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Blumenwiese
Regen trommelte gegen die Fensterscheibe, während Kati ihr Lieblingsbuch zuklappte. Wieder war sie vorbei. Ihre Reise in eine andere Realität, die so viel schöner war, als die Wirklichkeit. Sie stellte ihr Krankenbett noch etwas höher und blickte hinaus in den grauen Tag. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie zuletzt in der Sonne gespielt, oder ihre Freunde gesehen hatte. Seit Monaten war sie in diesem Krankenzimmer eingesperrt. Dazu kam, dass sie nur von wenigen besucht wurde. Eigentlich nur von ihren Eltern, da jeder andere ein zu hohes Gesundheitsrisiko für sie wäre.
Sie griff nach dem Beistelltisch. Obwohl er leichtgängige Rollen hatte, war es anstrengend für sie, ihn heranzuziehen. Die lange Bettruhe tat ihren Muskeln nicht gut. Ihre Arme waren kaum mehr als Knochen. Genau wie der Rest ihres Körpers. Wenn sie sich im Spiegel sah, erkannte sie sich selbst kaum wieder. Inzwischen hatte sie den Spiegel im Bad mit einem Tuch abhängen lassen. Sie konnte ihren Anblick nicht mehr ertragen.
Endlich schaffte sie es, den Tisch an sich zu ziehen. Langsam zog sie eine der Schubladen auf. Sie war randvoll mit den verschiedensten Büchern. Von Fantasy bis zu Abenteuergeschichten gab es alles, wobei sie ihre Fantasygeschichten am meisten liebte. Die Vorstellung einer anderen Welt lenkte sie von den Schmerzen ab. Aber auch von den bösen Gedanken, die immer häufiger in ihrem Kopf kreisten.
Sie wühlte einen Moment in ihrer ‚Schatzkiste‘, bis sie feststellen musste, dass sie bereits alle Bücher gelesen hatte. Auch die Schachtel mit ihren Hörbüchern bot nichts Neues. Sie seufzte und blickte zur Uhr, die unaufhörlich tickte. Was sollte sie machen?
Nach einer Weile schaltete sie den Fernseher an, doch es lief nichts Interessantes. Auch die Mediathek auf ihrem kleinen Laptop konnte sie nicht begeistern. Sie wollte unbedingt lesen, doch solange ihre Eltern nicht wiederkamen, konnte sie sich keine neuen Bücher bestellen.
Traurig blickte sie zum Fenster. Inzwischen war es dunkel geworden. Nur die Nachttischlampe spendete noch etwas Licht. Ein Gefühl der Einsamkeit kroch in ihr hoch, schnürte ihr die Kehle zu. Sie wollte mit jemanden reden, um diese Dunkelheit zu verdrängen, die sie zu verschlingen drohte. Am liebsten hätte sie nach einer Krankenschwester geklingelt, aber sie konnte nicht ständig verlangen, dass jemand kam, um ihr die Hand zu halten.
Es wurde immer kälter im Zimmer. Sie wusste, dass es nur die Angst war, trotzdem verkroch sie sich unter der Decke, die genauso nach Desinfektionsmittel roch, wie der Rest des Zimmers. Wie sie diesen Geruch hasste, genau wie das leise Summen der Überwachungsgeräte oder die weiße Farbe der Wand. Sie war in einer Kinderklinik. Warum gab es keine Farbe? Sie war sicher nicht die Einzige, der das guttun würde. Mit einem Seufzer schloss sie die Augen und rollte sich unter der Decke zu einer Kugel zusammen, versuchte, an etwas anderes zu denken, als an die Dinge, die ihr so viel Angst machten. Egal, wie schwer es ihr fiel.
Ganz unverhofft tauchte das Bild einer Blumenwiese vor ihrem geistigen Auge auf. Sie strahlte in den verschiedensten Farben, von Gelb zu Grün bis hin zu Violett. Schmetterlinge tanzten von einer Blüte zur nächsten, während bunte Vögel, am blauen Himmel flogen. Das Herz des Mädchens, machte einen kleinen Sprung. Kein Weiß, wo auch immer sie hinsah. Doch war die Wiese nicht etwas zu leer? Sie begann an ihre Freunde zu denken, die sie schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Lachend lief sie ihnen entgegen. Sie merkte, dass ihr Körper nicht länger krank war. Sie lief schneller und schneller, um ihre allerbeste Freundin in die Arme zu springen.
„Da bist du ja!“, rief sie. „Wie geht’s dir?“
„Besser“, sagte Kati begeistert. Sie blickte zu ihren anderen Freunden und fiel ihnen ebenfalls in die Arme. „Was wollen wir als erstes tun?“
„Dort drüben ist ein Tor. Wollen wir nachsehen, was dahinter ist?“, fragte Lea, ihre beste Freundin.
Die anderen nickten auffordernd, warteten jedoch darauf, was sie sagen würde. „Lass uns Abenteuer erleben!“ Sie gab ihren Freunden einen Wink und schritt mit Lea durch das Tor. Vor ihnen öffnete sich eine ganz neue Welt. Blumen so hoch wie Häuser, ragten in dem türkisenen Himmel empor.
„Was das wohl für eine Welt ist?“, fragte Lea.
„Das Land der Monster“, schlug Timo vor, der nun mit Nina das Tor hinter sich ließ.
„Nein. Der Garten eines Riesen“, sagte Nina.
„Oder vielleicht doch das Land der Feen?“, fragte Lea.
Sie lachten und fingen an den ‚Zauberwald‘ zu erkunden. Alles war farbenfroh und Kati musste nicht mehr an das kalte Krankenzimmer denken. Sie fühlte sich leicht und glücklich.
Allmählich setzte die Dämmerung ein. Gemeinsam gingen die Freunde durch das Tor zurück auf die wunderschöne Blumenwiese. Dort warteten schon Katis Eltern. Ihre Mutter breitete eine Decke aus, während ihr Vater einen kleinen Grill anfachte. Ihr Bruder saß im Schneidersitz daneben und blätterte in einem Buch. Er lächelte, als sie zu ihnen kamen.
„Na, was habt ihr dieses Mal entdeckt?“, fragte er.
„Ein fremdes Land, in dem die Blumen so hoch sind wie Häuser“, sagte Kati begeistert.
„Das hätte ich ja gern gesehen.“
„Komm beim nächsten Mal mit!“
„Ich glaube, das ist nichts mehr für mich.“ Er lächelte milde.
Kati setzte sich neben ihren Bruder. Ihre Freunde verteilten sich auf der Picknickdecke.
„Ihr habt ihr Hunger?“ fragte Katis Mutter.
„Na klar!“, riefen alle im Chor.
„Dann werde ich mich beeilen“, sagte ihr Vater. Nur einen kurzen Moment später hörte Kati ein Bellen hinter sich. Als sie sich umsah, erblickte sie ihren geliebten Hund, der wie ein Wirbelwind auf sie zugerannt kam. Sie breitete ihre Arme aus und ließ sich von ihm ausgiebig abschlecken. Gelöst lachte sie auf und wuschelte durch sein dichtes Fell. Jetzt war alles perfekt.
Lange saßen sie noch zusammen. Aßen und beobachteten gemeinsam den Sonnenuntergang.
Als sie ihre Augen wieder aufschlug, war es kurz nach Mitternacht. Eigentlich fürchtete sie sich zu dieser Zeit vor Krankenhausgeistern, doch das Bild der Blumenwiese in ihrem Kopf, verdrängte all das schlechte aus dem Zimmer. Aus Angst, dieses Bild wieder zu verlieren, griff sie nach ihrem Schreibblock und begann alles zu Papier zu bringen, was sie sich zuvor ausgemalt hatte. Die Nacht verging wie im Fluge. Als die ersten Sonnenstrahlen in ihr Zimmer krochen, hatte sie eine ganze Geschichte aufgeschrieben. Sie strahlte und fühlte sich zum ersten Mal seit Wochen, nicht mehr ganz so krank.