Block 2
Block 2
Die Grundidee dieser Geschichte basiert auf George Orwells „1984“
Ben hatte ein Problem mit unserem Neuen in Block 2. Es war nicht so, daß der Zicken machte oder derlei, nein, nein, es war eher so, daß der nichts machte – was Ben zweifellos den Spaß verdarb.
Und weil Ben nun mal Ben ist und die Dienstvorschriften standen, fing er an, den Kerl zu verprügeln. Ich hab ihm dabei zwar nicht zugesehen - hatte Schichtpause und war in der Cafeteria – aber ich konnte ihn hören. Ich glaube, jeder konnte ihn hören, selbst Bern, der mir gegenüber saß und einen leichten Hörschaden hatte.
„Ist das der Neue, den er da bearbeitet?“ fragte mich Bern.
„Ja, ich denke schon.“ Wie immer in so einer Situation sah ich auf meine Armbanduhr und wartete auf das Brüllen, das sich sofort einstellen mußte. Aber der Neue gab keinen Ton von sich. Ich zuckte mit den Schultern. Das alles war nur eine Frage der Zeit.
Bern rührte in seiner Kaffeetasse und sah die eingebauten Lautsprecherboxen an den Wänden an, durch die wir die Schläge hörten. Züchtigung war etwas, was immer gerne gehört wurde. Jedenfalls in Block 2, über die anderen Blöcke wußten wir nicht viel.
„Wenn er ihn weiter schlägt, ist der Kerl tot - noch bevor er in die Kammer darf“, sagte Bern. Seine stechend grünen Augen durchbohrten mich regelrecht.
„Ja“, antwortete ich ihm.
„Wann mußt du wieder rauf?“
„Jetzt gleich.“
„Meinst du, der Neue ist so ein Jesusfutzi?“
„Ich weiß es nicht. Aber Jesus gab es nie und Jesus wird es auch nie geben. Du weißt doch, daß man das wissenschaftlich erwiesen hat... Es ist verboten, heutzutage noch an ihn zu glauben“, antwortete ich. Mir ging dieses bescheuerte Frage-und-Antwort-Spiel allmählich auf den Senkel. Also sah ich zu, daß ich so schnell wie möglich meinen Kaffee trank und Schicht 4 übernahm. Warum ich anfing, alte Kamellen hervor zu kramen und Bern davon voll schwatzte, was damals Sache war, weiß ich nicht.
Immer noch waren die Schläge zu hören. Und immer noch konnte man einfach kein Wimmern, kein unterdrücktes Schreien oder dergleichen wahrnehmen.
„Natürlich halten sich manche nicht an das Gesetz. Weshalb sie ja auch hier sind, Bern“, fügte ich hinzu. Ich mußte mich rasieren. Ich bekomme, wenn ich einen Bart habe, immer Bartläuse. Ist etwas mächtig Unangenehmes, was mir 2055 sogar ein paar Probleme einheimste, als es darum ging, einen Gefangenen zu verprügeln, der von Gottes Gnaden sprach.
Ich trank meinen Kaffee aus und stand auf.
„Gehst du?“
„Ja.“
„Es ist bestimmt wieder so ein Jesus-Christen-Futzi. So heißen sie doch, nicht wahr? Oder Glaubensbrüder? Ich weiß es nicht mehr. Mein Job ist es ja nicht, denen ihre Weltanschauung zu kennen. Mein Job ist es, sie zu verprügeln, wenn sie nicht gehorchen. Und wenn sie schreien, dann ist das wie ein Geschenk. Ich meine; wenn sie schreien, dann kommen sie in die Kammer. Die Kammer ist etwas wunderbares, sie reinigt ihren Geist... Haha!“
Bern hatte heute wirklich eindeutig ein Problem mit seinem Redefluß. Dabei hatte er nur noch knapp 6000 Worte für den heutigen Tag zur Verfügung. Wenn er so weiter sprach, würde er letzten Endes auch noch in der Kammer landen, die ihm dann die Seele reinigte.
Das letzte Aufbäumen des Christentums war Anfang des 21. Jahrhunderts gewesen. Danach starb es allmählich aus. Das lag daran, daß 2030 Adolf Magussi den absoluten Beweis für die Nicht-Existenz eines Gottes lieferte. Gleich darauf, 2033, wurde schließlich die Welt gereinigt... Besser gesagt; es wurde mit der Reinigung begonnen. Bern und ich arbeiteten in so einer Reinigungsstation. Unsere Aufgabe war es, den Irrglauben aus unseren Brüdern und Schwestern heraus zu schlagen, heraus zu brennen. Das Feuer konnte Wunder wirken. Schmerzen konnten ein ganzes Denksystem umändern. Wir machten uns „1984“ von George Orwell zum Vorbild einer besseren Welt. Wobei wir von Überwachungsstationen an öffentlichen Orten natürlich auch nicht absahen, die den Überwachungskameras in Orwells Roman recht nahe kommen.
Bern dachte mir eindeutig zuviel über diesen Neuen nach. Vielleicht gehörte der Jesusmann ja den Extremen an. Die Extreme lassen sich extra die Stimmbänder herauslasern, damit sie nicht schreien können. Das wurde ihnen meistens kurz nach der Festnahme zum Verhängnis, wenn es darum ging, Schmerzensschreie heraus zu lassen, um mildernde Umstände zu bekommen – zumindest bei mir bekamen sie die meistens nach einem Schreianfall. Aber genug dazu. Ich sah auf die Uhr. Es war allerhöchste Zeit, Schicht 4 zu übernehmen. Wenn Brutal die Schicht in Block 2 während meiner Abwesenheit übernommen hatte, war der Typ bestimmt schon tot. Brutal würde nämlich keine Gnade walten lassen. Er würde diesen Jesuskerl nicht ohne ein Geständnis in die Kammer stecken, wie Bern und ich das manchmal taten. Wider allen Vorschriften, natürlich. Wenn sie uns dabei erwischten, kamen wir selbst dran.
Ich stellte die Kaffeetasse ab und ging nach oben, ohne auch nur ein weiteres Wort an Bern zu verlieren. Ich hatte zwar noch an die 10000 frei, aber ich wollte sie für zu Hause - für meine Frau - aufheben. Das hatte ich mir für heute fest vorgenommen.
Ich ging nach oben in Block 2. Ich durchschritt alle Sicherheitsvorkehrungen, einschließlich der Speichelprobe – und betrat Zimmer Nummer 2, in dem geschlagen wurde.
Ben beugte sich tief über den Gefangenen, der eine Menge Blut verloren hatte. Als er die Tür aufgehen sah, drehte er sich zu mir um.
Gott sei Dank – es war nicht Brutal.
„Wieder einer von den Extremen“, sagte Ben schulterzuckend.
Der Kerl lag verabscheuungswürdig in seiner eigenen Blutlache, die sich mit seinem Speichel vermischte.
„Stecken wir ihn in die Kammer“, sagte ich teilnahmslos.
Ben zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht... Ich weiß nicht... Wenn Brutal uns erwischt...“
Die Kammer war gnädiger. War auf jeden Fall ein schnellerer Tod für einen von denen, als ständige Prügel mit Pausen dazwischen. Ich wußte das. Bern wußte das. Ben wußte das.
„Jetzt hilf mir, ihn hoch zu heben“, sagte ich und packte an.
Der Typ war nur noch Haut und Knochen. Er war halbnackt, wie es sich für einen Gefangenen gehörte. Er starrte uns mit weit aufgerissenen, dunklen Augen an. Seine Augenfarbe war nicht stechend, wie die unsere, nein, seine Augenfarbe verriet schon, daß er ein Verräter war. Ein Gläubiger. Oder wie auch immer man sie bezeichnen mochte.
„Okay, in die Kammer mit ihm.“
Der Kerl sträubte sich kaum. Er war zu schwach dazu. Nur einmal unternahm er den Versuch, mir seine knochige Hand auf die Schulter zu legen. Aber ich konnte sein häßliches Handgelenk vorher packen und herumdrehen, ehe er mich auf diese Art und Weise berühren konnte - und meine Abzeichen beschmutzte.
Sein Haar war schwarz und fettig. Es hing ihm in die Stirn. Es war schulterlang. Schulterlange Haare waren verboten. Ich wunderte mich, warum man ihn uns nicht schon eher gebracht hatte.
„Scheiße, du siehst ja aus wie Jesus Christus, kleiner Pisser!“ lachte Ben und klatschte in die Hände. Komisch, daß ihm das erst jetzt auffiel. Aber er war nun mal ein komischer Kerl.
„Hör auf damit und hilf mir, ihn in die Kammer zu bringen“, ermahnte ich ihn. Er hatte noch 9000 Worte zur Verfügung. Ein großer Mist für mich. Man würde ihm die Kehle also erst nach 9000 Worten durchschneiden. Das war wirklich jammerschade – haha!
Aber Ben hörte nicht damit auf. Er konnte es nicht. Ich sah es in seinen stechend gelben Augen; die Hysterie, die Begeisterung ergriff von ihm Besitz.
„Weißt du, daß der Typ nicht mal einen Mucker gemacht hat, als ich ihn geschlagen habe? Ich meine; machen nicht selbst die Extremen Mucker, wenn man ihnen weh tut?“
Mir gefiel seine Fragerei nicht. Man merkte, daß er Berns Bruder war und das gefiel mir noch weniger. Es kam nicht oft vor, daß Brüder in Block 2 arbeiteten.
„In die Kammer“, ermahnte ich. Der Typ in meinen Armen wehrte sich nicht. Er fühlte sich wie ein nasser Sack Kartoffeln an. Und er versaute mir meine Uniform.
„Jaja, schon gut, schon gut. Aber er sieht doch so aus, wie wir uns Jesus immer vorgestellt haben... Ich meine, wie SIE sich Jesus immer vorgestellt haben...“
Wir waren nach der Großen Glaubensbefreiung geboren worden. Ben laberte Scheiße, das wurde mir in diesem Moment so richtig bewußt. Aber wenigstens half er mir jetzt.
Der Kerl wehrte sich nicht, als wir ihn in die Kammer warfen. Ben konnte es sich – wie immer - natürlich nicht verkneifen, den dürren Mann mit seinen langen, fettigen Haaren anzuspucken, als er auf dem Boden lag, der ihm gleich die Haut in Fetzen brennen würde.
Er sah uns an.
Ich spürte, wie mir eine Gänsehaut über den Rücken lief. Das war nicht üblich, weil ich meinen Job seit etlichen Jahren ausübte. Es war ein guter Job. Sicher, ohne Grausamkeiten ging es nicht, aber das war schließlich auch bei den Polizisten im 20. Jahrhundert so gewesen, nicht wahr? Ich war nichts anderes für Block 2: Ich war ein Polizist, der bestrafte. Ein Richter. Ein Henker. Nichts anderes – und es war ein guter Job, es war ein wirklich guter Job...
Aber als der Junge mich ansah, dessen Alter ich nicht schätzen konnte, als er mich SO ansah, bekam ich eine Gänsehaut. Für eine Sekunde überlegte ich mir, ob es nicht ratsam wäre, ihn einfach hier raus zu holen. Vielleicht konnte er lernen, vielleicht...
... Aber was tat er denn gerade? Er lernte. Er lernte und ich zweifelte. Zweifel waren ein Todesurteil, wenn sie jemand mitbekam.
Also wies ich Ben an, die Tür zu schließen. Viele Gefangenen drehten genau an dieser Stelle durch; sie standen auf und rannten mit voller Wucht gegen die Tür, hauten gegen die Plexiglasscheibe, die einen direkten Blick auf sie freigab – oder taten Dummheiten dieser Art. Manche tobten. Manche wurden ohnmächtig und wir mußten warten, bis sie wieder aufwachten.
Der Kerl da wurde aber nicht ohnmächtig. Er tobte auch nicht.
Er kniete nieder und faltete die Hände zum Gebet.
„Wie will ein Stummer beten? So ein Idiot! So ein Jesus-Junkie! HAHA!“ Ben stand voller Euphorien neben mir. Ich starrte den Kerl an. Gleich würde es los gehen. Gleich würde ich hinter das Pult gehen, und...
... plötzlich sah ich dem Kerl in die Augen. Etwas lag in ihnen. Etwas Anderes. Wie konnte er bei seiner Aufmachung nicht früher hier her gelangt sein? Es war mir ein Rätsel. Ich haßte Rätsel. Es ging mir die ganze Zeit durch den Kopf... Klick klack klick klack...
Plötzlich bewegte sein Anblick etwas in mir. Ich wußte, daß das gegen die Vorschriften war. Ich wußte, daß ich anfing, Mitleid zu empfinden – nach so vielen Jahren, nach...
„Geh raus. Du hast Pause“, sagte ich zu Ben und mied es, ihn anzusehen. Er hatte herum gekichert wie blöd. Er hatte sich so aufs „Große Hüpfen“ gefreut, wie er es ständig nannte.
Ich stellte mich hinters Schaltpult.
Heute solltest du mal `ne Pause machen, Benny-Boy. Heute gibt’s kein „Großes Hüpfen“, das nächste Mal wieder, aber nicht heute – dachte ich.
„Aber...“, widersprach der widerliche, kleine Junge. Ich haßte ihn. Plötzlich haßte ich ihn.
„Geh‘ raus.“
Er knurrte etwas.
Du willst dabei sein, wenn es los geht, nicht wahr? Schoß es mir durch den Kopf. Abscheu. Ich empfand Abscheu für ihn – nichts Leichteres als das, nichts! Aber ich war nicht besser als er. Ich hatte in dieser Kammer schon etliche Menschen sterben sehen. Ich hatte schon etliche Gendarmen dazu aufgefordert, die verkohlten, stinkenden Leichen von der Großen Herdplatte zu kratzen. Ich war wirklich keinen Deut besser als Ben.
Der Jesusmann. Ich spürte, wie er mich anstarrte. Ich hatte Mühe, gleichgültig drein zu sehen.
Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, stampfte Ben trotzig und beleidigt in die Cafeteria. Wenn er quatschte, konnte das Folgen haben.... Wenn er den Mund auftat und vielleicht mit dem Sergeant redete... Hui, dann würde es wirklich schlecht um mich stehen...
Aber das war’s mir wert. Ich ertrug Ben nicht länger. Ich haßte, ich VERABSCHEUTE seine dämliche Fragerei. Seine beschissene Anwesenheit.
„Stehen Sie auf“, sagte ich ins Sprechmikrophon. Ich erinnerte mich immerzu an meine Haltung; der Kerl war NUR ein Gläubiger. Ich mußte ihn züchtigen – ich mußte, verdammte scheiße, ich mußte!
Der Jesusmann kniete immer noch auf dem Boden. Seine Hände waren immer noch gefaltet. Sein Leib zitterte, aber der Rest an ihm, der Ausdruck in seinen dunklen Augen, war ganz ruhig.
„Stehen Sie auf. Sie werden früh genug fallen.“
Ich siezte ihn, obwohl ich ihn nicht siezen durfte. Siezen war ein Ausdruck von Respekt. Es war verboten, einem Gefangenen mit Respekt entgegen zu treten. Erst recht bei einem Extremen.
Er starrte mich an. Ich war sicher, daß er mich hörte.
Ich betätigte Stufe 1, die alle Geräte erst mal mit Strom versorgte.
Hör auf, mich anzustarren! Hör auf damit!
Aber er hörte nicht auf.
„Sie bekommen 10 Sekunden um aufzustehen.“
Das leise Summen setzte ein.
Und dann ging’s los. Dann geschah das Wunder.
Ich mußte an die Bibel denken, die ich nie gelesen hatte. Ich hatte durch Zufall mal von meiner Mutter etwas über die Schöpfungsgeschichte erfahren. Das ist verboten, ich weiß, aber sie hatte es mir damals erzählt – wie eine Gute-Nacht-Geschichte. Ich wußte sie aber nicht mehr. Ich wußte nur noch, daß ich sie vorgelesen bekommen hatte... Oder, halt nein; ich hatte sie nur gehört. Ganz sicher. Ich hatte sie wirklich nur gehört.
Daran mußte ich denken, als ich den Hebel umlegte. Als ich ihn auf Stufe 2 stellte. Stufe 2 war der Auslöser. Mit ihm ging’s los. Stufe 4 war der extreme „Brutzelgang“, wie Ben es gerne nannte. Und Stufe 3 war... War meistens für viele schon das Ende.
Wir brauchten den Gefangenen nicht die Kleider ausziehen. Der heiße, kochende Boden würde alles versengen. Und wenn sie Kleider am Leib hatten, dann war das meistens gerade recht. Dann war das wie ein Abenteuer. Die meisten Polizisten in Block 2 – besonders Brutal – liebten es, den Gefangenen, den Extremen, den Gläubigen dabei zuzuschauen, wie sie langsam verbrannten. Wie ihre Hautfetzen auf dem Boden klebten und an ihnen zerrten, wie sie schrien, wie sie die Augen aufrissen... Wie man schließlich kurz vor ihrem Tod das Weiße der Augen sehen konnte... Wie ihre Haare versengten – nur einmal habe ich erlebt, wie einer Feuer fing. Und am Besten war es, wenn sie zum ersten Mal zu Boden gingen. Wenn sie wie ein nasser Sack auf den heißen, glühenden Boden plumpsten... Wenn sie schrien, wenn sie versuchten, wieder aufzustehen – aber ihre eigene verbrannte Haut sie daran hinderte.
Der Geruch von verbranntem Fleisch war schrecklich. Wir hatten eine Abzugshaube, ähnlich der Dunstabzugshauben des 20. Jahrhunderts – aber manchmal war sie kaputt und wir mußten den Gestank ertragen. Das erste Mal, als das geschah – wir waren gerade dabei, einen Fettsack zu rösten – kotzte ich mir die Seele aus dem Leib.
Aber wozu das alles erzählen? Der Kerl mußte verbrannt werden. Er mußte gegrillt werden. Er hatte Schuld, ich hatte meine Befehle – und fertig.
Stufe 2.
Zuerst tat sich überhaupt nichts, dann sah ich, wie er die Augen weit aufriß. Er war immer noch auf den Knien. Ich rechnete damit, daß er gleich in die Höhe schießen würde – aber das tat er nicht. Er starrte mich nur mit seinen komischen Augen an. Seine Lippen bewegten sich lautlos.
Sonst tat sich nicht viel. Damit ich hier nicht auch noch die Nacht verbringen mußte, schaltete ich auf Stufe 3.
Jetzt begann er zu schreien. Er schrie, obwohl er stumm war. Ich konnte es hören. Eine Gänsehaut lief mir über den Rücken und machte meine Hände zittrig. Was war los mit mir? Ich tat so, als würde ich zum ersten Mal jemandem die Seele reinigen. Mitleid war beim besten Willen eine Tugend, die ich mir nicht leisten konnte.
Der Kerl fing an zu rauchen. Und plötzlich geschah es. Plötzlich stand er tatsächlich noch mal auf, nachdem er nach vorn gefallen war und sich mit den Händen abgestützt hatte. Er stand auf. Ich konnte die Haut sehen, die sich von seinen Füßen abschälte. Ich konnte sie riechen, obwohl die Abzugshaube nicht kaputt war und den Gestank nach draußen beförderte.
Er stand auf.
Ratsch. Ratsch. Er ging. Tapp. Tapp. Tatsächlich, er ging mit diesen Stumpen von Füßen auf mich zu. Er ging. Er ging. Tapp. Tapp. Ratsch. Ratsch.
Ich unterdrückte einen leisen Aufschrei und wich zurück. Das hatte noch keiner getan. Niemand war wieder aufgestanden, wenn er einmal gefallen war. Wenn die Hitze sein Fleisch bereits herausgerissen und verbrannt hatte.
Er tat’s. Und damit nicht genug; er kam auf die Plexiglasscheibe zu. Er konnte mich sehen. Seine weit aufgerissenen Augen klebten an mir. Ich hatte das Bedürfnis, mich vor ihnen zu verstecken – aber ich wußte, daß er mich überall anstarren würde. Selbst durch eine Wand hindurch. Er hinterließ eine Spur, wie jeder Mensch eine Spur hinterläßt, wenn er am Strand spazieren geht. Oder wenn er über einen Mehlboden geht. Seine Spuren unterschieden sich nur dadurch von normalen Spuren, weil sie aus schwarzem Fleisch bestanden und rauchten.
Seine Unterlippe zitterte. Das unheimliche Geräusch, als er ging, konnte ich fast fühlen.
Er drückte eine verkohlte Hand an die Plexiglasscheibe. Ich konnte sie sehen. Mein Gott, ich konnte sehen, wie das pure Fleisch... Wie die Knochen... Wie... Mein Gott.
Mir wurde schlecht. Ich wollte mich abwenden, aber ich konnte es nicht. Ich mußte ihn anstarren, so, wie er mich anstarrte.
Er bewegte lautlos die Lippen. Und plötzlich war mir, als würde ich eine Stimme hören. Plötzlich war mir, als würde ich verstehen, wer er war, was er hier machte, warum er erst jetzt hier war, und warum er... ein zweites Mal sterben mußte, so kurz nach seiner Auferstehung.
Wer war er gewesen? Was für eine Vergangenheit hatte er gehabt? Hatte Gott ihn nicht verlassen?
Sie hatten uns durchaus von Jesus Christus, von Gott und von der Lehre des Christentums erzählt, fiel mir ein. Sie hatten davon aber nur erzählt. Nur vom Christentum. Niemals hatten wir von den Taten erfahren, niemals von den Geschichten, die in der Bibel standen.
Ich wußte nicht viel, aber was ich wußte, reichte aus, um zu schreien.
Ich schrie und schrie und schrie.
Warum? Fragte er. Fragte er mich mit nur einem Blick.
Warum?
Dann kippte er um und war tot. Die Augen weit aufgerissen. Die langen Haare bis zur Kopfhaut von der Hitze zerfressen.
Ich drehte mich um und übergab mich wie seit langem nicht mehr.
Ich hatte niemandem davon erzählt. Ich ging nachdem ich gekotzt hatte und der Jesusmann gestorben war, nach unten in die Cafeteria und holte Ben. Er sollte die Sauerei in Zimmer 2 wegmachen. Oder einer von den Gendarmen, das war mir gleich. Hauptsache irgendein anderer. Ihn würde ich dazu beauftragen... Das war vielleicht keine so gute Idee, in Anbetracht dessen, daß ich ihn kurz zuvor aus Zimmer 2 geschmissen hatte, aber daran dachte ich nicht.
Ich setzte mich an den Tisch zu Bern.
„Hey, Scheiße, wie siehst du denn aus? Hast du gekotzt? Hat wieder einer angefangen zu stinken?“
„Nein.“
„Nicht gekotzt?“
„Doch.“
„Und hat er gestunken? Erzähl, erzähl doch davon!“
Ich sah ihn nur an. Ich muß ihn erschreckt haben, denn er drehte sich von mir weg und zuckte mit den Schultern, als Ben zur Tür herein kam.
„Jemand muß die Scheiße wegmachen“, sagte ich.
„Geht klar“, sagte Bern und hielt den Daumen für OK in die Höhe.
„Was dagegen, wenn ich nach Hause zu meiner Frau gehe? Mal etwas früher Schluß mache?“
„Nee, wieso auch? Es ist nur noch einer zu versenken. Das kann ich machen“, sagte Bern. Ich konnte ihn nicht ansehen. Ich hätte gekotzt, wenn ich ihn angeschaut hätte, da war ich mir sicher.
„Gut.“
Ich stand auf und ging nach Hause zu meiner Frau. Ich sprach nie über diesen Vorfall – warum auch, es hätte sowieso niemand verstanden. Ich verstand es ja auch nicht.
Vielleicht war nun endgültig das Christentum ausgestorben, ich weiß es nicht. Vielleicht hatte es Gott nur nie gegeben, aber Jesus Christus schon. Und wieso kam er dann zurück? Was und wer sagte mir eigentlich, daß er überhaupt zurück kam? Nur weil der Kerl aufgestanden war und ich mir eingebildet hatte, seine stumme Stimme zu hören?
Irgendwann hörte ich auf, darüber nachzudenken. Das mußte ich schon zwangsläufig, denn ich hatte eine Frau und ein Kind zu ernähren. Und Block 2 war mein zweites zu Hause.
Noch 5000 Wörter. Und keine neue Welt.
Auch nicht für den Jesusmann.
(c) Stefanie Kißling, 22 - 23. März 2002
[Beitrag editiert von: stephy am 07.04.2002 um 21:28]