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Blutengel
Marianne wird nicht verstehen, was in Halle 5 geschehen ist.
Mein Unterkiefer zittert. Langes Schweigen zwischen uns. Ich warte auf den geeigneten Zeitpunkt. Vielleicht fühle ich mich danach besser. Sie sitzt starr auf ihrem Stuhl. Neben Isabell. Wie mir fehlen ihr die Worte. Ihre Augen geweitet, fixiert auf mich. Sie wartet darauf, dass ich ihr gestehe, dass ich irgendetwas sage. Oder dass ich Isabell auf den Arm nehme und aus der Wohnung verschwinde. Henry, fleht sie stumm.
Das Licht ist gedimmt. Auf dem Tisch liegt eine Zeitung. Ich kann die Schlagzeilen nicht erkennen. Sie sind verschwommen, die Buchstaben aufgequollen. Habe ich meinen Kaffee verschüttet? Nein. Die Tasse steht vor mir, warm gegen meine Hand. Geruch von frisch gemahlenen Bohnen. Dampf steigt auf. Im Licht der nackten Glühbirne sieht er aus wie der Nebel vor dem reifbeschlagenen Fenster. Dunst in meinem Kopf. Primakov im Kaffee.
Was hat Isabell von sich gegeben? Da war doch ein Geräusch. Isabell ist meine Tochter. Bei ihr bin ich mir sicher, dass sie mich liebt. Ich habe es nicht richtig gehört, weil ich mich nicht konzentriert habe. Wenn sie auf sich aufmerksam machen wollte, muss es wichtig sein. Woran habe ich gedacht? An Halle 5? Ich muss endlich den Knebel in meinem Mund loswerden.
Mir ist kalt. Mein Atem geht in Wolken. Nein, es ist nur der Kaffee. So kalt ist es nicht. Das Fenster ist zu, ich kann den Nebel dahinter sehen. Regungsloses Grau. Das gelbliche Rund einer Straßenlampe verleiht ihm ein Gesicht. Geduldig wartet die Nacht auf meine Beichte. Das Grau hinter dem Fenster schleicht sich in den Raum. Die Birne über mir knackt. Für einen Moment sitze ich im Dunkeln. Stromausfall. Dann wird’s wieder hell. Nur langsam und zögernd kehrt das Licht zurück.
Vielleicht kann ich ihr nur in diesem dunstigen Halblicht erklären, was mir fehlt. Vielleicht fällt es mir leichter, weil mein Gesicht jetzt versteckt ist. Aber deswegen fürchtet sie sich. Weil ich mir den Schmerz und die Dunkelheit wie eine Kapuze über den Kopf gezogen hab. Ich glaube, wenn ich es ihr sage, hat sie weniger Angst.
Schatten an den Wänden. Die Bilder sind gähnende Rechtecke, die mich in die Irre führen. Sie sind Tunnel in meinem Kopf, alle enden in dieser Nacht, an diesem Tisch, in diesem Moment. Die Tür zur Küche ist angelehnt. Tropfender Wasserhahn. Plitsch. Sag etwas. Platsch. Sag nichts.
Ich muss es ihr jetzt sagen!
Wir haben keine Lampe mit Dimmer. Wieso ist das Licht so gedimmt? Ich sitz am Tisch und lade den Revolver. Er gehörte meinem Vater. Ein alter Sechsschüsser. Die Trommel ist ausgeschwenkt. Patronen liegen auf der gefalteten Zeitung. Sechs Patronen und meine Finger greifen nach der zweiten. Schlagzeile: Aktivisten malen blutigen Engel an Schweinemastbetrieb. Ich schiebe die Patrone zur ersten in die Trommel. Niemand sagt etwas. Ich greife nach der dritten Patrone. Meine Finger zittern.
Halt! Stopp! Ich rühre Zuckerwürfel in meinen Kaffee! Es ist nur der Zucker und ein Löffel und die Tasse mit der Schnauze wo draufsteht: Ich hab den saucoolsten Dad der Welt. Marianne hat gefragt, wo ich die her hab. Ich weiß nicht wieso, denn Isabell hat sie mir zu Weihnachten geschenkt.
Ich muss an all die Jahre vorher denken. Mich erfüllt eine kalt pochende Leere. Rote Blitze hinter meiner Stirn, verzerrte Irrlichter in der Finsternis. Zäh fließt die Zeit dahin. Mündet in einen See aus schwarzem Eis, bildet Schichten aus gefrorenem Schmutz. Diese Jahre sind in mir ausgeblutet und erstarrt. Wie die Schweine, die ich mit dem Bolzengerät erschoss.
Ich hab meine Familie an Heiligabend nicht getötet. Auch an keinem anderen Tag. So einer bin ich nicht. Das bringe ich nicht mal in meiner Vorstellung übers Herz. Obwohl ich mein Hirn schon auf der Tapete kleben sah. Stattdessen bin ich losgefahren, zur Tankstelle an der A5. Den Revolver hab ich im Safe im Schlafzimmer gelassen. Manchmal, wenn ich wach neben Marianne im Bett lag, hoffte ich, sie würde sich zu mir drehen und mich nach der Kombination fragen, um all dem ein Ende zu bereiten.
Die Zeitung les ich noch. Die heutige Ausgabe liegt neben mir auf dem Beifahrersitz und flattert wie ein toter Vogel im Wind. Ich hab das Fenster einen Spalt heruntergekurbelt, weil ich mich selbst nicht riechen kann, weil ich nach der Vergangenheit stinke.
Mariannes Eltern wohnen im Kaff auf dem Land. Lange Strecke über schlecht beleuchtete Straßen. Vereinzelt Häuser wie fallengelassene Bauklötze in der Nacht. Vor mir der Wald. Ich fahre hinein. Schwerbeladene Äste schaben übers Dach. Scheinwerfer kämpfen gegen die verschneite Dunkelheit. Schneiden Schneisen durch die dicht stehenden Tannen. In ihrem Licht meine Gedanken. Alles wird gut. Ruhig Blut. Sie wird da sein, hat dich vermisst.
Die Reifen rutschen und quietschen auf dem spiegelglatten Untergrund. Schneeverwehungen reißen am Steuer. Muss langsam fahren. Bin vorhin schon ins Feld geschlittert. Ich spüre eine unsichtbare Kraft, die mich davon abhalten will, mein Ziel zu erreichen. Weihnachten bei den Schwiegereltern. Wenn ich nicht so ein Unmensch wär, hätt ich den Revolver mitgebracht.
Wenn Muttersäue pissen, stellen sich die Ferkel drunter. Sie können sich sonst nirgends baden. Mir hat mal einer erzählt, er habe beim Wichsen an die Besamung von Schweinen gedacht. Ob das abartig sei, hat er gefragt und sein Lachen staute sich im verqualmten Pausenraum. Später hat er ein Ferkel zertreten und mit dem Blut an seinen Stiefeln einen Engel in den Schnee gemalt.
Eine Muttersau bläht quiekend und grunzend den Rüssel, wenn man sie in die Flanke tritt. Man macht das, um die toten Ferkel unter ihr hervorzuziehen. Und wenn sie mit ihren roten Schweineaugen beobachtet, wie man ihre Kinder in einen stinkenden Plastikeimer wirft, zu all den Innereien und dem Kot, versucht sie aufzustehen, obwohl sie das nicht kann. Jedes Gatter ist stärker als der höchste Wille. Dieses Gatter ist meine Macht. Weil ich schon so lange darin gefangen bin, weiß ich es mir zu Nutzen zu machen. Gleichzeitig ist es mein Untergang. Während ich darauf warte, eines Tages selbst zur Schlachtbank geführt zu werden, hoffe ich, du vergibst mir, Isabell.
Seit ich aus dem Knast raus bin, kommt die Erinnerung bruchstückhaft zurück. Ein Nervengift. Schlimmer noch als Alkohol. Habe jemanden zum Krüppel geschlagen, damals bei dieser Tankstelle an der A5. Wollte nur meinen Primakov. Der andere den Streit. Wieso ich ihn halb tot geprügelt und getreten hab, kann ich nicht sagen. Da bleibt ein schwarzer Fleck. Vielleicht habe ich es aus Selbstschutz verdrängt. Oder gerade deswegen getan.
Der Haftantritt war die Hölle. Nach knapp zehn Stunden verlegten sie mich in den Krankentrakt. Ununterbrochen Kotzen und Schüttelfrost. Der Primakov und der Mief von Halle 5 siechten mir aus den Poren und vergifteten das Zimmer. Das Fenster trotz eisiger Temperaturen stets gekippt. Wenn jemand nach mir sah – immer mit Maske. Meinen Bettnachbarn mussten sie verlegen. Konnte nur meinen Kopf von der Bettkante hängen lassen. Würgte all den Hass und die Wut und die erstarrten Jahre in einen Eimer, bis lediglich erlösende Apathie übrigblieb.
Ich bekam Druckstellen vom Rumliegen. Jeden Tag warfen sie mir ein Tupperware Tabletten in den Rachen. Sobald ich wieder gehen konnte, schob ich diesen Tropf mit mir rum, dessen quietschende Räder mir den Schädel mit einer Kreissäge spalteten. Marianne hat mich besucht, aber Isabell war nie dabei. Jedes Mal dachte ich, es sei das letzte Mal, weil sie weinte und schrie und mich verfluchte und mit der Faust gegen das Glas zwischen uns donnerte. Ein dumpfes Gewitter, das weit entfernt vorüberzog.
Nach meinem Umzug in den Hauptflügel ist alles beim selben geblieben. Zurück in eine Welt aus Stahl, Gitter und Beton. Eingesperrt in einem Meer aus Gestank, den mein widerlicher Zellennachbar absonderte. Sein Schnarchen klang wie das Quieken der Schweine und erfüllte den Trakt. Am liebsten hätte ich ihn abgestochen oder einen Bolzen durch den Schädel gejagt. Mit anderen Worten: Obwohl mein Kopf endlich leer war, suchten die Erinnerungen an Halle 5 mich immer noch heim.
Ein entscheidender Unterschied existierte. Trotz meines Stumpfsinns fühlte ich im Innersten plötzlich eine bizarre Fröhlichkeit. Während der Knastbesuche konnte auch Marianne ihre Gefühle offener ausdrücken. Wir mussten uns nichts mehr vorspielen. Ich lernte ganz neue Seiten an ihr kennen. Nie hätte ich gedacht, dass etwas so Simples wie ein Trennglas ausreicht, um uns näher zusammenzubringen.
Nach ein paar Monaten fühlte ich mich wohl. Zuhause. Eingesperrt und trotzdem befreit. Bis sich an Heiligabend mein Zellennachbar die Pulsadern aufbiss und eine blutige Weihnachtskrippe an die Wand schmierte. Er machte einen Riesenaufstand, sobald die Wärter ihn packten, um ihm eine Beruhigungsspritze zu verpassen.
„Hey, Henry, vergiss den Engel nicht“, schrie er. „Du musst doch noch den Engel malen!“
Irgendwann erstarb sein Gezeter und sie schleiften ihn wie einen nassen Sack an meiner Zellentür vorbei. Hab ihn nie wieder gesehen. Nur seine Worte hallten nächtelang durch den Trakt, als wäre sein Geist bei mir in der Zelle geblieben.
Drei verdammte Jahre lang hat Marianne mich besucht, in unregelmäßigen Abständen. Sie konnte mich einfach nicht vergessen. Ich sagte ihr, wenn ich rauskomme, dann hab ich mich verändert, bin hier drin ein anderer geworden, ruhiger, besonnener, das wirst du schon sehen. Du brauchst dich nicht sorgen, Primakov gibt’s hier keinen. Etwas Geld liegt für dich auf der Bank. Nimm es und sieh zu, dass aus Isabell was wird. Sie geht doch bald in die Lehre bei diesem Anwalt. Schreibkraft. Sie wird bestimmt die Zusage erhalten, trotz Sonderschule und allem. Ich hab den beschissensten Anwalt der Welt. Schau, dass wenigstens sie einen besseren abbekommt.
Nach ein paar Wochen oder Monaten erzählte sie mir unter Tränen, dass Isabell bei eben jenem Anwalt die Stelle bekommen hätte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie es nur sagte, um mich zum Schweigen zu bringen. Bald hielt ich es nicht mehr aus. Wut und Ungewissheit trieben mich erneut über die Schmerzgrenze.
„Nimm verfickt nochmal die Kohle und verpiss dich!“, habe ich getobt, bis mir die Wärter den Taser an den Hals setzten. „Vergiss mich endlich und beginn ein anständiges Leben!“ Oder ich flüsterte tonlos in die Sprechmuschel. „Ich bin nur der schlechte Knecht. Ich töte Tiere für Geld und meine Familie für nichts.“
In meiner Zelle ein kleiner Spiegel. Mein steinernes Gesicht hing mir zum Hals raus. Vergrub mich in den Ecken meines Bewusstseins. Habe vergessen, wie ich aussehe. Vergessen, wer meine Frau ist. Marianne nur ein Schemen hinter zerkratztem Glas. Unsere Gespräche fühlten sich an, als hätte ich sie geträumt. Einen Monat vor meiner Entlassung, in einem seltenen, klaren Moment, ließ sie die Überraschung platzen.
„Wenn du draußen bist“, sagte sie, „essen wir bei meinen Eltern. Sie haben uns zu Heiligabend eingeladen.“
„Was?“
„Ich hab mich mit ihnen versöhnt. Hab ich dir schon erzählt. Sie haben mir doch die Therapie bezahlt.“
Sie klang stolz.
„Du bist clean“, erwiderte ich, als wäre alles so einfach.
„Schau, dass du dir vorher wenigstens die Haare bürstest und ein ordentliches Hemd anziehst. Sie wissen nicht, dass du im Loch sitzt.“
„Wo ist Isabell? Wieso hat sie mich nie besucht?“
Einen Moment lang schämte ich mich dafür, dass sie mir tatsächlich geglaubt hatte. Doch mir wurde bewusst, wie naiv die Menschen sind. Blind suchen sie nach Gleichversehrten. Marianne blieb bestimmt nicht aus Liebe bei mir. Auch nicht wegen Isabell. Sie blieb, weil der Primakov ein unzertrennliches Band zwischen uns gewebt hatte. In mir spiegelte sich der Trost des Deliriums, den sie so sehr hasste und gleichzeitig vermisste. Etwas Süßes, in das man nur noch in Erinnerung beißt, da der Zahn längst abgefault ist. Und sie blieb, weil die Erfahrungen von Sucht und Entzug aus meinem Gesicht sprachen, wie ein verständnisvoller Freund.
Die letzten Tage im Knast dachte ich nur an Isabell. Daran, was ich während der letzten Spätschicht in Halle 5 getan habe. Marianne und ich konnten ja selbst nie Kinder kriegen und dann kam ich mit diesem wunderschönen Mädchen aus der Nacht zurück. Veränderung macht Angst. Niemand weiß das besser als ich.
Seit fünf Tagen bin ich draußen. Fühlt sich an wie ein Jahr. Die Freiheit so eng wie meine Zelle, wenn nicht enger. Das Gefängnis gleichförmiger Gedanken ist ohne Mauern und ohne Tür. Wir haben telefoniert. Marianne hat mir nachdrücklich versichert, dass Isabell da sein wird und den Standort geschickt. In mir nagt die düstere Vorahnung, dass sie unser Mädchen immer noch nicht akzeptiert hat. Bin einen dreijährigen Marathon gelaufen, nur um wieder bei der Startlinie herauszukommen.
Ich sitze im Auto. Der Motor keucht. Ein zerlöchertes Schild im Licht der Scheinwerfer. Auffahrt A5. Jemand hat in Rot einen Engel darauf gemalt. Die Farbe ist über den Posten hinuntergelaufen und festgefroren. Habe ich mich verfahren? Weiß nicht, wo ich bin. Es kann nicht mehr weit sein. Sie warten auf mich. Im Schneetreiben die verzerrten Lichter einer Ortschaft. Ein Scheinwerfer, der sich in Myriaden Eiskristallen bricht. Der Wagen schlittert durch endlose Schwärze. Verschwindet im Tunnel, im Loch in meinem Kopf.
Ich parke unweit der verschneiten Zapfsäulen. Die Beleuchtung der Tankstelle – ein Trugbild! Wabernd und fließend im Zentrum der Nacht. An der Überdachung hängen armlange Eiszapfen. Das gelbrote Logo mit der Muschel schief, das S des Schriftzugs abgefallen und nirgends zu sehen. Ich würge den Motor ab und trete in die Umarmung der Kälte. Nadelstiche perforieren das Gesicht. Ziehe die Kapuze meines Carhartt-Parkas nach oben. In meinem Magen schon die verheißende Wärme des Primakov. Mir ist übel, in den Gedärmen ein Ziehen und Rumoren.
Die Klingel über der Ladentür bimmelt, als ich eintrete. Stampfe mit den Stiefeln auf dem Abtreter. Im Innern riecht es nach Tabak und Scheuermittel und noch etwas anderem. Stechend und scharf. Hinter der Theke sitzt ein Junge mit Brille, mustert mich müde und desinteressiert. Über ihm eine Laufanzeige. Saumäßig günstige Preise, nur bei uns!
Ich such mir einen Weg zwischen den Regalen. Die Heizung taut meine Nase und die Wangen. Ein wohltuender Schmerz. Chipstüten und Sandwiches in den Auslagen, so weit das Auge reicht. Ein Irrgarten aus Snacks. Wo sind die Getränke? In der Ecke des Ladens steht ein Kühlschrank, der leise brummt. Daneben der Alkohol. Zögernd gehe ich hinüber. Der Junge liest ein Buch. Den Titel kann ich nicht erkennen. Er zerläuft zwischen seinen dünnen Fingern, tropft an ihnen hinab. Druckerschwärze bildet Flecken auf der Theke.
Ich stehe vor dem Regal und suche nach dem Primakov. Zuunterst steht eine letzte Flasche. „Sehr beliebt“, sagt der Junge in meinen Rücken und ich fahre zusammen. Lasse die Flasche beinahe fallen. Dann drehe ich mich um. Er hat sein Buch zugeklappt und schaut mich an. Lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Die Augen gerötet. Wortlos stelle ich den Primakov vor ihn und fische die Geldbörse mit klammen Fingern. Schaue ihn nicht an, mein Blick auf dem Buch.
„Wo Engel sterben“, sagt er und lacht. Ich verstehe nicht. „Das Buch“, sagt er. Ich nicke. Lege Achtfünfzig neben dran. Er zählt ab und sagt: „Wünsch Ihnen noch 'ne Weihnacht und so.“
Ich will mich danklos abwenden, da bimmelt die Türklingel. Höre, wie schwere Stiefel abgeklopft werden. Im Spiegel hinter dem Jungen schwimmt die digitale Anzeige der Benzinpreise. Rot verwischte Ziffern. 23,58 pro Liter. Keine Preise. Die Zeit! In diesem Moment springen sämtliche Zahlen auf 59. Ich bin viel zu spät! Mein Name ist Henry und ich bin der beschissenste Vater der Welt. Ob Heiligabend, im Knast oder nicht.
Im Spiegel bin ich nur ein unerkennbarer Schatten. Die Produkte in den Regalen haben sich verändert. Revolver hängen an Abzugsbügeln. Daneben stapeln sich Säcke mit Mastfutter. Katheter für die Schweinebesamung. Tassen mit Sprüchen. Da ist auch eine mit einer Schnauze. Eine Träne rinnt mir über die Wange, versickert im Bart.
Dann geht alles sehr schnell. Der Junge duckt sich hinter die Theke. Jemand schlägt mir in die Nieren. Mir bleibt die Luft weg. Hiebe in den Rücken. Wie Messerstiche zwischen die Schulterblätter. Ich kann nichts tun. Will nichts tun. Den Primakov press ich an mich. Mein Körper wird herumgeschleudert. Vor mir steht ein Mann, Dunkelheit unter der Kapuze. Bevor er erneut zuschlägt und etwas in meinem Gesicht zerbricht, erkenne ich den Rüssel einer Schweinemaske und das Carhartt-Logo auf seinem dunkelgrünen Parka.
Stolpernd stoße ich die Ladentür auf. Schleppe mich über den dunklen Parkplatz Richtung Bäume. Höre den anderen schwer schnaufen, seine knirschenden Schritte ganz nah. Stütze mich am geparkten Wagen ab, die Scheinwerfer hab ich brennen lassen. In ihrem Lichtkegel kämpfe ich mich vorwärts, mein Körper plötzlich schwer und federleicht zugleich. Eine Hand in die Seite gepresst, die andere berührt beinah den Boden. Er tritt mir die Beine weg und ich breche zusammen. Warte darauf, dass mich die Schwärze der Nacht verschluckt. Aber da sind nur seine Stiefel und meine schreiende Schuld.
Irgendwann hört er auf. In meinen Ohren das Plätschern eines Baches. Statisches Rauschen in meinem Kopf. Das Grunzen der Schweine. Steck kopfüber im Gatter drin. In meinem Mund der Geschmack von Blut, die Kleidung nass davon. Friert an meiner Haut fest. Quer auf meiner Brust die Flasche Primakov. Wird langsam zugeschneit.
Isabell! Isabell! Wo bist du? Meine Hand tastet durch den Schnee. Findet dich. Um uns spüre ich die Körper der toten Ferkel. Ich denk an drei Jahre Knast, einen Sechsschüsser und an die Geburt in Halle 5. Streck Arme und Beine durch die Gitterstäbe, bewege sie hin und her. Ein verzweifeltes Kind, das am Laufstall zerrt. Und ich zeichne einen Engel, Rot auf Weiß, den Letzten, nur für dich. Fröhliche Weihnacht, meine geliebte Isabell.