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Blutgier
Der Saum an Feldwebel Scharwächters Mantel flatterte, als der Wind durch den Graben pfiff. Die Wunde in seinem Bein brannte bei jedem Schritt. Eine Flamme zog durch seine Wade und hätte ihn beinahe aufschreien lassen. Verflucht sollte der Oberleutnant sein, der ihn durch den kilometerlangen Schützengraben laufen ließ! Aber so jemand würde natürlich nicht hinunter in die Stellung laufen. Viel zu gefährlich und zu anstrengend! Lieber wartete man sicher im Bunker und rauchte vielleicht noch eine Zigarette!
Fluchend duckte er sich unter einem Baumstamm hinweg, der quer über dem Graben lag. Die Luft roch nach Schnee. Lange würde der Winter nicht mehr auf sich warten lassen.
Vor ihm verengte sich der Gang, beschrieb eine Kurve und endete vor den hügeligen Ausläufern des Berges. Eine durchlöcherte Zeltplane verdeckte den Eingang zum Bunker. Er blieb stehen und gönnte seinem Bein eine kurze Ruhepause.
In der Wildnis hinter ihm grollte die Artillerie wie ein wildes Tier. Einmal hatte er geträumt, der Berg blute aus tausenden von Wunden, die ihm das Sperrfeuer zugefügt hatte. Der Gipfel hatte ausgesehen wie ein Totenschädel und war schließlich in einer Flut aus Staub und Blut zusammengestürzt. Er war aufgewacht und konnte eine halbe Stunde nicht mehr aufhören zu husten. Das war in der Nacht, als sie den zweiten Toten fanden.
Er zog den Mantel enger, schob eine Plane zur Seite und trat ein. Sofort umfing ihn die stickige Luft und der betäubende Geruch von Ersatzzigaretten. Und noch etwas anderes. War das Kölnisch Wasser? Wie lange hatte er das nicht mehr gerochen?
„Feldwebel Scharwächter?“
Er zuckte zusammen. Die einzige Beleuchtung kam von einer zerbeulten Petroleumlampe auf dem Tisch. Sie warf ein kreisrundes Licht in den Raum, die Ecken blieben dunkel. Aus einem dieser Schatten trat ein Mann hervor. Seine Konturen zeichneten sich weich in dem flackernden Licht ab. Die blonden Haare lagen pomadisiert am Kopf und seine Uniform war sauber gebügelt. Am rechten Arm trug er eine weiße Binde. Sein Gesicht war glattrasiert und jugendlich. Und dieser ekelhafte Geruch nach Kölnisch Wasser!
„Ich bin Oberleutnant Blumenthal von der geheimen Feldpolizei.“
Scharwächter sah ihn an. Geheime Feldpolizei?, dachte er.Sein Bein brannte und er schwitzte.
Der Oberleutnant verzog die dünnen Lippen. „Sind Sie stumm?“, fragte er.
„Äh... nein. Feldwebel Martin Scharwächter. Melde mich wie befohlen, Herr Oberleutnant.“ Er hatte den belegten Ton in seiner Stimme bemerkt, und verfluchte sich dafür. Vor was hatte er eigentlich Angst?
Blumenthal winkte kurz mit der rechten Hand. „Lassen wir das. Sie wissen warum ich hier bin?“
„Nein.“
Er seufzte. „Ich komme im Auftrag der obersten Heeresleitung. Meine Aufgabe ist es, die Ordnung an allen Abschnitten der Westfront aufrecht zu erhalten. Zum Zweck der Untersuchungen habe ich volle Weisungsbefugnis und Befehlsgewalt. Bei dieser...“
„Äh, Moment. Ich verstehe nicht...“
„Unterbrechen Sie mich nicht.“ Der strenge Blick in seinem jungenhaften Gesicht wirkte aufgesetzt. „Die Oberste Heeresleitung hat Grund zu der Annahme, dass es an diesem Frontabschnitt zu Fällen von Aufruhr und Meuterei gekommen ist. Diese Fälle werde ich untersuchen und die nötigen Konsequenzen ziehen. Von Ihnen erwarte ich in diesem Fall vollste Kooperation. Haben Sie Fragen?“
Scharwächter wischte sich einen Schweißtropfen aus dem Auge und bemerkte, dass er immer noch seinen Helm trug. Langsam löste er den Riemen, achtete darauf keine Barthaare mitzureißen, und nahm ihn vom Kopf.
„Von welchem Aufruhr sprechen Sie?“, sagte er in gedämpftem Tonfall. „Meine Männer erledigen ihren Dienst korrekt. Und hier ist es schon seit Jahren ruhig. Wer soll denn meutern?“
Der Oberleutnant nickte. „Glauben Sie, wir wissen das nicht? Hier passiert so gut wie gar nichts. Darum ist es umso alarmierender, wenn wir ungewöhnliche Meldungen bekommen.“
„Welche ungewöhnlichen Meldungen?“
„Sie haben Meldung an das Oberkommando gegeben, dass Sie in den letzten Monaten drei Soldaten verloren haben.“ Er kritzelte hektisch etwas auf seinen Block. Sein Füller sah sehr teuer aus. „Die Umstände bei diesen Verlusten waren etwas ... merkwürdiger Art.“
Der Feldwebel entspannte sich ein wenig. „Darum geht's? Darum sind Sie hier?“
Er klopfte auf den Block. „Wie gesagt, uns kommt bei diesen Fällen einiges seltsam vor.“
„Inwiefern?“, sagte er und ging zum Tisch. Er legte seinen Helm ab, und begann den Mantel auszuziehen.
Der Oberleutnant sah ihm zu, als hätte er ein unfolgsames Kind vor sich. „Drei Soldaten wurden ausgeweidet. Die Körperteile waren über das ganze Gelände verstreut.“ Er blickte kurz auf die Notizen. „Wenn sie überhaupt gefunden wurden. Sie halten das für völlig normal?“
Der Feldwebel faltete seinen Mantel mit ruhigen Bewegungen zusammen und legte ihn auf den Tisch. Langsam ging er auf den Vorgesetzten zu, bis ihn nur wenige Zentimeter von dem glattrasierten Gesicht trennten. Sein Blick war starr.
„Bei allem Respekt, Herr Oberleutnant. Ich war in Verdun. Und in Ypern. Ich hab' gesehen, wie Menschen lebendig verbrannt sind. Wie sie am Chlorgas erstickten und sich in die Hose geschissen haben. Und das ist der Alltag! Das ist das Gesicht dieses Krieges. Schön, dass Sie das nicht mit ansehen mussten. Aber kommen Sie jetzt nicht her, und erzählen mir wegen drei Gefallenen was von Aufruhr. Ich habe meine Truppe im Griff und wir halten hier die Stellung. Manchmal erwischt es einen, das ist so. Mag sein, dass man das im Büro nicht so sieht, aber das ist nicht meine Schuld!“ Die letzten Worte brüllte er fast. Schweiß glänzte in seinen Bartstoppeln, seine Augen funkelten. Vier Jahre Kriegserfahrung ließen sich nicht auslöschen.
Blumenthal sah den Feldwebel an. Dessen bärtiges Gesicht strahlte eine Härte aus, die man fast fühlen konnte. Ein anderer Vorgesetzter hätte bei diesem Tonfall ein Disziplinarverfahren verhängt oder den Feldwebel vielleicht sogar einsperren lassen. Wenn er es nur gekonnt hätte!
Blumenthal legte die gefalteten Hände vor den Mund. Seine Augen blickten ruhig durch die Nickelbrille. Er holte Luft. „Feldwebel Scharwächter, niemand bezweifelt Ihre Leistungen für das Vaterland. Und auch wenn Sie es nicht glauben wollen, ich habe in meiner Tätigkeit fast jeden Abschnitt dieser Front gesehen. Ich weiß, wie es aussieht, dieses Gesicht des Krieges. Und drei tote Soldaten sind sicher tragisch, aber nicht auffällig. Aber die Art, wie sie umkamen, die finden wir seltsam. Und Sie auch, geben Sie's zu.“
„Nein, finde ich nicht.“, antwortete er. Sein Tonfall war ruhig, fast lauernd.
Blumenthal atmete hörbar aus. „Sollen wir so weiter machen?“
„Nein. Es wäre besser, Sie gehen wieder.“ Er ließ ein schadenfrohes Grinsen sehen. „Hier gibt's nichts zu untersuchen. Und ich glaube, niemandem hier passt's, wenn Sie in ihrer geschleckten Uniform hier rum' schnüffeln.“ Scharwächter zog eine Zigarette aus der Brusttasche. Ein Streichholz flammte auf.
Der Oberleutnant beobachtete ihn regungslos. „Hören Sie mal!", sprach er leise, "ich bin ihr Vorgesetzter. Und wenn Sie nicht kooperieren, dann...“
„Verhaften Sie mich?“ Der Feldwebel blies den Rauch aus.
Ein Stöhnen und Kopfschütteln kam als Antwort. „Sie begreifen das nicht. Ich will hier niemandem auf die Füße treten. Und verhaften will ich hier nur einen.“
Der Feldwebel kaute auf seiner Zigarette. „Wen?“
„Den, der diese Morde begangen hat.“
Beinahe wäre ihm die Zigarette aus dem Mund gefallen. „Was? Sie...“
Blumenthal nickte unmerklich. „Ich halte diese drei Soldaten nicht für Kriegsgefallene. Meiner Ansicht nach wurden sie ermordet.“
Der Zigarettenrauch kräuselte sich an die Decke. In der Ferne hörte man kurz das Knattern von MG-Feuer.
„Feldwebel Scharwächter, es tut mir leid, wenn ich Sie beleidigt habe. Das wollte ich nicht. Alles, was ich will, ist, dass Sie in dieser Sache mit mir zusammen arbeiten.“ Er zog an seinem Kragen und sah zu Boden. „Ich brauche Sie.“
Der Feldwebel spuckte die Zigarette auf den Boden und trat sie aus. „Verraten Sie mir dann auch, wie Sie auf diesen Quatsch kommen? Sie wissen, was das ist hier ist! Hierher kommen die Verletzten und verlegte Truppen zum Ausruhen. Jeder ist froh, wenn er hier ist, und nicht irgendwo anders. Und Sie erzählen mir was von einem Mörder?“
„Nun, ich habe hier ihre Meldung an das Oberkommando“, antwortete er und fingerte ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche. „Die drei Soldaten wurden nicht sichtbar erschossen. Artillerie- und Granattreffer hat's hier schon seit Jahren nicht mehr gegeben, weil sie mittlerweile die Reichweite kennen. Was ist denn ihre Erklärung dafür?“
Scharwächter sah ihn mit glühenden Augen an. „Hunde.“
„Bitte, was?“
„Hunde. Die Franzosen haben Hunde auf uns gehetzt.“
„Warum haben Sie das nicht in den Bericht geschrieben?“, sagte er und wedelte mit dem Papier.
„Wenn ich gewusst hätte, dass mir gleich die Polizei geschickt wird, hätte ich's getan.“
.„Nun, und warum Hunde?“
Scharwächter freute sich über den enttäuschten Gesichtsausdruck seines Gegenübers. „Was weiß ich. Wir belauern uns hier seit Jahren. Jeder möchte irgendeinen Erfolg. Da probiert man mal was neues. Aber Gott sei dank haben sie nur drei erwischt. Bis jetzt, wenigstens.“
Blumenthal steckte das Papier wieder in die Tasche. „Und Sie haben diese Hunde gesehen?“
„Nein, aber...“
„Dann zeigen sie mir wenigstens die Fundorte, verdammt nochmal!“
Scharwächter schüttelte den Kopf. „Die kennen Sie doch. Stehen im Bericht. Von mir aus können Sie sich alles ansehen. Aber ich komm' nicht mit.“
Er rollte mit den Augen. „Gehen sie mit jedem so um?“
„Nein, nur mit ihnen.“
„Ich sollte Sie wirklich verhaften lassen.“
„Warum tun Sie's dann nicht?“
Einen Augenblick war es still. Dann ging Blumenthal mit schnellen Schritten an ihm vorbei. „Leck mich!“, zischte er.
„Du mich auch.“, kam als Antwort.
Er schlug die Zeltplane zur Seite und riss sie fast vom Haken. Hektisch lief er einige Meter durch den Schützengraben, bis er den Bunker nicht mehr sehen konnte. Links von ihm verschwanden die letzten blutroten Sonnenstrahlen hinter dem Berg. Seine Flanke war von Eingängen, Gräben und Unterständen überzogen, als hätten wahnsinnige Zwerge ihr Bergwerk hinein getrieben. Er schloss die Augen und zog die kalte Abendluft durch die Nase. Was für ein Bastard! Es stimmte, er konnte ihn nicht verhaften. Sein Auftrag war gewissermaßen halboffiziell. Bitter dachte er daran, wie er vor der obersten Heeresleitung hatte betteln müssen, um überhaupt hierher geschickt zu werden. Niemand glaubte an Mord. Niemand! Aber Blumenthal erkannte einen wenn er ihn sah.
Traurig blickte er in den Himmel, auf dem sich die ersten Sterne abzeichneten. Wann würde dieser elende Krieg endlich vorbei sein? In seiner Zeit bei der Bremer Polizei war er jemand gewesen. Man hatte Respekt vor ihm gehabt, und seine Arbeit geschätzt.
Jetzt hasste ihn jeder und seine einzige Aufgabe bestand darin, Deserteure aufzuspüren und zu verhaften, obwohl er sie insgeheim verstehen konnte. Und selbst wenn er hier einen Mörder überführte – Wen würde es interessieren? Ein kurzer Prozess, ein Strick, und weiter geht's. Was in Friedenszeiten monströse Verbrechen waren, wurde im Krieg zu reiner Statistik. In welch frohen Zeiten sie doch lebten!
Er sah nach oben in die undurchdringlichen Baumwipfel. Die Sonne war untergegangen und die Nacht ließ die dunklen Äste zu einer gleichförmigen schwarzen Kuppel verschmelzen. Rechts konnte er gerade noch den Bretterverschlag der Grabenwand wahrnehmen. Er fröstelte. Dieser Ort war unheimlich. Dieser arrogante Feldwebel konnte sich eine Menge einbilden auf seine tollen Kriegserfahrungen. Aber Blumenthal hatte auch seinen Teil gesehen. Er war ebenfalls in Verdun gewesen, wenn auch nur als Feldpolizist. Das Leid und der Schrecken waren ihm nicht unbekannt. Aber an keinem Ort hatte er eine solche Beklemmung gespürt. Der drohende Berg hinter ihm, der sich jeden Moment auf ihn stürzen wollte. Der ständige, fast greifbare Nebel. Und dieser schwarze, feindliche Wald, der nur darauf zu warten schien, sich für all die gefällten und niedergebrannten Bäume zu rächen. Kein Wunder, dass man auf den Bergen früher Hexen und Dämonen vermutete. Hier schrie die ganze wilde Natur: „Du bist nicht willkommen.“
Irgendwo im Wald rief ein Franzose. Die Gegenseite war nur wenige Meter von ihnen entfernt. Aber es stimmte, sie verhielten sich ruhig. An diesem Frontabschnitt verhielt sich jeder ruhig. Seitdem er angekommen war, hatte er gerade mal fünf Soldaten getroffen, Feldwebel Scharwächter eingeschlossen.
Er zog den Mantel enger und steckte die Hände in die Taschen. Es war sehr kalt geworden, sein Atem wurde in kleinen Wolken sichtbar. „Konzentrier dich! Geh alles noch mal durch! Drei Tote. Nicht erschossen. Keine Artillerie-Treffer. Der Erste ausgeweidet in einer MG-Stellung. Seitdem hat Scharwächter zwei MG-Posten eingesetzt. Der zweite Tote völlig zerstückelt zwischen den Felsen aufgefunden. Arme und Beine fehlten. Er war auf Patrouille gewesen. Und der letzte. Ohne Kopf am Rand des Grabens. Während der dienstfreien Zeit.“
Die Kälte kroch durch seine Stiefel und wanderte langsam an seinen Beinen hoch. Er schrak zusammen, als im Wald vor ihm ein Ast knackte. Franzosen? Wenn der Feldwebel nun Recht hatte mit den Hunden? Er spürte einen Klumpen im Magen und horchte. Es blieb still. Nur der Wind, der geisterhaft durch die Äste wisperte. Langsam normalisierte sich sein Herzschlag wieder. Sollte er rufen? Das wollte er lieber nicht riskieren. Vor ihm ragte der Holzwall, schmutzig, aber stabil. Dahinter nur Wald. Franzosen. Und vielleicht etwas schlimmeres?
Seine Nase lief. Er zog den Rotz hoch und drehte sich um. Er konnte nicht die ganze Nacht hier bleiben. Eilig stampfte er durch den matschigen Boden. Zum Teufel mit Scharwächter! Drei Tage Untersuchung waren genehmigt worden. Und die würde er ausnutzen. Selbst wenn er nichts herausfand, die Notizen hatte er. Und wenn der Krieg vorbei war - ja, wenn er wieder bei der Bremer Polizei war - würde er auf einer Untersuchung bestehen. Er würde diesen vorlauten Feldwebel vor ein Kriegsgericht bringen. Und er würde den Mörder finden. Niemand sollte sich zu sicher fühlen. Niemand....
Ein weiterer Ast zerbrach. Viel lauter. Und näher.
Er blieb stehen. Seine weißen Atemwolken waren jetzt größer.
Sein Blick ging nach rechts. Über die zerfurchte Bretterwand. Von dort oben konnte man jederzeit in den Graben springen. War es den drei Soldaten auch so ergangen?
Eisige Nadeln wanderten sein Rückgrat hinab. Er konnte spüren, wie sein Herz aus dem Hals springen wollte. Was war die Parole gewesen? Verdammt, warum hatte er sich das nicht gemerkt?
Noch ein Splittern. Mehrmals. Zerbrechende Äste. Kein Zweifel, aus dem Wald kam etwas auf den Schützengraben zu.
Mit zitternder Hand versuchte er den Knopf seines Pistolenholsters zu lösen. Er fluchte, als die schweißnassen Finger immer wieder abrutschten. Wo waren die Soldaten, verdammt?
Ein kehliges Knurren. Vom Rand des Grabens.
Jedes Gefühl aus seinen Armen und Beinen war verschwunden. Er war in Watte gepackt und schwebte. „Das kann nicht sein...“
Er sah nach vorne. Die kalte, nach Winter riechende Herbstluft, die raschelnden Blätter, funkelnde Sterne am Nachthimmel – Jetzt nahm er alles viel deutlicher wahr.
Kein Knurren mehr.
Er zog die Mauser aus dem Holster. Seine Hände zitterten nicht. Der Lauf der Pistole zielte nach oben. Gerade, als er rufen wollte, kam der Sprung.
Es fühlte sich an, als würden zwei Balken gegen seinen Oberkörper gestoßen. Nägel schienen sich in seine Brust zu bohren. Er verlor das Gleichgewicht und knallte mit dem Rücken gegen die hintere Wand des Grabens. Die Pistole fiel ihm aus der Hand. Sein Rückgrat wurde taub und im Knie breitete sich ein heißes Gefühl aus. Er blinzelte Tränen aus den Augen und sah nach links. Erkannte einen großen schwarzen Schemen und blinzelte nochmal. Ein Hund!
Nein, dazu war es viel zu groß. Ein dichtes schwarzes Fell bedeckte den muskulösen Körper. Die Flanken hoben und senkten sich unter den Atemzügen. Das Maul war weit geöffnet und entblößte lange, vor Speichel glänzende Zähne. Schmutzige Krallen bohrten sich in den Boden.
Blumenthal sah teilnahmslos hin. Er konnte nicht aufstehen. Es war, als hätte ihn ein Lastwagen überfahren. „Ein Wolf“, dachte er resignierend, „ein verfluchter Wolf.“
Das Tier zog die Lefzen nach oben und knurrte wieder. Es streckte den Rücken, winkelte die Hinterbeine an, und sprang erneut.
Blumenthal keuchte, als ihn die Wucht des Aufpralls traf. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst und er hatte das Gefühl zu ersticken. Sein Kopf schlug auf den Boden und er biss sich auf die Zunge. Der Geschmack von Blut breitete sich in seinem Mund aus. Der Wolf drückte ihn tiefer in den Matsch und riss die Schnauze auf. Blumenthal roch heißen, stinkenden Raubtieratem. Das Tier zog den Kopf zurück und schnappte nach dem Hals.
Blumenthal riss den linken Arm vor das Gesicht. Er spürte kurz eine feuchte Zunge, bevor der Wolf zubiss.
Der Schmerz ließ ihn fast ohnmächtig werden. Er hörte Knochen knacken und feine Blutspritzer landeten auf seinem Gesicht. Er brüllte um Hilfe. Warum war keiner der Soldaten hier? Dieser Lärm musste doch jeden aufschrecken!
Der Wolf kaute auf seinem, jetzt komplett gefühllosen, Arm. Rosafarbener Speichel tropfte hinab. Blumenthal spürte, wie sein Mageninhalt nach oben wanderte. Er drehte den Kopf zur Seite. Alles war egal. Er würde kotzen und dann sterben. Da sah er die Pistole. Es war unglaublich. Sie lag in Griffweite neben ihm. Eine unglaubliche Freude breitete sich in ihm aus. So musste sich ein Verdurstender fühlen, der in der Wüste auf eine Oase traf. In einer schnellen Bewegung zog er den Holzgriff aus dem Schlamm und drückte den Lauf gegen die Brust des Wolfs. „Lieber Gott, bitte lass sie funktionieren, bitte, bitte...“
Der Rückstoß schlug seinen rechten Ellbogen zurück. Ein ohrenbetäubender Knall schlug von den Wänden des Grabens zurück. Ein konstantes Pfeifen machte sich in seinem Gehör breit, sodass er das schmerzerfüllte Jaulen des Wolfes nur erahnen konnte. Er hatte den Arm losgelassen und Speichelfäden hingen zwischen seinem Maul. In dem Fell auf seiner Brust glänzte etwas. Das Blut wirkte in der Dunkelheit fast schwarz. Er hob den Kopf und jaulte wieder.
Blumenthal hob den Arm und zielte mit der Pistole auf den Kopf des Wolfs. Da hörte er zu jaulen auf und sah ihn an. Die gelben Augen blickten direkt in Blumenthals Gesicht. Hass strahlte aus diesen funkelnden Pupillen. Und noch etwas. Trauer?
Der Wolf knurrte kurz, fletschte die Zähne und sprang dann mit einem einzigen Satz auf den Rand des Schützengrabens. Blut tropfte aus seiner Brust auf den hölzernen Wall. Blumenthal schoss ein weiteres Mal, traf aber nur die Balken unter den Sandsäcken. Splitter flogen zur Seite. Ein weiterer Sprung genügte, und das schwarze Fell des Wolfs war mit dem dunklen Wald verschmolzen.
Blumenthal lag halb aufgerichtet auf dem Boden, den rechten Arm mit der Pistole immer noch ausgestreckt. Der andere Arm lag auf seiner Brust. Er sah aus wie ein Stück zerkautes Fleisch. Warmes Blut tränkte die Vorderseite seiner Uniform. In seinem Mund schmeckte er Blut und Magensäure. Er spuckte aus und würgte. Die Grabenwände umschlossen ihn wie ein Sarg. Er sah nach links, dann nach rechts. Jeden Moment würden die Soldaten auftauchen, und ihn ins Lazarett bringen. Den Lärm und die Schüsse konnte niemand überhört haben!
Er ließ den rechten Arm sinken, ohne die Umklammerung vom Pistolengriff zu lösen. Den Kopf ließ er fallen, sodass er flach am Boden lag. Was war hier nur los? Tollwütige Wölfe in den Wäldern? Oder von den Franzosen abgerichtet? Er hatte gewusst, dass ihn sein Instinkt nicht getäuscht hatte. Hier stimmte etwas nicht.
Er hob den Kopf. Warum zur Hölle kam niemand? Hier waren hunderte von Soldaten stationiert!
„He!“, schrie er, „Ich bin verletzt! Alarm!“
Die Antwort war französisch. Er hörte hektisches Rufen von der anderen Frontseite und plötzlich wurde die Stille von Gewehr- und MG-Feuer zerrissen.
„Na, wunderbar!“, stöhnte er. Er sah nach rechts. Einige hundert Meter entfernt musste sich der Bunker befinden. Er schrie so laut, dass sich seine Stimme überschlug. „Feldwebel Scharwächter! Verdammt, kommen sie heraus. Die Franzosen greifen an!“
Kugeln schlugen mit einem klatschenden Geräusch in die Sandsackreihe am Rand des Grabens.
Das konnte nicht sein! Hier neben ihm müsste längst alles voller Männer stehen, die das Feuer erwiderten. Wo waren sie alle? Warum reagierte niemand auf sein Rufen? Und wo war dieser Drecksack von einem Feldwebel? Der hockte in seinem Bunker und scherte sich um nichts! Nicht um den Angriff der Franzosen, nicht um seine Männer und nicht um Scheißwölfe aus dem Wald!
Aus einiger Entfernung konnte er das Heulen eines Mörsers hören. Ob von französischer oder deutscher Seite, war nicht zu erkennen.
Er musst zum Bunker. Was blieb ihm anderes übrig?
Er presste den rechten Arm in den Boden und richtete den Oberkörper auf. Langsam winkelte er den rechten Fuß an und zog sich mit der Hand an einem der Bretter hoch. Den linken zerfleischten Arm presste er weiter fest gegen die Brust. Gebückt humpelte er in Richtung des Bunkers. Mehrmals musste er pausieren, als der Schmerz im linken Knie und Arm übermächtig wurde. Als er seinen Kopf gegen einen Balken stützte, bemerkte er, dass die Schüsse der Franzosen langsam abklangen. Kein Wunder, schließlich erhielten sie überhaupt kein Gegenfeuer. Die ganze deutsche Frontseite schien komplett verlassen zu sein. Er war allein. Er wollte weinen. Weinen wie ein kleines Kind. „Bin ich tot? Ist das die Hölle?“ Der Schmerz fuhr erneut durch sein Knie und riss ihn aus seinen Gedanken. „Nur noch ein wenig. Ich bin gleich da.“ Sein Mund war trocken und er hatte schrecklichen Durst. Da sah er die Zeltplane vor dem Eingang des Bunkers. Gott sei Dank!
„Scharwächter!“ schrie er. Sollten doch die Franzosen wieder zu schießen beginnen, es war ihm egal. Er wollte nur diesen Feldwebel umbringen, dem scheinbar alles egal war. „Scharwächter, verdammt! Was treiben sie da eigentlich?“ Zwischen den Spalten der Plane leuchtete gelbes Licht. Er schlug die Plane zurück. „Sie sind ein Arschloch! Wissen sie was...“ Er blieb stehen.
Die Petroleumlampe war fast niedergebrannt. Ein Stuhl war umgestoßen worden. Unter dem Tisch lag der Feldwebel. Er war nackt und hatte sich in Fötusstellung zusammengerollt. In seiner Brust klaffte eine große Wunde, aus der Blut auf den Boden sickerte. Eine rote Pfütze hatte sich um seinen Körper gebildet.
Blumenthal schleppte sich näher heran. „Scharwächter, was...“
Der Kopf des Feldwebels hob sich ruckartig. Seine Augen waren trüb. Und Blumenthal wurde schlagartig klar, wo er diese Augen schon mal gesehen hatte.
Scharwächter stöhnte. „Ich hätte sie gleich töten sollen.“
„Wovon reden sie?“
„Tun sie nicht so. Ich hab's in ihrem Gesicht gesehen. Sie wissen, dass ich der Wolf bin.“
„Sie? Der Wolf? Aber...“
Ein dünnes Rinnsal Blut lief aus Scharwächters Mund. „Ich war nicht der erste. Sie sind hier schon so lange in diesem verfluchten Wald.“
„Wer? Wer ist hier?“
„Tiere. Menschen. Ah, ich weiß nicht. Manche können's kontrollieren. So einer bin ich geworden. Die anderen... Sie sind viel wilder. Die haben die drei von uns geholt. Ansonsten haben wir uns nur bei den Franzosen bedient.“
Blumenthals Brille beschlug. „Von was sprechen sie? Was ist hier los?
Scharwächter packte seinen Fuß. Seine Augen wirkten kurz etwas wacher. „Die Wölfe! Wenn man's kontrollieren kann, ist es wunderbar. Es macht einen so stark! Die wilden sind sogar noch stärker. Aber die wollen nur Blut. Sie töten alles.“ Er hustete und spuckte Blut auf den Boden. Erschöpft legte er den Kopf ab. „Weiß nicht, was sie mit ihnen machen wern'. Sie sind ein kluger Mann. So jemand' brauchen sie. Aber wenn sie 'n' wilder wern'... Sie... sind...“ Er sog die Luft in einem langen rasselnden Atemzug ein. Die Augen starrten zur Decke. Er war tot.
Blumenthal sah noch eine Weile auf den nackten Leichnam hinab und drehte sich dann um. Was sollte das mit den Wölfen? Von was hatte er gesprochen? Das Gestammel eines Sterbenden? Aber... Er zog die Plane zurück und erstarrte.
Sie standen vor dem Bunker. Dicht an dicht, ihre schwarzen Felle bildeten ein einziges Meer. Und leuchtende gelbe Augen wohin man sah.