf das hörst was ich dir sage. Also gehst du jetzt sofort mit Ole nach Hause. Keine Widerrede.“ Ole hatte sie noch nie so streng mit Henry reden hören, dem jetzt stumm die Tränen aus den Augen liefen. Nach einem kurzen Moment der Stille, in dem nur die Rufe der ersten Nachtvögel zu hören waren, verstand Ole, dass es jetzt Zeit war zu gehen. Er sprang aus der Kiste raus und nahm Henry bei der Hand. Erst jetzt viel ihm auf, dass alles um ihn herum nur noch vom schwachen Licht des Mondes beleuchtet wurde. „Komm Henry, wir beeilen uns lieber.“, sagte er in einem ungewollt freundlichem Ton. Wahrscheinlich lag es an den Tränen, die weiterhin aus Henrys geröteten Augen quollen. Ole nahm seinen kleinen Bruder an der Hand und drehte sich noch einmal zu seiner Tante um. Sie versteckte gerade den Deckel der eingegrabenen Box unter dem Laub. Ole wusste genau, warum sie das tat. Sie hoffte, dass die Wilderer heute nach hierher kommen würden und sie die Täter auf frischer Tat ertappen könne. Sabine schaute noch einmal kurz auf, warf den beiden Jungen ein flüchtiges Lächeln zu, dann bedeutete sie ihnen zu gehen. Ole gehorchte sofort. Sein Widerstand war einmal gebrochen, er würde jetzt nicht wieder anfangen zu diskutieren. Henry wollte sich jedoch nicht so leicht abwimmeln lassen. Erst als Ole ihn mit einem festen Ruck zu sich rann zog, setzte er sich überhaupt in Bewegung. Lauthals schrie er, während sein großer Bruder ihn den Weg hinunterschleifte. Ole kochte mittlerweile innerlich. Das Mitleid war in puren Hass umgeschlagen, denn auch wenn er nicht mehr so behandelt werden wollte, wie sein kleiner Bruder, hätte dieser ein wenig dankbarer sein können, dafür das sich Ole eine solche Gelegenheit nur für ihn entgehen ließ. Ständig knackte es im Unterholz. Verängstigte Tiere stoben in alle Himmelsrichtung von dem quengelnden Jungen davon. Ole fiel das allerdings nicht auf. Er hatte seinen Blick in die Ferne gerichtet, den Weg hinunter und das rettete den beiden Jungen vielleicht das Leben. Denn was er am Ende des Pfades auftauchen sah, war deutlich gefährlicher als ein paar Mäuse. Zwei zwielichtige Gestalten schlichen dort den Weg hinauf. Im weißlich blauen Licht des Mondes konnte Ole noch gerade so erkennen, dass die eine Person etwas größer war, doch alles andere wurde von der Dunkelheit verschluckt. Aber das reichte ihm aus. Kein normaler Mensch würde nachts hier spazieren gehen. Das konnten nur die Wilderer sein. Er musste handeln. Ole zog Henry zu sich heran und presste ihm die Hand auf dem Mund. Sein kleiner Bruder war so überrascht, dass er tatsächlich für einen Moment das Schreien vergas. Ole nutzte diesen Moment, um mit ihm in Deckung zu gehen. Sie liefen ein Stück in den Wald hinein, dann duckten sie sich hinter den Wurzeln eines umgerissenen Baumes. Henry hatte mittlerweile seine Schockstarre überwunden. Mit einigen schmerzhaften Bissen versuchte er seinen Mund von Oles Hand zu befreien. „Wir müssen jetzt ganz leise sein.“, versuchte dieser ihn zu beruhigen. Die Bisse gingen ihm allmählich auf die Nerven, doch die Angst vor den Unbekannten unterdrückte die Wut. Henry schien nicht zu begreifen, was hier gerade vor sich ging, denn anstatt ruhiger zu werden, hatten die Worte nur seinen Kampfgeist befeuert. Mit Händen und Füßen wehrte er sich, gegen seinen älteren Bruder. Es ging so weit, dass Ole ihn mit all seiner Kraft auf den Boden pressen musste. Gerade noch rechtzeitig bekam er den wilden Jungen unter Kontrolle, bevor die beiden Gestalten an ihnen vorüberschritten. Ole hörte das Knirschen der Schuhe auf dem sandigen Weg. „Heute Nacht triffst du ihn aber hoffentlich richtig.“, sagte eine starke Frauenstimme. Zur Antwort bekam sie ein leises Brummen. Die beiden mussten über den Luchs geredet haben, dachte Ole. Es waren tatsächlich die Wilderer. Henry hatte das Paar wohl auch gehört und war vollkommen ruhig geworden. Wenn er nicht so stark zittern würde, hätte man ihn für tot halten können. Ole verringerte daraufhin den Druck auf den Körper seines Bruders. Langsam lugte er über den Baumstamm. Oben auf der Anhöhe bewegte sich jemand. Die beiden Wilderer hatten anscheinend ihr Ziel erreicht und buddelten sich gerade ihren Weg in die Box. Hoffentlich hatte sich Sabine gut versteckt, dachte Ole, bevor er sich wieder in die Deckung fallen ließ. Gerade als er sich Henry schnappen wollte, um zu verschwinden, fiel ihm auf, wie schlecht ihre Deckung eigentlich gewählt war. Der Weg war von der Anhöhe aus einsehbar und fiel deswegen als Fluchtweg raus. Nach hinten konnten die Jungen aber auch nicht fliehen, denn ihr versteck war von meterhohen Felsformationen umringt. Ihnen blieb nichts anderes übrig als zu warten.
Es war tief in der Nacht, als Oles Aufmerksamkeit zu einem Schemen gezogen wurde, der sich langsam durch den Wald bewegte. Das Mondlicht färbte das Fell blau-grau, doch die Anmut mit der die vier langen Beine sich ihren Weg durch das Unterholz suchten, ließ kein Zweifel zu. Ein Reh näherte sich langsam der Anhöhe. Ole betete, dass es umdrehen würde, doch es schien wie magisch angezogen genau auf eine Stelle des Weges zuzulaufen. „Ole?“, fragte Henry verängstigt. „Werden sie es töten.“ Ole wusste nicht, wie er seinem kleinen Bruder darauf antworten sollte. Rehe waren nicht besonders seltene Tiere, das wusste er. Manchmal wurden sie auch gezielt gejagt, um das Ökosystem des Waldes intakt zu halte, aber er wollte sich da nicht drauf festnageln lassen. „Werden sie es töten, Ole?“ Henry schrie ihn fast an und in der Angst, dass die Wilderer sie hören würden, wenn Henry auch nur einmal den Mund aufmachen würde, nickte er unmerklich. Die nächsten Dinge passierten zu schnell, als dass Ole sie in dem Moment vollständig durchdringen konnte. Das Reh war auf dem Weg stehen geblieben, auf der Suche nach der Quelle für Henrys Schrei. Henry selbst stürmte daraufhin aus dem Versteck, brüllte das Tier an es solle verschwinden und fuchtelte wild mit den Armen. Er rannte aus Oles Sichtfeld. Im selben Moment halte ein Schuss durch den Wald. Ole sprang aus seiner Deckung und sah gerade noch das Reh flüchten. Sein kleiner Bruder jedoch lag reglos am Boden. „Scheiße, nein. Das darf nicht wahr sein. Henry!“, seine verzweifelte Stimme halte durch die Nacht, während er zu dem reglosen Körper rannte. Fast hatte er ihn erreicht, da brüllte eine tiefe wütende Stimme: „Lass ihn liegen Junge. Geschieht ihm Recht, wenn er mir in die Schussbahn läuft.“ Der größere der zwei Gestalten kam die Anhöhe heruntergeprescht. Seine bleichen Gesichtszüge zierte blanker Hass. Die offene Lederjacke schimmerte im Mondlicht und ließ ihren Besitzer noch gefährlicher erscheinen. Ole blieb starr neben seinem Bruder stehen. Er traute sich nicht einmal seine Arme zu senken, die in der Gehbewegung verharrt waren. Sie standen ab wie die knorrigen Äste eines Baumes. Unförmig und ziellos. Der Mann brauchte nicht lange, um Ole zu erreichen. Er packte ihn am Kragen und schüttelte ihn mehrmals. „Was wollt ihr eigentlich hier draußen so alleine, mitten in der Nacht.“ Ole schwieg. Genauso wie der Rest seines Körpers versagte ihm auch seine Zunge den Dienst. „Antworte mir.“, brüllte der Mann. Seine Augen funkelten vor Zorn. Langsam schaffte es Ole den Mund aufzumachen. „So ist es brav. Und jetzt erzählst du mir genau, was ihr kleinen Pisser hier heute Nacht ganz alleine vorhattet.“ „Das wird wohl schwierig, denn sie sind nicht alleine.“ Sabine kam aus dem dunklen Dickicht auf der anderen Straßenseite hervor. In der Hand hielt sie einen dicken Stock. Der Wilderer drehte sich erschrocken um. Mit Sicherheit hatte er nicht erwartet auf einmal einer Försterin mit Keule gegenüberzustehen. „Lassen sie jetzt sofort meinen Neffen los, sie…“, weiter kam sie nicht, denn ein weiterer Schuss halte im Wald wieder. Ole konnte hören wie einige Pflanzen laut raschelten, als die Kugel durch sie hindurch ging. Es konnten kaum zehn Meter gewesen sein, die der Schütze danebengeschossen hatte. Der Mann lachte laut. „Ich glaube nicht, dass du hier irgendetwas zu sagen hast. Als erstes legst du mal den Stock da weg und du Junge fesselst deine Tante hiermit.“ Der Wilderer überreichte Ole einen Kabelbinder. Seiner Glieder fühlten sich immer noch taub an, doch er konnte seine Hand zumindest dazu bringen, den Plastikstreifen entgegen zu nehmen. Gerade als er seinen ersten Schritt machen wollte, ertönte ein Kreischen von der Anhöhe: „Die Bullen, Torben, die Penner haben die Bullen gerufen!“ Der Mann blickte panisch zurück zum Hügel und tatsächlich konnte man in dem wenigen Licht des Mondes mehrere Gestalten ausmachen, die sich auf der Hügelkuppe bewegten. Der Wilderer namens Torben schaute kurz von Sabine zu Ole und wieder zurück, dann rannte er los, den Weg hinab. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich Ole an seine Fersen geheftet. Das taube Gefühl in seinen Beinen wich Adrenalin, während er dem Wilderer hinterher spurtete. Der sandige Weg knirschte unter den Schuhen der beiden Läufer und schnell war auch ein gleichmäßiges Keuchen zu hören. Ole schaffte es den Abstand immer weiter zu verringern, denn der Gegenwind blähte die Lederjacke des Wilderers auf wie ein Segel. Der Mann kämpfte, doch diesen Nachteil konnte er nicht ausgleichen. Nur noch fünf Schritte war sein Verfolger entfernt. Der sandige Weg verwandelte sich in einen schlammigen Pfad. Der Wilderer taumelte, als sein Fuß darin wegrutschte. Vier. Der Mann schaffte es sich wieder zu fangen, doch seine Lungenflügel brannten wie Feuer. Drei. Sein Magen stieg jetzt in den Protest der Lunge mit ein und drückte das Abendessen zurück in die Speiseröhre. Zwei. Der Mann bog von dem Pfad auf einen kleineren ab. Keine zehn Schritte später lag ein Baum quer über seinem Weg. Mit letzter Kraft schleuderte er seinen massigen Körper über den Stamm, doch sein Verfolger war flinker. Eins. Ole stand über seiner Beute auf dem Baumstamm. Aber was sollte er jetzt tun? Gerade lag der Wilderer am Boden, doch wie lange würde er da bleiben? Reichte es sich einfach nur auf ihn drauf zu setzen oder würde Ole ihm noch einige Schläge verpassen müssen? Hatte die Polizei überhaupt mitbekommen, dass da noch ein zweiter Wilderer war? All diese Fragen verschwanden aus seinem Kopf, als der Mann sich plötzlich bewegte. Ole traf seine Entscheidung blitzschnell und landete hart auf dem Rücken des keuchenden Mannes. Ein Schmerzensschrei bestätigte, dass auch dieser Oles Landung gespürt hatte, jedoch versuchte er sich nicht mehr zu wehren. Er lag einfach nur regungslos da, wartend auf sein Schicksal.
Einige Momente voll seltsamer Stille vergingen. Ole war die ganze Zeit kampfbereit, während sein Gegner einfach regungslos unter ihm lag. In dieser Zeit viel ihm Henry wieder ein. Bestürzung packte ihn. Er hatte ihm einfach den Rücken zugedreht und war auf die Jagd nach dem Verbrecher gegangen. Der Körper seines Bruders lag wahrscheinlich immer noch im Dreck und was machte er währenddessen? Ole saß einfach nur da, bewachte jemanden, der sowieso schon aufgegeben hatte. Trotzdem traute er sich nicht den Mann alleine zulassen, denn dieser war keinen Falls ausgeknockt, auch wenn er alles daran setzte so zu wirken. Stattdessen starrte er einfach in die Dunkelheit. Nach einer gefühlten Ewigkeit regte sich schließlich etwas zwischen den Blättern. Einige Beamte kamen den kleinen Pfad hinuntergetrottet. Als sie Ole sahen, lächelten sie. „Ab hier übernehmen wir.“, sagte ein junger Polizist mit einem anerkennenden Nicken. Ole erwiderte das Nicken und erhob sich. Der Wilderer regte sich kaum, während die Polizisten ihn in Handschellen steckten. Doch bevor sie fertig waren zog eine Beamtin ihn weg vom Geschehen. Ole lief schweigend neben ihr her, bis sie schließlich zurück auf dem Weg waren. Seine Tante stand an der Stelle wo Henry gelegen hatte und unterhielt sich mit einem älteren Polizisten. Seine weiße Mähne glitzerte ihm Mondschein fast magisch. Sabine entdeckte ihn als erstes. Sie kam zu ihm gerannt mit Tränen in den Augen. Sie drückte seine Brust so fest, dass Ole Schwierigkeiten hatte zu atmen. Nach einiger Zeit ließ ihn Sabine zwar aus ihrer Umarmung frei, doch presste sie ihn weiterhin an ihre Seite. Ein Arm lag um Oles Schultern, der andere schüttelte der Polizistin, die ihn zurückgebracht hatte, die Hand. Noch nie hatte sich Ole so unwohl gefühlt wie jetzt. Er war zwar müde und erschüttert, von dem was passiert war, aber er sehnte sich trotzdem nicht nach körperlicher Nähe. Viel lieber wäre er jetzt auf einen Baum geklettert. Die Baumkronen des Waldes waren immer da, bereit jedem in sich aufzunehmen, der die Fähigkeit besaß, zu ihnen hoch zu steigen. Doch das konnte er nicht machen. Seine Tante brauchte ihn hier, denn so sehr sie von außen einfach wie eine liebende Tante aussah, war sie es, die sich an Ole klammerte und nicht umgekehrt. Deswegen ließ er es über sich ergehen. Der Polizist mit den langen weißen Haaren erklärte ihnen währenddessen, dass auch die Polizei den Wilderern auf den Versen gewesen war. Der Beamte sprach sehr ruhig und freundlich, fast schon großväterlich. „Ich hoffe wir können uns auf sie beiden als Zeugen verlassen. Sie müssen wissen, es ist sehr schwierig zu beweisen, dass das Pärchen tatsächlich zusammen gehandelt hat. Mit ihrer Hilfe hätten wir aber auf jeden Fall eine Chance.“, sagte der alte Polizist. „Wir werden alles tun, um diese Schweine hinter Gitter zu bringen.“, antwortete Sabine ihm. Ole zuckte bei dem Wort „Schweine“ kurz zusammen, denn er hatte noch nie seine Tante jemanden beleidigen hören. Es hatte hin und wieder Momente gegeben, wo sie sauer gewesen war. Als Henry auf dem Spielplatz gemobbt worden war zum Beispiel. Ein komisches Gefühl überkam ihn, als er an seinen kleinen Bruder dachte. Seinen Körper hatten die Polizisten bereits weggeräumt. Einfach irgendwo verstaut. Sabine wusste anscheinend, wo Henrys Leiche war, denn sie hörte dem Beamten aufmerksam zu, anstatt sich wie Ole suchend umzublicken. Der Polizist wollte gerade ihre Personalien aufnehmen, da konnte er sich nicht mehr zurückhalten. „Was haben sie mit Henrys Körper gemacht.“, fragte er etwas feindseliger als geplant. Der Mann schaute ihn kurz überrascht an, schien dann jedoch zu verstehen und nickte verständnisvoll. Trotzdem war es Sabine, die ihm antwortete: „Ole, Henry ist auf dem Weg ins Krankenhaus.“ Jetzt war es an Ole überrascht zu sein. Warum brachten sie die Leiche seines Bruders in ein Krankenhaus? Was sollte er da. „Er lebt, Ole! Er lebt!“, erklärte seine Tante und auf ihrem tränennassen Gesicht breitete sich das altbekannte, liebevolle Lächeln aus. „Er wurde nicht von der Kugel erwischt. Es war nur das Reh, was beim Weglaufen ausgetreten hat. In ein paar Tagen ist er wohl wieder gesund.“ „Worauf warten wir dann noch. Wir müssen sofort ins Krankenhaus.“, rief Ole aufgeregt. Er befreite sich aus dem Griff seine Tante und spurtete den Weg hinunter. All der Neid auf seinen Bruder, der ihn so lange begleitet hatte, war verfolgen. Zuerst hatte Trauer seinen Platz eingenommen, aber jetzt war er frei. Freude und Liebe füllte seine Brust, während die ersten rötlichen Sonnenstrahlen den Horizont erhellten.