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Blood & Bubblegum
»Du willst das nicht wissen«, sagte der Mann. Er warf die angebrochene Rolle Paketklebeband in den Kofferraum und ließ sich hinters Steuer des Wagens fallen. Zwischen seinen Zähnen klemmte eine Zigarette, die er jetzt anzündete.
»Nö, das willst du wirklich nicht«, wiederholte er in den Himmel. Er startete den Motor und tuckerte gemächlich davon. Das Verdeck des Cadillacs, Modell Coupe Deville Convertible, Baujahr 1970, war heruntergelassen. Vierzig Jahre alt, und genauso riecht es auch, dachte der Fahrer.
Achthundert Meilen und vierundzwanzig Stunden Zeit lagen vor ihm. Er eilte nicht, er trödelte nicht. Aus dem Radio dudelte Jazz von James Brown, nur unterbrochen von halbstündlichen Meldungen über die Außerirdischen, die vor drei Tagen in der Wüste Nevada gelandet waren. Seine Haarwurzeln prickelten. Wie passend, dachte er und kratzte sich im Nacken.
Die Sonne stand schon tief, als er das Mädchen am Straßenrand entdeckte.
»Willst du mitfahren, Kleine?«, bot er an, nachdem er den Wagen angehalten hatte.
»Wo soll’s denn hingehen?«, fragte sie kaugummikauend.
»Kanada«, sagte er.
»Oh. Gut, aber lass mich vor der Grenze raus.«
»Kein Problem.«
Sie kletterte in den Wagen, eine mit Kirschen bedruckte Stofftasche hinter sich herziehend, und streckte ihm eine klebrige Hand entgegen.
»Ich heiße Marlene.«
»Hört man selten.« Er blies Rauch in Kringeln heraus. »Clyde.« Sie schüttelten sich die Hände und grinsten einander an, als wären sie alte Kumpels.
Clyde MacDream mochte viele Dinge. Die Gewissheit eines vollen Tanks, Leinenhemden zwei Nummern zu groß und Filme mit Charlton Heston. Junge Dinger mit Klebfingern zählten ebenso dazu.
»Da wär’ noch was«, begann er.
»Ich weiß schon. Kannst meinen i-org haben«, entgegnete Marlene und fingerte das Gerät aus ihrer Tasche.
Clyde nahm das Pfand entgegen und ließ es in der Seitentür verschwinden. Ein Kombigerät der Marke Apple, brandneu und mindestens dreimal so viel wert wie der Caddy. Die Kleine hat Geschmack, dachte er ein wenig belustigt.
»Und wer ist das?«, fragte Marlene, während sie auf den Rücksitz schielte.
Clyde drehte sich nicht um. Er streckte den Arm aus, schnippte den Zigarettenstummel nach draußen und seufzte.
»Niemand. Beachte ihn einfach nicht.«
»Wie du meinst.« Vor Marlenes Mund platzte eine Kaugummiblase.
Von einer Staubwolke verfolgt brummten sie weiter. Marlene hatte ihre gazellenartigen Beine angezogen und die Füße auf dem Armaturenbrett platziert. Sie blätterte halb interessiert in einem Perry Rhodan-Heft, das sie aus dem Handschuhfach gekramt hatte. Die untergehende Sonne spiegelte sich in ihrer Sonnenbrille wie kleine, leuchtende Aprikosen.
»Zwanzig Meilen bis zur nächsten Tankstelle«, informierte sie Clyde nach einer Weile. »Wie ist er?«
»Wer denn?«
»Mr. Rhodan.« Clyde deutete mit dem Kinn auf das Cover mit den Aliens.
Marlene zuckte die Achseln. »Ist nur so ein Typ.«
Er musste lachen. »Du bist ein lustiges Huhn«, sagte er dann.
»Kannst du mal das Gedudel da abdrehen und ordentliche Musik einstellen?«, forderte das Huhn und machte sich an den Knöpfen zu schaffen.
»Finger weg! James Brown ist heilig.«
»Du hältst dich auch für eine Sex Machine, was?«, murrte sie und rieb sich die Schulter. Clyde grinste nur.
Die eingeschlagenen Glasfenster warfen die letzten Sonnenstrahlen mosaikartig zurück. Clyde brachte den Wagen knirschend zum Stehen und erinnerte sich, dass die Tankstelle noch vor zwei Jahren floriert hatte. Irgendwo weit oben im Nachthimmel kreischte ein Adler.
Marlene fischte einen Lolly aus der Tasche und lutschte umständlich daran herum. Clyde stieg aus dem Wagen und verschwand.
»Wie lange willst du noch da herumlaufen?«, rief sie ihm mehrere Minuten später mit ausgestrecktem Zeigefinger und kreisender Hand zu. Er kam eben wieder in Sichtweite der Scheinwerfer.
»Das Motel ist noch da!«, rief er ihr entgegen. »Ich habe die Tür eingedrückt. Es ist schon spät, wir werden hier übernachten.«
Marlene entwirrte ihre Beine und beugte sich hinüber zum Lenkrad, um die Zeit dahinter ablesen zu können. 10.05 p.m. erspähte sie.
»Marlene, hinter dir!«, schrie Clyde und sprintete los.
Sie konnte nicht mehr reagieren.
Wenig später beugte sich Marlene zum Rückspiegel des Wagens hinunter, presste sich Taschentücher gegen die blutende Wunde am Ohr und rieb sich den zerkratzten Hals.
Clyde gesellte sich neben dem Mann auf den Rücksitz und sagte streng:
»Ich hasse Gewalt. Siehst du, ich hab ja nicht mal eine Waffe. Meine Waffen sind Geduld und«, Clyde ließ die Rolle Klebeband zwischen Daumen und Zeigefinger kreisen, »naja, die hier.«
Als Antwort kam ein nasses Gurgeln.
»Du glaubst mir doch, nicht wahr? Natürlich tust du das, sonst wären wir beide nicht hier.« Er lachte. Der Mann im Anzug wirkte wie jemand, der eben herausgefunden hat, dass sein Kaninchen sprechen kann und Zeitung liest.
»Siehst du, jetzt musste ich dich vor den Augen des Mädchens ruhig stellen. Das ist nicht sehr nobel, mein Freund. Hör endlich auf, sie anzustieren! Pass auf, ich will dir noch einmal den Stand der Dinge erklären. Erstens: Es ist deine Schuld, dass wir hier sind. Erwarte also nicht, dass ich dich mit Glazéhandschuhen anfasse. Zweitens: Wir wissen beide, wohin die Reise geht. Ich weiß, dass du es auch weißt. Sieh mich an, nicht sie! Drittens: Wie auch immer diese Sache ausgeht, ich möchte weitere Gewalt vermeiden. Zwing mich nicht, etwas zu tun, das mir widerstrebt. Marlene?«
»Ja.«
»Geh schon mal ins Motel und such dir ein Zimmer.«
»Ok.«
Als sie außer Sicht war, setzte Clyde seine kleine Rede fort:
»Die Kleine hat wirklich Mumm. Konnte ihr einfach nicht ausreden, sich eine neue Mitfahrgelegenheit zu suchen. Sag mal, merkst du eigentlich, dass du mir die Ledersitze voll blutest? Du kapierst offenbar gar nichts. Na komm, steh auf. So hart war der Schlag nun auch wieder nicht. Ich dachte, du wärst ein großer, starker Agent?«
Clyde stellte das Radio ab und zeigte sich hilfsbereit, indem er dem Mann auf dem Rücksitz hoch half.
Am nächsten Morgen erwachte Clyde, Marlene stand am Bettende. Er peilte sie über seine Morgenlatte an.
»Siehst du das nicht? Ist gerade ein richtig schlechter Zeitpunkt.«
Marlene wusste offenbar nicht, ob sie angewidert, belustigt oder ängstlich sein sollte.
»Wann fahren wir weiter?«, fragte sie den Fliegenfänger, der wie ein Stalaktit von der Decke hing. Einige Sekunden lang hörten sie nur das verzweifelte Brummen der letzten Fliege, die zu entkommen versuchte.
Clyde und Marlene blickten gleichzeitig zu dem Polstersessel, in dem Mothball steckte. Blut und Tränen rannen über sein Gesicht, der Schritt hatte sich dunkel gefärbt. Er wimmerte und hielt die Augen geschlossen, versuchte, sich wegzudrehen.
Mit einem schiefen Grinsen sagte Clyde im Aufstehen: »Ich muss noch etwas am Wagen prüfen. Du bleibst so lange hier und passt auf, dass Dobermann artig auf seinem Platz bleibt.«
»Aber ... ich«
»Tu was ich dir sage, Süße und denk an dein Gesicht.«
»Nenn mich nicht immer Süße oder Kleine.«
»Dann eben Lolita, Kleine.«
Marlene reckte dem Mann trotzig ihr zerkratztes Kinn entgegen.
Clyde lachte ohne Humor auf und rief ihr im Hinausgehen nach: »Wenn er Faxen macht, kannst du mich ja rufen.«
Es war etwa halb acht Uhr morgens und bereits jetzt so heiß, dass Clyde nach ein paar Minuten der Schweiß in den Nacken rann. Der Caddy parkte nahe der Mauer an der Rückseite der Tankstelle im Schatten. Er öffnete den Kofferraum und verspürte sofort wieder das Prickeln in den Haarwurzeln. Der Anblick zauberte ihm ein Lächeln aufs Gesicht. Alles in Ordnung, dachte er. Dann nahm er eine Bewegung im Augenwinkel wahr und erkannte, dass ihm Marlene vom Fenster aus zuschaute. Soll sie. Man muss seinen Feinden immer einen Schritt voraus sein, ohne dass sie es merken, überlegte er amüsiert. Dann überprüfte er ein paar Anzeigen, justierte etwas, ließ den Deckel ins Schloss fallen und verriegelte es.
Der i-org war noch an seinem Platz. Clyde nahm ihn kurz in die Hand, überprüfte ein paar Dinge und schlich, sobald Marlenes Kopf verschwunden war, zurück zum Motel.
»Agent Mothball«, flüsterte Marlene. »Kommen Sie endlich zu sich! Hören Sie doch!« Ihre Stimme verriet hektische Vorsicht.
»Mein Gott, das darf nicht wahr sein! Mein Vater hatte Recht, Sie sind eine Null.«
Clyde sah, wie sie an dem verklebten Mund des Gefesselten herumzerrte und trat ins Zimmer.
»Was tust du da?«, fragte er scharf.
Marlene sprang zurück wie eine Feder. »Clyde! Du hast mich vielleicht erschreckt!«
»Ich nehme an, ihr Beiden wolltet das Paarungsverhalten des gemeinen Steppenwolfes erörtern?«
»Wie? Nein! Er hat so seltsam geröchelt und da dachte ich...«
»Schon vergessen, was gestern passiert ist?«
»Nein«, sagte Marlene zerknirscht und wich einen Schritt zurück.
»Steig in den Wagen. Ich wechsle das Klebeband«, sagte Clyde und erklärte dann, ihr nächster Stopp sei ein Drugstore achtzig Meilen entfernt. »Ignorier den Typen. Und zerbrich dir nicht dein hübsches Köpfchen über Dinge, die du nicht verstehst.«
Schweigend fuhren sie weiter. Die Luft wehte wie ein Föhn über den Caddy, abseits der Straße trieb der Wind Thumbleweeds vor sich her. Je näher sie dem Zielort kamen, desto stärker wurde das Prickeln unter Clydes Haut.
Über dem Eingang schaukelte träge ein verbeultes Blechschild mit der Aufschrift ›Luke’s Lucky Shop‹. Der Drugstore besaß weder Klimaanlage noch Zaumzeug, dafür ganze Reihen mit eingelegtem Gemüse, Chipstüten, die aussahen, als wären sie noch vor dem zweiten Weltkrieg abgepackt worden und jede Menge Plastikspielzeug.
Clyde schlenderte durch die Gänge, Marlene immer im Blick. Man konnte schließlich nicht wissen, ob die Göre auf eine dumme Idee kam. Immer wieder griff seine Hand nach dem Autoschlüssel und fuhr entspannt zurück, wenn die Fingerspitzen das Metall berührten.
»Sir, darf ich Ihnen helfen?«, piepste eine Zuckerstimme neben ihm, die zu einem feuerroten Lockenkopf gehörte. »Wir von Luke’s Lucky Shop bemühen uns um zufriedene Kunden.«
Clyde bejahte, und während er sich Gurkensandwiches, Vanilleshakes und eine Stange Lucky Strikes eintüten ließ, beobachtete er aus dem Augenwinkel, wie Marlene mit dem Toilettenschlüssel verschwand.
»Einsame Gegend hier«, sagte er.
»Oh ja, Sir. Sie sind der erste Kunde seit zwei Tagen.«
»Soso. Packen Sie noch Kaugummi und«, Clyde griff sich eine Plastikpuppe, »die hier ein.«
»Welche Sorte, bitte?«, fragte die Frau, während sie das Spielzeug kopfüber in die Tüte stopfte.
Clyde überlegte kurz. »Mandarine«, entschied er.
»Sehr gerne, Sir.«
Wir unterbrechen die Nachrichten für eine Sondermeldung, kam es aus dem Radio. Ein neuer Augenzeuge will gesehen haben, wie die Aliens in der Wüste abgestürzt sind. Unsere Reporterin Sue Whigfield weiß mehr. Sue?
»Was für ein Quatsch«, sagte die Angestellte bestimmt.
Elvis hätte seine Freude an Clydes Gesichtsausdruck gehabt. Cooler als ein Eispickel und eine Augenbraue bis zum Haaransatz hochgezogen fixierte er die Frau. Sie kicherte irritiert und fügte dann hinzu: »Ich meine, das ist doch alles Humbug. In Nevada stürzen seit Jahrzehnten irgendwelche Untertassen ab, und nie hat man Beweise gesehen.«
Clyde schielte nach draußen.
...schildern Sie uns bitte Ihre Eindrückte, Mister Flint:
Also, ich fahr’ in meinem Pickup raus in die Wüste, es is’ schon Abend. Ich wollt’ allein sein. Da seh’ ich was am Himmel. Es sin’ Lichter in allen Farben, rot, grün, gelb, blau. Ich hab so was noch nie gesehen, und ich hab schon ’ne Menge Gerüchte gehört und versäum’ nie einen Science-Fiction-Film. Meine Freunde denken, ich bin übergeschnappt, aber das bin ich nich’. Ich hab da was geseh’n, und bei Gott, das waren Aliens. Und einen Lärm ham die gemacht und einen Zirkus ham die veranstaltet, ich hab immer noch ’n Klingeln in’n Ohren.
Wie erklären Sie sich, dass Sie der Einzige sind, der den Radau gehört hat, Mister Flint?
Weiß nich’. Vielleicht hab ich ’ne Gabe, was zu hören, was andere nich’ hören. Ich hab schon oft Dinge gehört und gefühlt, die sonst niemand mitgekriegt hat. Aber es is’ immer wahr geworden. Ich bin nich’ verrückt. Da war was, ich hab’s gespürt.
Vielen Dank, Mister Flint. Ich gebe zurück in die Station zu Mike Sheffield.
Das waren ja aufregende Neuigkeiten, Sue. Mit CNB2 sind Sie immer bestens informiert. Setzen wir nun die aktuellen Nachrichten...
»Und Sie? Noch nie irgendetwas Ungewöhnliches gesehen?«, wollte Clyde wissen.
»Nein, niemals«, sagte die Angesprochene mit fester Stimme.
Ein Gefühl, das sich wie ›Ich-weiß-es-besser‹ anfühlte, kitzelte seine Bauchhöhle.
»Vielleicht sollten Sie einfach aufmerksamer sein«, rief er ihr im Gehen hinterher.
Draußen steckte er sich eine neue Kippe an, verstaute die Tüten neben Mothball auf der Rückbank des Caddys und prüfte noch einmal den Kofferrauminhalt. Zufrieden streckte er den Rücken durch, um dann zu den Toiletten zu schlurfen.
Marlene war süß. Wie sie den Schlüssel mit zwei Fingern weit von sich gestreckt balancierte, wie sie die Reinheit ihrer Schuhsohlen kontrollierte, wie sie die Nase rümpfte. Reiches Mädchen aus der Stadt fühlt sich im Kuhstall nicht wohl, dachte er. Clyde wusste, warum sie immer noch mit ihm fuhr. Er wusste ebenso, dass sie bis zum Ende der Fahrt dabei sein würde.
»Na, fertig? Gut, dann gib mir den Schlüssel.«
»Aber die zehn Dollar Pfand will ich wiederhaben.«
Clyde nickte gnädig. »Sicher.«
»Warum tanken wir nicht gleich hier?«
»Überhöhte Preise«, sagte Clyde.
Eine Stunde später machten sie an der nächsten Tankstelle Halt. Clydes Ziel lag noch zwei Stunden entfernt. Sprit im Wert von achtzig Dollar gurgelte in den Wagen.
Schweigsam setzten sie die Fahrt fort, ehe Clyde mit dem üblichen Spielchen anfing; eine halbe Stunde vor dem Bestimmungsort. Das Prickeln hatte sich inzwischen in wohlige Schauer verwandelt, die wie eine Gänsehaut über seinen Körper schwappten.
»Warum fährst du eigentlich per Anhalter durch die Gegend?«
»Aus keinem bestimmten Grund.«
»Irgendeinen Grund hat jeder.«
»Ich nicht.«
»Du bist nicht wie die andern Mädchen.«
Marlenes Gesicht erhellte sich. »Nein, das bin ich nicht.«
»Ich kenne niemanden, der sich sein hinreißendes Gesicht derart verunstalten lässt, und dann immer noch mitfährt.«
»Es sieht schlimmer aus, als es ist«, meinte Marlene kleinlaut.
»Ich kenne viele dumme Dinger, aber niemand ist derart dämlich, nach zwei Tagen nicht zu merken, dass wir Richtung Süden fahren. Und falls man Kanada nicht zufällig nach Texas verlegt hat...«
»Aber es ist mir egal, wohin wir fahren. Hauptsache weg«, entgegnete sie.
»Wirklich? Nun, ich kenne auch niemanden, der auf einem zweiten i-org die Nummern hochrangiger FBI-Agenten gespeichert hat. Guck nicht so, ich hab das Ding schon von Anfang an bemerkt.«
»Wie...« Die junge Frau schluckte.
»Und eine der Nummern gehört zufällig unserem lieben Freund hier, nicht wahr, Agent Mothball?« Clyde lachte auf. »Ehrlich, nur das FBI kann es sich erlauben, halbstarke Gören von vermeintlich wichtigen Bossen loszuschicken. Nicht mal die einfachsten Erklärungen hast du dir zurecht gelegt, Fräulein Lolita! Ihr dachtet wohl, der MacDream-Fall wäre leicht. Ihr dachtet, ich sei irgendein Tölpel aus der Wüste, nicht wahr? Klar doch! Nimm unserem Freund das Klebeband vom Mund. Na mach schon!«
Marlene zögerte kurz, dann beute sie sich zurück und gehorchte.
»MacDream, sie gottverdammter...«, presste der Agent heraus, während er nach Luft rang.
»Kein Grund, unhöflich zu sein«, sagte Clyde gut gelaunt. »Ihr seid doch noch am Leben, richtig?«
»Sie haben mich angefallen«, giftete Marlene den Agenten plötzlich an.
»Ich konnte Ihr Gesicht nicht sehen«, kam es zurück.
»Sehen Sie, was Sie gemacht haben!« Marlenes Stimme überschlug sich beinahe.
»Was mischen Sie sich auch in Angelegenheiten, die Sie nichts angehen!«
»Sie haben den Auftrag verbockt«, warf ihm Marlene vor.
»Sie verzogenes, kleines...«
»Hey hey hey«, meinte Clyde belustigt. »Schon vergessen, warum wir hier sind?«
»Natürlich nicht«, sagten die Beiden im Chor.
»Dann hört genau zu. Wollt ihr das tun?« Sie nickten widerwillig wie Schüler, denen man eine Standpauke hält.
»Ich weiß über vieles Bescheid. Beispielsweise sucht niemand nach uns. Dem FBI wäre es viel zu peinlich, eine solche Blamage zugeben zu müssen. Das heißt, keine Fernseh- oder Radiodurchsagen, keine Straßensperren. Freie Fahrt also. Schön, nicht?« Clyde warf Marlene das Päckchen Mandarinenkaugummi hinüber, das er die letzten Minuten zwischen den Fingern hatte kreisen lassen. »Ich verabscheue Gewalt, wie ich bereits erwähnte. Deshalb wollte ich auch Ihre schmucke Pistole nicht mitnehmen, Mothball. Das verstehen Sie doch. Das einzig Gefährliche hier drin ist eine Nagelfeile. Ich habe mir erlaubt, sie an mich zu nehmen.«
Marlene schnaubte, Mothballs Miene blieb unbewegt.
»Nun, das worum es aber eigentlich geht, sind nicht wir.«
Zehn Minuten später bog Clyde in eine Seitenstraße ein, der sie ebenso lang folgten. Dann rumpelte das Gefährt hinter einen kleinen Hügel und hielt.
»Sie wollten unbedingt wissen, was ich mit ihnen anstelle. Warum ich sie mir greife, und wohin ich sie bringe. Sie sind nicht die ersten. Auch das wissen Sie. Das FBI will sie ebenfalls haben. Aussteigen.«
»Warum zeigst du uns das, Clyde? Was hindert dich daran, uns nicht einfach kalt zu machen?«, flüsterte Marlene. Ihre Gesichtszüge waren festgefroren, Schweiß lief über die Stirn. Offenbar hatte sie endlich kapiert.
»Wie gesagt, ich verabscheue Gewalt. Und außerdem ist es an der Zeit, jemandem meine Sammlung zu zeigen.«
»Sie sind krank, MacDream«, sagte der Agent, »ich glaube Ihnen kein Wort.«
Clyde griff sich die Puppe vom Drugstore und Minuten später standen alle vor der Tür, die den Stollen verbarg. Die Wunden auf Clydes Wange schlossen sich bereits. Marlene hatte sich tapfer zur Wehr gesetzt, als er auch ihr die Hände hinter dem Rücken zusammengeklebt hatte.
Er scheuchte beide ins staubige Halbdunkel. Auf einer Schnur baumelten dutzende Polaroid-Bilder.
»Agent Butcher!«, entfuhr es Mothball. »Agent Nag! Agent Scourge! Agent Gout! Was haben Sie mit ihnen gemacht!« Die Schreie hallten als verzerrte Schreckensbilder wieder. Der Mann stolperte weiter. Mit jedem Schritt wurden seine Beine etwas mehr zu Gelee. »Mein Gott. Das waren alles verdammt gute Agenten.« Er übergab sich.
Clyde lachte in sich hinein. Alles klappte wunderbar.
»Du Ungeheuer!«, schrie Marlene und verfiel dann in unkontrolliertes Schluchzen.
»Wie gesagt, ich verachte Gewalt«, begann er harmlos, »wenn sie nachlässig und ohne Herzblut ausgeführt wird.« Damit griff er nach dem kleinen Revolver am Knöchel.
Ein neues Polaroid-Bild komplettierte die Sammlung. Mothball, Marlene und die Puppe. Clyde gefiel es, auch wenn sich das viele Blut nicht so gut machte.
Endlich konnte er sich dem Kofferraum widmen. Die Agenten waren eine nette Spielerei, doch der Grund, warum sie überhaupt auf ihn angesetzt waren, verbarg sich im Heck des Autos.
Clyde öffnete den Eingang und fuhr mit dem Wagen rückwärts in den Stollen bis zum Schauraum, wie er ihn nannte.
Er liebte seine Sammlung. Seit ihn vor achtzehn Jahren der Blitz getroffen hatte, konnte er präzise voraussagen, wann sich die nächsten Aliens auf die Erde verirrten. Das Prickeln wies ihm den Weg. Offenbar war er sogar in der Lage, ihren Absturzort zu beeinflussen, denn immer geschah dies in seiner Nähe.
Diese Gabe hatte sein Leben verändert. Als Erleuchteter verfügte er über das heilige Recht, Aliens zu sammeln, wann immer er ihrer habhaft werden konnte. Alle Unheiligen, die nicht fähig waren, diese fundamentale Tatsache zu verstehen, verdienten nichts anderes, als auf dem Bild einer Sofortbildkamera zu enden.
Den alten Stollen hatte er vor langer Zeit geerbt. Er erwies sich als überaus praktisch. Die Fahrzeit musste er eben in Kauf nehmen.
Bevor er sein neuestes Exemplar hinzufügte, wollte er noch die anderen betrachten. Eingelegt in riesige Bottiche, gefüllt mit Formaldehyd, konserviert für die Ewigkeit. Und alle gehörten sie ihm, ihm ganz allein.
Der Regentonnenförmige gehörte ihm. Der schwarz Gepanzerte nannte er sein Eigen. Auch das Ding, das ganz aus Zähnen zu bestehen schien, blickte ihn mit toten Augen durch die Flüssigkeit hindurch an.
Am liebsten war ihm das mintgrüne Individuum. Liliputgroß, filigraner Körper, von feinen Schuppen bedeckt, die ihn an Bonitoflocken erinnerten, und diese seltsamen Auswüchse. Zappelnd, quiekend und säurespeiend erinnerte es Clyde immer noch an Ashs Amoklauf. Lächelnd strich er über seine Narbe am Handgelenk. Dann fischte er einen Lappen aus dem Handschuhfach und drehte das Radio auf. Pfeifend fing er an, Staub von den Plaketten mit den Datumsangaben zu wischen. Perry Rhodan nur so ein Typ, dachte er kopfschüttelnd. Ein richtiges Huhn.
Das Radio rauschte. ...eine ... für Radio Station 51 mit dem ... Lance Flint. Sie haben aber noch mehr gesehen, richtig?
... also, da war der Radau, aber das ja nich’ alles ... ein Wagen, der weggefahr’n is’. S’ war so ’n großer, alter. Ein Caddy ... schwarz ... und Kamele! ... sagt man, eine Karabane, nich’? Die sin’ aber nicht gegangen ... geschwebt! Unheimlich war’s ... noch das Klingeln.
Vielen Dank, Mr. Flint ... Exklusivinterview ...
Clyde ging in Gedanken die Punkte durch, die er noch erledigen musste. Fünfzehn der vierundzwanzig Stunden waren vergangen. Ihm blieb also noch reichlich Zeit, das Exemplar einzulagern, bevor der Zwischenstation, dem umgebauten Kofferraum, der Saft ausging. Gerade dieses Prachtexemplar war in einem Stück und fast ohne Blessuren. Marlene und Mothball lagen immer noch in Fotopose. Er musste sie noch zu den anderen schaffen.
Zufrieden betrachtete er die Plaketten, sie blinkten wieder wie neu. Er ging zur Hinterseite des Wagens und öffnete den Kofferraumdeckel, während er das Tuch nach vorne warf.
»Du willst das nicht wissen«, wiederholte er noch einmal an den Alien im Kofferraum gerichtet und meinte damit die letzte Ruhestätte desselben.
Sein Arm hob sich mit dem Deckel, da entdeckte er rote Spritzer auf dem Unterarm.
Es gab viele Dinge, die Clyde MacDream mochte. Stadtbewohner, Lightbier und Blutflecken gehörten nicht dazu. Er drehte den Arm und sah noch mehr. Der Deckel hob sich weiter. Mit der linken Hand versuchte er, die Spritzer wegzuwischen.
Verflucht, so nah war ich doch gar nicht an den Beiden dran, dachte er.
Es gelang ihm nicht, sauber zu werden. Hektisch sah er sich um und wollte eben nach vorne gehen, um sich den Lappen nochmals zu greifen.
Doch seine Beine gehorchten nicht. Er sah an sich hinab. Da war eine Bewegung. Etwas war an seinem Oberschenkel. Erst jetzt bemerkte er, dass sich seine gesamte Hautoberfläche aufgeladen hatte. Alle Härchen standen ab wie elektrisiert. Er konnte ein Summen hören. Etwas Warmes lief an seinem Bein entlang. Dann ein stechender Schmerz im Bauchraum. Der Caddy hüpfte wie ein Lowrider, als sich der Alien vollständig daraus befreite.
Das letzte, das Clyde MacDream sah, war sein eigenes Blut, das aus seinem aufgerissenen Bauch spritzte. Und die Augen. Die Augen. Schwarz.