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Blues
Blues
ertönte aus dem Ghettoblaster, der auf der Tischtennisplatte stand, auf der sie saßen und fröhlich mit den Beinen baumelten. Zu gern hätte ich dazugehört.
Ich beobachtete schon eine ganze Weile sehnsüchtig eine Gruppe von Langhaarigen. Sie trafen sich in der Lichtenberger Parkaue, in der Nähe von unserem Studentenwohnheim. Außer den Leuten, mit denen ich zusammen studiert habe, kannte ich niemanden in Berlin.
Eines Tages schien sich endlich eine Gelegenheit zu bieten. In der Clubgaststätte Solidarität war Disko. Sie befand sich direkt neben unserem Wohnheim. Einer aus der Truppe war auch da. Er sah zu mir rüber. Ich sah zu ihm rüber, und es funkte sofort zwischen uns. Obwohl er ein dicker Hund war, konnte er sich sehr gut bewegen. Er drückte mich beim Tanzen fest an sich ran und zwang mir seinen Rhythmus auf. Da hatte jemand Blues im Blut. Ich hing mit den Füßen fast in der Luft, weil er so einen dicken Bauch hatte. Aber es gefiel mir.
Ich nahm ihn mit ins Studentenwohnheim. Er schlief völlig übermüdet sofort ein. Ich brachte ihn auch noch morgens zum Bus. Er musste zur Frühschicht im Pumpenwerk an der Landsberger Allee. Er war ein intelligenter junger Arbeiter und auch sehr belesen. Irritiert hat mich bloß, dass er alles, was er sah, geschenkt haben wollte, ob es nun ein Plakat an der Wand war oder ein Buch in meinem Regal. Zum Glück gehörte das Plakat meiner Freundin Doreen. Die sah das nicht so eng. Außerdem betrachtete er mit gierigem Blick den teuren Recorder von einem Mädchen aus meinem Zimmer.
Nachdem ich ihn zum Bus gebracht hatte, legte ich mich aufs Ohr. Ich hatte vor, die Vorlesung sausen zu lassen.
Leider war mein Abenteuer noch nicht vorbei. Eine Stunde später stand er wieder auf der Matte. Angeblich hatte ihn sein Meister beim Schlafen im Pausenraum erwischt und ihn rausgeschmissen. Er wohnte noch bei seinen Eltern. Deshalb traute er sich nicht nach Hause.
Jetzt begann so etwas wie ein böser Traum. Er bestand darauf, auf der Stelle zu duschen. Das war natürlich der aller ungünstigste Zeitpunkt, weil die Anderen sich gerade fertigmachten.
Ich schwankte hin und her zwischen dem Wunsch ihn loszuwerden und meinem schlechten Gewissen. Ich gab mir ja eine Mitschuld daran, dass er Ärger auf Arbeit bekommen hatte. Außerdem wollte ich zu seiner Clique gehören und mich als guter Kumpel empfehlen. Aber der Typ war richtig Horror.
Die anderen Mädchen brachten auch oft ihre Freunde mit, aber noch niemand hatte so einen Stress gemacht.
Die Dusche war leider wie immer verstopft. Das Wasser lief in den Flur rein. Mit Handtüchern versuchte ich den Schaden zu begrenzen und verfluchte ihn. Zu meinem Leidwesen verbrauchte er fast die ganze Flasche von meinem teuren Haarshampoo. Das hatte ich mir einmal in einem Anfall von Verschwendungssucht geleistet. Außerdem benutzte er die Handtücher der anderen Mädchen. Das konnte mir noch richtig Ärger einbringen. Sie hatten sich sogar schon bei der Heimleitung über mich beschwert. Die Sache hier konnte das Fass zum Überlaufen bringen.
Meine Freundin Doreen mochten sie übrigens genauso wenig.
Seine schönen langen Haare stanken entsetzlich nach dem süßlichen Rosenshampoo. Er lief nackt auf dem Flur herum. Das stieß bei den Anderen auf wenig Begeisterung. Mich beschlich der Verdacht, dass sich hier ein "einfacher" Prolet an einer "privilegierten“ Studentin rächen wollte.
Ich musste den Typ unbedingt aus dem Wohnheim kriegen. Zum Glück meldete sich bei ihm der Hunger, und wir gingen zum Mittagessen in die „Solidarität“. Das war übrigens dieselbe Gaststätte, wo wir uns kennengelernt hatten. Er ersparte mir aber auch keine Peinlichkeit. Vor dem Fahrstuhl im Studentenwohnheim trafen wir ein Mädchen aus meiner Seminargruppe. Als er sie sah, entfuhr ihm ein Ausruf der Bewunderung. Er ließ mich einfach stehen und lief ihr hinterher. Natürlich machte er nur Spaß. Sie verschwand erschrocken hinter der Fahrstuhltür, aber ich sah die Schadenfreude auf ihrem Gesicht. Sie gönnte mir wohl die Blamage.
Die „Solidarität“ war ein sogenannter Fresswürfel. Er zierte alle Neubaugebiete, die in der DDR gebaut worden waren. Mein merkwürdiger neuer Bekannter erwartete selbstverständlich, dass ich ihn einlade. Angeblich hatte er kein Geld dabei. Er machte sich wohl zu geschönte Vorstellungen von meinen finanziellen Möglichkeiten. Ich habe mich durch meine Studentenzeit gerade so durch gehungert. Also opferte ich meinen letzten Zwanzigmarkschein. Eigentlich musste ich damit noch die nächste Woche überleben. Warum ich das überhaupt machte, war mir selber nicht ganz klar.
Es hätte meine Hilfsbereitschaft ja noch gerechtfertigt, wenn ich in ihn verknallt gewesen wäre. Aber das tat ich ganz und gar nicht.
Wollte ich mich freikaufen? Ich hatte immer noch ein schlechtes Gewissen. Er konnte meinetwegen vielleicht seine Arbeit loswerden. Außerdem wollte ich über ihn zu gern Anschluss an die Blueskunden in Berlin kriegen.
Er hatte einen Umfang wie ein Bierfass, war aber irgendwie mein Typ und aß für drei. Ab und zu ließ er einen prüfenden Blick über mich wandern. Ich spürte, dass er intelligent war. Es war aber eine Intelligenz, vor der man sich in Acht nehmen musste. Wahrscheinlich überlegte er bei sich, was er noch aus mir herausholen konnte. Langsam wurde ich auch hungrig. Ich sah sehnsüchtig zu, wie er sich ein Steak mit Champignons gönnte, das teuerste Gericht. Das hätte ich selber gern gegessen. Dazu ließ er sich ein Eis schmecken und Bier und Zigaretten. Mir knurrte der Magen. Er aß geizig alles selber und ließ mich nicht mal kosten. Habgierige sind oft selber knauserig.
Endlich ging er. Er war wohl mit seiner Ausbeute zufrieden und sah ein, dass aus der Sache nicht noch mehr Vorteile herauszuschlagen waren.
So ein Menschentyp war mir noch nie über den Weg gelaufen. Ich dachte eigentlich immer, dass die Männer die Frauen freihalten. Zum Schluss blieben mir nur noch eine Mark fünfzig übrig. Damit konnte ich die Woche bis zur nächsten Stipendienauszahlung nicht überleben. Doreen war auch blank. Auf sie hatte ich gebaut. Von den anderen Mädchen konnte ich mir nichts borgen. Das hätte meinen Ruf ruiniert. Die Anderen kamen mit ihrem Geld aus. Sie hätten mir auch sowieso nichts gegeben. Viele Leute verborgen ja aus Prinzip kein Geld, nicht mal kleinste Summen.
Ach ja, meine aufdringliche Bekanntschaft hatte mir versprochen, in zwei Tagen vorbeizukommen.
Natürlich hat er sich nicht mehr blickenlassen. Das war wohl irgendwie mein Glück. Dadurch war ich ihn los. Jemanden, der so materiell dachte, hatte ich bisher noch nie getroffen. Er war ein frustrierter Dicker. Seine Kindheit war wohl nicht einfach gewesen und hatte ihn demoralisiert. Wir ahnten wohl instinktiv Gemeinsamkeiten.
Mir blieb nichts anderes übrig, wollte ich nicht verhungern, als mich an die Straße zu stellen und nach Hause, nach Mecklenburg/Vorpommern, zu trampen.
Ein paar Jahre später kam ich gerade mit meinem Kumpel von einem Blues Open Air, und wir gingen meine Straße hoch. Da sah ich ihn wieder. Er war jetzt wohl beim Straßenbau, kniete auf dem Bürgersteig und klopfte Steine ins Straßenpflaster. Als er uns beide sah, flog ein Schmunzeln über sein Gesicht. Er war ein paar Jahre älter als ich und fühlte sich wohl an alte Zeiten erinnert, als er selbst noch zu Konzerten gereist ist. Ich glaube, er hat mich nicht wiedererkannt. Seit damals hatte er sich einiges ab- gehungert und sah eigentlich besser aus. Sogar seine kurzen Haare standen ihm gut. Aber mir hatte der dicke Blueser mit der Matte gefallen.