Bluesman
"Was würdest Du dafür geben, so zu sein wie ich?"
Er spannte seinen sehnigen Arm, verfolgte fasziniert das Spiel seiner Oberarmmuskeln und sah schräg zu mir hoch, auf eine Art, als würde ein Tier die Zähne fletschen. "Du würdest doch gern sein wie ich, oder?"
Ich schwieg und nippte an meinem Kaffee, hielt dabei die Tasse aus feinem Porzellan in der einen, die Untertasse in der anderen Hand.
Nichts dachte ich. Ich würde etwas dafür geben, nicht zu sein, wie du es bist, wäre ich wie Du.
Ich sprach es nicht aus. Ich betrachtete ihn nur und erinnerte mich daran, wie ich auf dem Flughafen Hongkong das VSTOL verlassen hatte und den gläsernen Tunnel von der Maschine ins Flughafengebäude durchquert hatte unter dem schwarzen, stürmischen Himmel. Hagelkörner so groß wie Vogeleier hatten auf das Plexiglas des Tunnels gehämmert und dann war ein anderes Geräusch hinzugekommen. Dumpfer. Platschend. Die Menschen hatten nach oben gesehen, auf das was da herunter regnete. Zuckende Leiber von Fischen aller Größe. Sie fielen vom Himmel, einfach so von oben herunter.
Da war ein Mädchen gewesen, mit breitem Gesicht und asiatischen Augen, die an einem der Werbedisplays hafteten, an SEINEM Gesicht darauf. Das Naturschauspiel über ihrem Kopf hatte sie nicht interessiert. Sie hatte IHN angestarrt, IHN vergöttert, während sie auf etwas herum kaute, das ich für einen Skorpion hielt. Chinesische Eßgewohnheiten sind genauso indiskutabel wie ihre Vorliebe für westliche Rapper.
Erst eine Stunde später hatte ich erfahren, daß es eine Wasserhose gewesen war, die die Fische aus dem Meer nach oben in den Himmel gesaugt und erst über der Stadt wieder freigegeben hatte.
Ich lächelte darüber, aber ER konnte es nicht sehen im Halbdunkel. Die Schatten in der Hotelsuite bewegten sich mit den fluktuierenden Leuchtreklamen und Werbedisplays an tausenden von Gebäuden. Farben ergossen sich in den Raum wie in den Verstand unter Einfluß eines Halluzinogens. Gelegentlich tasteten Lichtfinger durch die Suite. Die Honkonger Stararchitekten hatten ihre Vorliebe für Lichtspiele entdeckt und nun konkurrierten Nadeln aus Scheinwerferlicht über der Stadt um die Gunst der Götter und der Betrachter.
ER hätte die Fenster abdunkeln können, aber ER schien das Schauspiel draußen zu genießen. ER, der Gott dieses kleinen chinesischen Mädchens, zwei Meter weißes Muskelfleisch, aufgebläht von Arroganz und Drogen erhob sich von der Fensterbank des drei Meter hohen Fensters und verdeckte so die Umrisse eines der hundertstöckigen Bankgebäude des Central District. So kam er auf mich zu, barfuß, mit nacktem Oberkörper und der Totenschädel auf seinen Bauchmuskeln transformierte zum Abbild einer Frau am Kreuz. Ein organischer Flüssigkristalldisplay implantiert in die Haut auf seinem Bauch, der auf Änderungen seiner Stimmung reagierte.
Und SEINE, Nazareths, Stimmungen änderten sich schnell.
Nazareth, was für ein konstruiert blasphemischer Name für einen Rap-Musiker. Die Chinesen konnten ihn nicht mal richtig aussprechen. Und doch war er hier besonders erfolgreich. Erfolgreicher als im Westen.
Er ragte vor mir auf. Zwei Meter groß, das hellblonde Haar - eigentlich war es dunkelblond - so kurz geschnitten, daß es seinen Schädel nur als Flaum bedeckte. "Du bist ein seltsamer Mann", sagte er. "Du siehst nicht aus wie einer dieser Public Relation Leute, auch nicht wie ein Musik-Produzent." Er setzte einen Gesichtsausdruck auf, der irgendwie eine Mischung aus Anerkennung und Geringschätzung war. "Du bist also der Mann mit den Ideen. IMRAN hat dich geschickt, weil ihnen mein letztes Album nicht erfolgreich genug war." Er sah auf mich herab und begann zu flüstern. "Aber ich brauche keine PR-Leute und keine Produzenten. Für die da unten bin ich ein Gott."
Er deutete aus dem Fenster der Hotelsuite nach draußen, genau in der Sekunde, als sich über dem Bankenviertel ein riesiges Hologramm mit einem Abbild seines Gesichtes mit genau jenem überheblichen Ausdruck öffnete, mit dem er jetzt auf mich hier herabblickte. "Es kommt jede Stunde wieder, immer auf die Sekunde genau."
Wenig beeindruckt nahm ich den letzten Schluck meines Kaffees und setzte Untertasse und Tasse wieder ab. Ich wußte sehr genau, daß eine Commercial-Projektion wie diese IMRAN, Nazareths Label, gleichzeitig der Name des Firmengründers, mehr als zwei Millionen Hongkong-Dollar kostete. Doch er schien in diesem Moment wirklich glauben zu wollen, es sei ein Opfer, das die Menschen unten in den Straßen ihm zu Ehren brachten. "Nicht erfolgreich genug", hatte er gesagt. Was für eine Untertreibung, vor allem wenn man, so wie ich, Zeuge von Imrans Zornesausbruch geworden war.
"Was für Ideen hast du?", wollte er wissen. "Eine neue Tournee, ein neues Album mit noch aggressiveren Texten, vielleicht noch einen Manga?" Tatsächlich hatte IMRAN für Nazareth eine Serie von Filmen produziert, die ihn als eine Art weltverbessernden Superhelden präsentierten. Billige Trickfilme, mit billigen Drehbüchern, die sich nur durch ihre Gewalttätigkeit auszeichneten. Vor allem mit diesen Filmen hatte er nach dem Unfalltod seiner Freundin Celia für Schlagzeilen gesorgt. Und durch Gerüchte über einen angeblichen Selbstmordversuch - abgesehen von der Berichterstattung, die sich lüstern über die pathologischen Verkaufsstatistiken seines Albums hermachte.
Natürlich war dieser Einbruch der Gewinnkurve nicht wirklich überraschend gewesen. Das Verhalten eines einzelnen Menschen ist schwer vorhersehbar. Aber je größer eine Gruppe ist, desto statistischer beginnt sie sich zu verhalten. Nazareths Fans waren so zahlreich wie ihr Verhalten vorhersagbar. Deswegen konnte IMRAN schon vor vierzehn Monaten negative Prognosen für Nazareths weitere Einspielergebnisse hochrechnen - kurz nachdem trotz unserer verzweifelten Versuche das zu verhindern, Nazareths seltsame Vorliebe publik geworden war.
Auf dem offenen Laptop vor mir funkelte in einem aggressiven Grünton die stetig abfallende Kurve mit Nazareths Verkaufszahlen wie ein mahnender Fingerzeig.
Zahlen, letztendlich ging es immer nur um Zahlen. Nazareth war eine Zahl, keine Null zwar, aber auch nicht viel mehr. Es würde an mir liegen ihn wieder in eine Zahl mit vielen Stellen zu verwandeln. Ihn wieder profitabel zu machen.
Ich nahm ein kleines silbernes Etui aus meiner Tasche, öffnete es, entnahm die linke der beiden Pillen und hielt ihm die verbleibende hin.
"Bevor wir reden.....", sagte ich und es war das erste, was ich heute sagte, "........solltest du offen sein für Visionen."
Er griff zögerlich nach der Pille. "Was ist das?"
Ich zerbiß hörbar die meine und schloß dabei die Augen. "Es macht die Gedanken frei." Eigentlich schmeckte ich nur Zucker um einen Lakritzkern.
Als ich sie wieder öffnete, sah ich, daß er mich angrinste. "Ihr Produzenten seid um nichts besser als die Künstler." Dann zerkaute auch er die Pille.
Sein Körper zitterte leicht und für einige Sekunden sah ich nur das Weiß in seinen Augen. Die Gleichgewichtsstörungen setzten ein, aber er stürzte nicht einfach.
"Was ist...........", seine nächsten Wörter verkümmerten zu einem Lallen.
Er hatte nicht wissen können, daß es einen Unterschied gab zwischen der Pille, die ich und der, die er genommen hatte. Als die volle Wirkung des Mittels ihn traf, sank er auf die Knie.
Er, Nazareth, kniete vor mir und jetzt sah ich auf ihn herab. "Ja", flüsterte ich. "So ist es schon besser."
*
Ich klappte den Kragen meines Mantels hoch, als der Wind über das Dach des Hotels hinweg jagte und wie eine eisige Klaue unter den überdachten Bereich griff. Die Markierungen der Hubschrauber-Landeplätze wären eingeschaltet, Kreuze aus rot pulsierenden Positionslichtern. Doch in der nächsten Stunde würde keine Maschine eine Landeerlaubnis auf dem Hotel erhalten. Dafür hatte ich durch eine nicht unbeträchtliche Überweisung an den Eigentümer vor einigen Stunden gesorgt. Außerdem würde niemand von unten auf das Landedeck gelangen können. Nazareth hatte das gesamte oberste Stockwerk des Hotels angemietet.
Es war ein großartiger Ausblick von hier über den Central District auf der einen, Wan Chai auf der anderen Seite. Die Stadt erschien mir wie eine riesige, lumineszierende Schimmelpilzkultur.
Nazareth saß auf seinem Motorrad, einer dieser Maschinen mit langer Gabel, einem Chopper - er pflegte damit gelegentlich auf dem Dach herum zu kurven, eine seiner extravaganten Vorlieben - und starrte mich an, während ich meine Vorbereitungen traf.
"Was........", es fiel ihm nicht mehr so schwer die Augen offen zu halten. ".....was tust du da?" Die Wirkung der Pille ließ sichtlich nach. Eigentlich wäre sein halb paralysierter Körper mit der Maschine umgekippt, aber deren Hinterrad steckte in einer Halterung, die verhinderte, daß das Rad den Boden berührte und gleichzeitig das Motorrad im Gleichgewicht hielt. Ein Angestellter des Hotels hatte das Ding gestern schon hier deponiert.
Der Sturm hatte sich gelegt. Kleine Böen trugen von unten aus den Straßen einen Geruch nach Meer, Sojasauce und getrocknetem Tintenfisch zu uns herauf. Das und die Geräusche einer atmenden, lebenden Stadt. Einer Stadt, die zu laut war für meinen Geschmack.
"Du......" In seinem glasigen Blick blitzte eine Erkenntnis auf und plötzlich begann er zu lächeln. Das Narkotikum ließ nicht zu, daß er in Panik geriet und das machte es für mich einfacher. "Ich weiß, wer Du bist.", sagte er plötzlich und dann flüsterte er verschwörerisch. "Du bist der schwarze Mann." Er versuchte sich zu bewegen, aber seine Hände waren mit Isolierband am Lenker befestigt und das Mittel erschwerte ihm die Kontrolle über seine Muskeln. "Buhh!", stieß er hervor und lachte albern. Ich zog in Erwägung, ihm noch eine Dosis zu geben. Aber dann hätte ich noch länger warten müssen, bis die Substanz vollständig abgebaut war.
Doch statt vergebliche Fluchtversuche zu unternehmen, war er viel zu beschäftigt damit, über mich nachzudenken. "Sie haben über euch geflüstert. Manche Produzenten und auch mal die kleinen Tontechniker. Sie haben etwas erzählt von Männern, von Bluesmen, die Dich holen kommen, wenn Deine CDs liegen bleiben und Dein Stern sinkt....."Er versuchte wieder seine Arme zu bewegen. "Oder wenn Du politisch unbequem wirst." Mehr als ein Schulterzucken gelang ihm nicht.
In den letzten Minute würde ich sehr vorsichtig sein müssen - denn dann würde er begreifen, daß es kein Traum war.
Ich griff zwischen seine Hände am Lenker und startete den Verbrennungsmotor der Maschine. Um zu verhindern, daß er gleich absoff, spielte ich etwas mit dem Gas.
Als ich mich ihm wieder zuwandte, war das narkotisierte Lächeln aus Nazareths Gesicht verschwunden. "Du bist ein Bluesman." Er hörte sich immer noch müde an. "Ein kleiner, billiger Profi-Killer."
Ich betrachtete ihn und dann lächelte ich schief. "Wenn ich billig wäre, dann hätte ich dich schon unten in der Suite weggeputzt. Eine Kugel in den Kopf, die andere ins Herz." Ich schüttelte den Kopf. "Du solltest Dich nicht überschätzen. Glaub mir, du bist politisch völlig uninteressant." Ich sah mich kurz um, sah die unendlich vielen erleuchteten Fenster in Banken und Geschäftshäusern und hob die Schultern. "Hier geht es nur um Zahlen. Darum, wie viel du IMRAN einbringst. Gekostet hast du sie in diesem Jahr zweiundsechzig Millionen. Eingebracht hast du Ihnen gerade mal siebenundsiebzig."
Sein Blick war glasig. Der eines ausgestopften Fisches.
"Du hast deine besondere Vorliebe weiter ausgelebt, obwohl man dich eindringlich gewarnt hatte, Nazareth. Wohltätige Anwandlungen harmonieren ganz und gar nicht mit Deinem Image. Du hast die Überweisungen an die Hilfsorganisation zwar anonym und hinter unserem Rücken durchgeführt, aber die Konkurrenz ist rir schneller auf die Schliche gekommen als wir. Für die anderen Labels war das ein gefundenes Fressen. Die haben die Geschichte über die Spenden für asiatische Waisenkinder, Minenopfer und all die anderen an die Presse lanciert. Du hast irgendwie gut ausgesehen - nur nicht für deine Fans. Hast du nicht begriffen, daß fast vierzig Prozent Deiner Käufer neben einem Poster von Dir auch ein Hakenkreuz an der Wand hängen haben? Für die bist du in dem Augenblick unglaubwürdig geworden. Kein Wunder, daß sie dich fallen gelassen haben. Und die Fans, die du hier gewonnen hast, gleichen die Verluste nicht aus."
Die Realität griff wieder nach ihm. In seinen Augen las ich, wie er zu vollem Bewußtsein zurückkehrte. Bald würde ihm die Konsequenz seiner Situation völlig bewußt sein. Und dann würde er gefährlich werden.
Mehr als darauf zu warten, daß sein Organismus einen Großteil des Betäubungsmittels abgebaut hatte - schließlich wollte ich den Gerichtsmedizinern nicht zu offensichtliche Spuren hinterlassen - blieb jetzt nicht mehr tun. Zwanzig Minuten etwa, bei einem Mann seiner Größe und Kondition vielleicht auch nur zehn. Sein Verhalten, seine Bewegungen würden verraten, wie schnell seine Physiologie damit fertig wurde. Natürlich arbeitete ich nicht zum ersten Mal mit diesem Narkotikum. Meine Erfahrungen damit waren sehr wichtig.
Mir fiel die Art auf, wie er mich ansah. So als fürchtete er mich. Als fürchtete er mich wegen etwas, das über die Tatsache hinausging, daß er in meiner Gewalt war. Es war nicht das erste Mal, daß mich jemand so ansah. Mich. Mittelgroß, schlank, das schulterlange dunkelblonde Haar auf dem hoch geklappten Kragen eines schwarzen Mantels. Ein Geschäftsmann Anfang Vierzig, mit einem etwas extravaganten Geschmack und seltsamen Augen. Jemand hatte das einmal zu mir gesagt. Deine Augen strahlen etwas wie Ironie aus. Später hatte sie nur noch gesagt, daß etwas nicht stimmen würde mit meinen Augen - und mit mir. Sie war meine erste Klientin gewesen.
Und sie war tot.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich für ihn aussah, als ich mich zu ihm vorbeugte und sagte: "Ich habe dich gemacht, Nazareth."
Er wich meinem Blick aus.
Wie er da hing. Mit Klebeband auf sein Motorrad gespannt, wie der Messias aufs Kreuz. Darüber mußte ich lachen und er versuchte etwas vor mir zurückzuweichen. "Ich habe mich selbst erschaffen", wagte er zu behaupten.
Ich lachte lauter. "Natürlich." Der Himmel über uns klärte sich auf und ein voller Mond strahlte herunter auf das Wasser zwischen Victoria und Kowloon und die Boote darauf. Es stank plötzlich nach Öl und Fisch und billige chinesische Schlager aus Kofferradios auf den Booten und Dschunken echoten zu uns hoch. Auch ein Song von Nazareth war dabei.
"Es läuft immer auf dieselbe Weise. Auch bei Dir. Ich suchte jemanden der expressiv war und auffällig geworden. Auf Dich wurde ich aufmerksam durch Deine große Klappe, eine gewisse Musikalität und kleinere Drogendelikte" Ich zwinkerte ihm zu. "Hast Du Dich nie gewundert, warum Deine letzte Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde, statt der vierzehn Monate, die der Staatsanwalt forderte? Übrigens war ich es, der die Ground Zeros auf Euer Territorium gehetzt hat. Natürlich gehörte etwas Glück dazu, daß Du bei der Schießerei nicht getötet wurdest. Aber es verlief relativ glatt, noch dazu, weil ich dafür gesorgt hatte, daß Ihr in der Überzahl und in der besseren Position wart und die Waffen, die an die Ground Zeros verkauft worden waren, zu Ladehemmung neigten. Ich habe sogar eine Aufzeichnung von Eurem Schußwechsel in dem alten Stahlwerk. IMRAN kauft gelegentlich Satellitenbeobachtungszeit. Du hast bei der Ballerei übrigens bei weitem nicht eine so gute Figur abgegeben wie heute auf der Bühne. Du hast platt am Boden gelegen, geschrien, geheult und um Dich geschossen, ohne zu wissen auf wen." Ich hob die Schultern. "Aber die Vorstrafe war wichtig, damit Dich Deine heutigen Fans ernst nahmen. Ohne diesen ersten......." Ich betonte das Wort sarkastisch. ".....Gig, wärst Du heute ein niemand.
Der Rest war sehr einfach. Ein paar gute Produzenten, ein paar gute Texter gepaart mit Deiner Großkotzigkeit und Bühnenpräsenz und Nazareth war fertig.
Er starrte mich an, sagte aber nichts. Über der Stadt öffnete sich ein weiteres Mal ein Hologramm mit seinem Antlitz darauf.
Ich schmunzelte. "Jetzt glaubst du tatsächlich selbst, ein Gott zu sein. Aber das bist Du nicht. Und Du hast Dich auch nicht erschaffen, das war Ich. Du bist ein Konstrukt, Nazareth. Du, dein Name, deine Geschichte, deine Abhängigkeit und dein Ende. Du bist die Konsequenz unserer statistischen Erkenntnisse über Deine Zielgruppe. Desillusionierte, gewaltverliebte Jugendliche bis etwa zum zwanzigsten Lebensjahr. Du hast zwei Typen von Fans, Nazareth, wußtest du das? Die einen begreifen irgendwann, daß sie niemals so wie Du in Deinen Videos oder Mangas mit einer Kanone losziehen werden und den Rest der Welt zur Hölle schicken. Die anderen tun genau das, und wir verlieren sie als Konsumenten im Kreuzfeuer der Polizei, noch bevor sie das sechzehnte Lebensjahr erreichen. Eine ganze Menge Lehrer tragen wegen dir eine kugelsichere Weste. Soviel hast du bewirkt. Sonst nichts."
Es klang atemlos, als er sagte: "Ich bin ein Künstler."
Ich betrachtete ihn belustigt. "Beethoven, Mozart, vielleicht noch die Beatles. Das waren Künstler. Du, Nazareth, bist eine Geldmaschine ohne Seele - leider eine, die im Moment nicht so funktioniert, wie sie sollte." Ich zwinkerte ihm zu. "Aber ich arbeite dran." Ein weiteres Mal wollte ich mich vergewissern, daß wir noch allein hier oben waren, doch aus irgendeinem Grund, wendete ich mich ihm noch einmal zu. "Wenn du es wissen willst: Auch ich wollte mal Künstler werden. Aber egal was ich tat, gab es immer jemanden, der es besser konnte. Also habe ich meine eigene Kunstform entwickelt. Ich mache nicht nur Künstler, ich erschaffe kleine Götter. Sie sind aus Ton und es ist nur Luft drin, aber das weiß niemand. Und dich habe ich genauso erschaffen."
Er rührte sich nicht. Eine ganze Weile. "Wenn du mich erschaffen hast...", er schluckte. "...... wieso vernichtest du mich dann jetzt?" Ich schüttelte den Kopf. "Ich vernichte dich nicht. Ich töte dich, ja, aber damit veredele ich dich. Ich mache dich unsterblich in den Köpfen der Leute und in ihren bewundernden Augen."
Er sagte nichts, aber sein Mund stand offen, die Mundwinkel seltsam hochgezogen, so daß nicht zu unterscheiden war, ob es ein trauriges Lächeln, oder Schmerz war. Er begriff nicht.
"Wir haben einen Ausdruck dafür", erläuterte ich. "Wir nennen es den post mortem-Effekt." Ich wußte nicht, ob das, was er tat, ein Kopfschütteln sein sollte. "Männer und Frauen wie du sind die Ikonen dieser Zeit und wie bei Heiligen wollen eure Gläubigen Devotionalien und Reliquien. Das ist nichts neues." Ich glaube, ich sah begeistert aus, als ich davon sprach. "Kannst du dir vorstellen, was vor sechzig Jahren geboten wurde für das Wrack von James Deans Porsche? Für eine halbe Tonne zerfetztes Metall? Oder für das Kostüm das Elvis trug, ein paar Stunden bevor er starb? Oder für den Gürtel, an dem sich dieser Rockmusiker selbst erhängt hat? Vorher ist das alles nur Plunder. Aber die Tragik der Geschichte lädt es auf und macht Geld daraus, je mehr desto mehr Blut daran klebt." Ich griff nach seiner Schulter und beugte mich zu ihm herab. "Was glaubst du, werden sie bieten für dieses Motorrad hier......, ich meine für das, was davon übrig sein wird." Ich zwinkerte ihm zu.
Plötzlich begann er zu heulen. "Ich will noch nicht sterben."
"Nein? Und wie war das vor zwei Monaten, als sie dich mit einer Überdosis auf deinem Mischpult gefunden haben? Alice, oder? Das Zeug hätte dich in der Dosis bis zum Mars gebracht... und darüber hinaus. Leben willst du also auch nicht, oder?" Ich fixierte ihn. "Du willst doch ein Gott sein, du willst doch unsterblich sein, nicht wahr?"
Ich spielte wieder mit dem Gas des Motorrads.
"Man wird herausfinden, daß es kein Selbstmord war. Die Drogen im Blut......"
Ich lachte ihn an. "Hey, du bist ein Junkie, und jeder weiß es. Drogen schlucken ist Teil Deines Jobs, genauso wie dein tragischer Tod. Du bist ein Star. Elvis, Janice Joplin, Kurt Cobain, noch Fragen?" Wieder gab ich Vollgas, übertönte seine Worte.
Er begann zu kämpfen, das Mittel verlor seine Wirkung, bald war es soweit. "Aber jemandem wird auffallen, daß etwas nicht stimmt, sie werden nachdenklich werden, sie werden dich......."
"Ja, Du meinst Legendenbildung. Das ist uns nur recht. Ein richtig schönes Mysterium. Die werden nicht mal wahrhaben wollen, daß du tot bist, denn wenn du da unten angekommen bist, erkennt dich keiner mehr. Die werden dich in Supermärkten zu sehen glauben, in billigen Motels, in Drogenkliniken. Das wird den Absatz deiner neuen CDs fördern. "
"Neu? Aber wie......"
"Du hast soviel schlechtes Material produziert in den letzten Monaten, wir haben so viele Aufzeichnungen mit deinen präpotenten Großkotzigkeiten, daß es genug ist, um ein paar weitere Alben zu füllen und es werden Hits werden, sei ganz sicher." Fetzen von Musik und Stimmen wehten um uns herum, Knallkörper platzten in den Straßen, ein weiblicher Sopran aus einem der Hotelzimmer streifte uns. "Ein Star schluckt eine Überdosis und stirbt auf dem Klo mit herunter gelassenen Hosen, oder er geht in seine Garage und hält sich eine Flinte in den Mund. Aber die Fans sagen nie: "Er war wohl einfach irre", nein, die sagen : "Wow, er hatte wohl noch mehr zu sagen, als wir dachten" und sie beginnen zu kaufen. Seine CDs, seine Biographien, seine Videos, seine dreckige Unterwäsche. Es ist Ihnen egal, sie wollen das Geheimnis ergründen, sie spielen seine Musik rückwärts und glauben mystische Botschaften darin zu hören. Der einzige Weg ihm näher zu sein, ist zu konsumieren. Du solltest mal die Statistiken sehen. Wenn einer von Deiner Sorte mit seinem Porsche unter einem Laster herfährt, das treibt den Absatz in die Höhe. Die Generation, aus der sich Deine Fans rekrutieren, hat ein kleines Faible. Sie ist verliebt in den Tod - und sie danken es dir, wenn du voraus gehst, indem sie dich kaufen."
Nazareths Pupillen verengten sich langsam. " Sie wollen mich live. Ich könnte wieder zu meiner alten Form finden, ich könnte Alben machen, die besser waren als alle davor. Seitdem Celia tot ist.........."
Ich ließ den Gashebel los und brachte etwas wie Mitleid in meiner Miene zustande. "Ihr Tod hat dich mitgenommen, ich verstehe das." Ich steckte die Hände in die Taschen und seufzte. "Ich habe mir diese Entwicklung ausgedacht. Dein Album war zwei Monate lang erfolglos auf dem Markt und uns wurde bewußt, daß wir deine Geschichte umschreiben mußten. Celias tragischer Tod, als sie mit ihrem Motorrad verunglückte, schien mir damals eine plausible Motivation für deinen heutigen Selbstmord."
Er brauchte sehr lange, um es zu begreifen, aber dann flackerte etwas auf in seinem Blick. "Du hast sie........" Plötzlich versuchte er aufzuspringen. Das Motorrad schwankte bedenklich, als er am Lenker riß, gleichzeitig versuchte sich auf seine eingeschlafenen Beine zu erheben. Ich wäre mit ihm fertig geworden, trotz seiner Größe, auch ohne Drogen und Fesseln. Aber es reichte einen Schritt zurück zu treten. Er brüllte mich an. "Du mieses Schwein, du verfluchter Mörder........"
Ich übertönte ihn einfach. "Ich habe deine Geschichte geschrieben, Nazareth. Jedes tragische Kapitel deiner marktgerechten Existenz." Ich legte den Kopf schief. "Und heute beende ich das Buch."
Ich zog mein Handy aus der Tasche und ließ ihn mithören, während ich die vorgefertigte Aufzeichnung darauf abspielte, eine Nachricht mit Nazareths Stimme, die direkt an CNN-Hongkong ging. "Ich bin es. Nazareth. Ihr liebt mich doch? Wollt Ihr mich fliegen sehen? Heute Nacht? Dann solltet Ihr Eure Helikopter ganz schnell zum Dach des Hongkong-Hilton schicken." Ich trennte die Verbindung, als am anderen Ende jemand mit chinesischem Akzent "Hallo, hallo" rief.
"Siehst du, was wir alles tun können? Haben wir mit deinen Stimmdaten zusammen gemixt, als Fälschung nicht zu identifizieren. Es lebe die moderne Studiotechnik."
Er riß die Augen auf. "Du kannst das nicht tun. Das ist doch nicht wahr. Ihr wollt mir nur Angst machen, oder?" Er lachte irre. "Ist euch gelungen, ehrlich. Ich werde intensiver arbeiten als je zuvor, ich werde........."
"Du wirst ein strahlender Stern am Himmel sein." Ich zwinkerte. "Erst für ein paar Sekunden und dann für immer. Die Absätze werden steigen. Und dich müssen wir nicht mal mehr bezahlen."
Er kreischte. "Ich kann dir mehr zahlen als IMRAN, viel mehr!" Ich hörte das Pochen von Helikopterrotoren und dann tauchten Lichter auf zwischen den Gebäuden, die auf uns zu rasten. "Laß mich gehen........"
Ein letztes Mal lächelte ich ihn an und erinnerte mich daran, wie er vorhin auf mich herabgesehen hatte. Ich beugte mich zu ihm herüber. "Was würdest du dafür geben, so zu sein wie ich?" Er riß die Augen auf und dann drehte ich den Gashebel voll auf und trat auf den Hebel, der die Halterung löste. Nazareth heulte auf, als das Hinterrad der Maschine aufsetzte, kurz durchdrehte, dann kreischte. Und endlich schoß das Motorrad davon, heraus aus der Deckung des überdachten Bereichs auf den ungesicherten Rand des Helikopter-Landedecks zu.
Die Maschine taumelte, aber sie stabilisierte sich durch ihren Schwung, noch dazu, weil Nazareth unwillkürlich dafür sorgte im Gleichgewicht zu bleiben, um nicht zu stürzen. Nur lenken konnte er nicht, denn die Gabel war fixiert.
Ein Stück weit rannte ich ihm nach, darauf bedacht nicht in Sichtweite der Helikopter zu kommen. Dabei rutschte ich auf etwas aus und bemerkte, daß es ein Fisch war. Auch hier oben lagen Hunderte davon.
Heute war ein merkwürdiger Tag. Fische regneten vom Himmel und Rapstars. Nazareth erreichte den Rand des Daches hundertundsechs Stockwerke über dem Wasser und er schrie und ich bildete mir sogar ein etwas wie Fröhlichkeit heraus zu hören. Über den Rand zu rasen, das mußte etwas wie absolute Freiheit bedeuten, vielleicht wurde ihm das jetzt bewußt.
Es bestand das Risiko in den Scheinwerferkegel eines des Helikopter zu geraten. Doch ich konnte nicht widerstehen. Rannte noch weiter, so daß ich seine Bahn verfolgen konnte. Was für ein unglaublicher Augenblick, denn in diesem Sekundenbruchteil flammte das Hologramm mit dem überdimensionalen Nazareth wieder auf, direkt vor ihm. Er tauchte auf dem Motorrad ein ins Schwarz der riesigen holographischen Projektion seiner Pupille wie in sich selbst hinein. Durchbohrte sie und stürzte dann endlich als metallisch funkelnder Punkt in einer Parabel auf das Meer zu. Endlos lange dauerte sein Fall. Wie in seinem Song. "Fly Deep". Manche Kritiker hatten behauptet, er sei eine Aufforderung zum Selbstmord.
Er traf nicht das Wasser. Der Feuerball einer Explosion markierte die Stelle an der die Maschine mit Nazareth darauf ein Motorboot zerschmetterte. Der Knall erreichte mich erst jetzt und eine Windböe zerrte an mir, während ich darüber nachdachte, was es für ein Gefühl gewesen sein mochte, hundertundsechs Stockwerke tief zu fallen und auf dem Wasser zu zerplatzen.
Nazareth hatte Recht gehabt. Aber ich war nicht ein Bluesman, ich war DER Bluesman. Möglich, daß es schon welche vor mir gegeben hatte. Eine Menge berühmter Legenden waren zu tragisch, um wirklich nur Tragödie allein gewesen zu sein können. Marilyn Monroe, James Dean, John Lennon, Jimmi Hendrix, Buddy Holly..........Wer weiß schon, wie sie wirklich starben. Aber ich hatte die Kunst der Inszenierung perfektioniert. Ich, der Bluesman.
Imran höchstpersönlich hatte mich als erster so genannt. "Weil Du den Blues nicht nur hast, sondern weil Du der Blues bist", hatte er gesagt und dabei in seinen Cognac gesehen. "Leid, Mitleid, Selbstmitleid, Sehnsucht."
Das war vor zwanzig Jahren gewesen.
Seit dieser Zeit bin ich in diesem Geschäft. Erfinde Biographien und mache sie wahr. Lasse Nazareth und seine berühmten Kollegen Episoden erleben, die ich geschrieben habe und forme sie so zu meinen Geschöpfen.
Seit zwanzig Jahren mache ich aus Menschen Legenden.
Und jetzt bist auch Du eine, Nazareth.
ENDE