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Blitzschläge aus heiterem Himmel
Montag, 20.00 Uhr:
Es ist Abend. Ich sitze beim trauten Lampenschein am massiven Schreibtisch meines Arbeitszimmers und male Buchstaben und Zahlen auf ein Bündel bunter Formulare. Es ist zwar nicht ganz einfach, die Steuererklärung selbst zu machen, aber ich will kein Geld für sogenannte Experten ausgeben, die an meinen finanziellen Angelegenheiten nicht soviel Anteil nehmen wie ich selbst es tue. Mein Arbeitszimmer liegt im ersten Stock dieses Anwesens. Draußen im Scheinwerferlicht steht ein dunkelblauer Jaguar, mein Auto, das in den Formularen nicht vorkommt, weil es streng genommen gar nicht mir gehört sondern der Firma. Ich würde gerne den Kleinwagen meiner Frau als Firmenwagen deklarieren, der zuständige Beamte meines Finanzamtes hat mir aber davon abgeraten. Ich weiß auch, dass ich die Ausgaben für den Fitnessraum, die Sauna, das Hallenbad und den Hobbyraum nicht als Betriebskosten für Büroräume angeben sollte. Man ist schließlich kein Anfänger... Kein Problem dürfte es dagegen sein, den Tauchurlaub in Ägypten mit Frau und Kindern als Dienstreise geltend zu machen.
Ich schätze die Steuererklärung als Möglichkeit, wieder einmal über mein Leben Bilanz zu ziehen und in mich zu gehen: männlich, 41 Jahre, verheiratet, zwei Kinder.
Zum Glück arbeitet meine Frau. Sie ist Oberärztin in einem nahegelegenen Krankenhaus und bezieht ein recht anständiges Gehalt, auch wenn man bedenkt, dass sie pro Woche sechzig Stunden und mehr arbeitet. Meine Frau jammert mir die längste Zeit schon die Ohren voll, ich solle eine Haushälterin einstellen. Sie sei nicht in der Lage, neben der Arbeit in der Klinik auch noch den Haushalt zu versorgen. Sagt sie.
Natürlich bin ich dagegen! Die Gehaltsforderungen des Hauspersonals werden immer unverschämter, in Zeiten wie diesen. Sinnend schaue ich aus dem Fenster auf die gestutzten Hecken in unserem Garten, die ich im Licht der Außenscheinwerfer gerade noch erkennen kann.
Meine Frau wirkt oft so abgespannt und mürrisch. Kein Wunder, dass ich sie sexuell nicht mehr begehrenswert finde, und mir meine Zuwendung bei Prostituierten holen muss. Ich selbst sitze im Vorstand eines nicht ganz unbedeutenden Unternehmens und bin ansonsten beruflich und privat vollauf zufrieden.
Die Tür öffnet sich, und meine achtjährige Tochter stürmt herein. Sie trägt eine viel zu weite Jacke, das gute Kind, und die Hosen sind von ihrem großen Bruder, viel zu weit und viel zu lang. Die Kinder wachsen ja so schnell, dass es sich gar nicht lohnt, ihnen ständig neue Sachen zu kaufen.
Sie fragt: „Pappi, hilfst du mir bei den Hausaufgaben?“
Wenn sie mich so ansieht, ist sie ganz allerliebst, mein kleiner Schatz. Ich sage freundlich: „Der Pappi hat jetzt keine Zeit. Frag doch die Mammi oder Deinen großen Bruder.“
Verlegen sieht sie mich an, und sagt: „Du, Pappi... kann ich dich etwas fragen?“
„Kind, du siehst doch, dass ich beschäftigt bin, was fragst du also?“
Im nächsten Moment bereue ich meine Worte schon, weil sie in Tränen ausbricht. Beim hinausgehen säuselt sie noch: „Du, Pappi...ich hab dich lieb!“
„Ich hab dich auch lieb, mein Kind. Bitte sei so freundlich und mach die Tür zu, wenn du rausgehst.“
Endlich wieder ungestört! Letzte Woche hat eine Lehrerin angerufen, und behauptet, das Kind sei emotional vernachlässigt. Bei meinem Sohn haben sie das gleiche gesagt, und er studiert heute Informatik, der schlaue Kerl. Wozu also das Geschrei? Er ist gerade mal 19 Jahre alt, und steht schon auf eigenen Füßen. Wir haben ihn zur Selbständigkeit erzogen. Heute beklagt er sich noch, weil ich von ihm Miete verlange und ihm Essen, Heizung, Strom und Telefon in Rechnung stelle. Irgendwann wird er mir dankbar sein. Mein Sohn redet kaum ein Wort mit mir. Das muss wohl so sein: Als Vater bin ich der Knochen, an dem er seine Zähne schärft.
Dienstag, 10.00 Uhr:
Wir sitzen im Büro und bereiten uns auf die Vorstandssitzung vor. Ich bin etwas irritiert, denn auf dem Weg in die Firma hat mich ein Bettler angesprochen. Ich kenne ihn von früher. Er hat vor einem Jahr noch in unserer Abteilung für Forschung und Entwicklung gearbeitet. Die zerlumpte Gestalt hatte kaum mehr Ähnlichkeit mit dem Mann, der für uns tätig war. Er soll im letzten Jahr viel Pech gehabt haben. Wir mussten ihn entlassen, zusammen mit den anderen aus seiner Abteilung. Unter uns gesagt: Ich habe nie verstanden, wozu diese Klugscheißer eigentlich gut waren. Im Rahmen meines Sanierungsplans ist es mir gelungen, die ganze Abteilung zu schließen, was den Aktienkurs unseres Unternehmens um mehrere Prozentpunkte in die Höhe trieb. Eine Woche lang hat sich die Wirtschaftspresse um mich gerissen: Der Mann, der den Mut hat, neue Wege zu gehen! Ein radikaler Paradigmenwechsel!
Seither machen wir alles wie wir es immer gemacht haben, und sind damit relativ erfolgreich.
Der Mann, der mich vorhin auf der Straße angesprochen hat, erlebte auch eine private Krise: Seine Frau hat ihn betrogen. Das hat er nicht verkraftet. Ich kenne sie. Hatte eine zeitlang eine Affäre mit ihr.
Genug von den alten Geschichten! Auf der Vorstandssitzung heute will ich den Abbau eines Drittels der Beschäftigten in der Produktion durchsetzen. Was sich da alles einsparen lässt, ist noch gar nicht abzusehen...
Die Angestellten meines Stabes wuseln durcheinander wie die Arbeiterinnen in einem Bienenstock. Sie bearbeiten Unmengen von Akten, flitzen zwischen Gummibäumen hin und her, tätigen Anrufe und erstellen Präsentationen, um meinen Standpunkt so gut wie möglich zu vertreten. Seit wir die neuen Büros bezogen und eine Reihe von Planstellen geschaffen haben, können wir endlich so professionell arbeiten wie ich es mir immer gewünscht habe. Jetzt kann ich gemütlich mein Kreuzworträtsel lösen, während mein Stab alles vorbereitet.
Die Hauptlast trägt meine Chefsekretärin. Eben kommt sie zur Tür herein, und bringt mir eine Tasse Kaffee, schwarz mit wenig Zucker.
„Parasitäre Lebensform mit vier Buchstaben. Haben Sie eine Ahnung, was das sein könnte?“ frage ich launig.
Sie giftet mich an, und erwidert: „Wie wäre es mit MANN?“
Sie hat die Nacht durchgearbeitet, das gute Stück. Soll sie ruhig lästern! Hündinnen die bellen, beißen nicht. Ich sage: „MANN geht nicht. Der vierte Buchstabe ist ein S.“
Dienstag, 14.00 Uhr:
„Wie nennt man es, wenn ein Schwarzer sich am Nachmittag niederlegt?“
Die versammelten Vorstände, mittleren Manager, Direktoren und Experten am großen Konferenztisch wissen es nicht. Sie sehen mich nur stumm an.
„Ein Niggerchen!“ pruste ich los, „Verstehen Sie? Ein Niggerchen! Er macht ein Niggerchen!“
Die Stimmung im Konferenzraum wandelt sich, und aus allen Gesichtern schlägt mir Kälte entgegen. Vorstandssitzungen sind auch nicht mehr, was sie mal waren...
Mir gegenüber sitzt Dr. Peter Owambo, der Direktor unserer Niederlassung in Kenia. Die Lippen zusammengepresst, mit einem Gesicht so schwarz wie Ebenholz schaut er zu mir herüber. Er soll sich aus eigener Kraft vom Bauernjungen zum Manager hochgearbeitet haben, und an der London School of Economics Viertbester seines Jahrgangs gewesen sein. Sinn für Humor hat er nicht.
Dienstag, 20.00 Uhr:
Wieder zu Hause. Ich habe mich ins Arbeitszimmer zurückgezogen, um nicht ständig das anklagende Gesicht meiner Frau vor mir zu haben. Mein Sohn ist unten in der Küche. Er wollte eine Aussprache. Wofür hält er sich? Er soll sich einen Termin bei meiner Sekretärin geben lassen, wie alle anderen auch.
Es klopft, und mein Vater steht in der Tür. Er ist ein drahtiger Mann von 80 Jahren, der gern in unserem Haus und im Garten mithilft, um eine sinnvolle Beschäftigung zu haben. Das hält ihn jung! Wieder einmal redet er auf mich ein. Er will zu uns ziehen.
„Dann könnte ich das Haus und das Grundstück besser in Ordnung halten, soweit es mein Gesundheitszustand eben noch zulässt,“ sagt er.
„Ich bin alt, und ich will meine letzten Jahre im Kreise meiner Familie verbringen,“
sagt er.
Ewig das gleiche Gejammer! Mein Vater und ich wohnen seit zwanzig Jahren getrennt. Ich sage: „Vater, wir haben so ein gutes Verhältnis aufgebaut. Willst du das nun gefährden, indem du zu uns ziehst?“
Ich will keinen rührigen alten Mann in meinem Haus. Er sollte in der Lage sein, für sich selbst zu sorgen. Er ist alt genug.
Mittwoch, 19.00 Uhr:
Schreckliche Dinge sind geschehen!
Gewisse Kräfte in der Firma haben sich zusammengerottet und beschlossen, mich aus dem Vorstand zu werfen. Die Intriganten werfen mir vor, Nepotismus zu betreiben (Nichts Böses ahnend, habe ich das Wort notiert, falls ich es einmal für ein Kreuzworträtsel brauche: NEPOTISMUS. Zehn Buchstaben).
Mein Sohn und zwei Neffen von mir haben nämlich eine Internetfirma gegründet, die ihren Sitz in den ehemaligen Räumen unserer Forschungs- und Entwicklungsabteilung hat. Sie werfen mir auch vor, ich hätte Informationen an die Konkurrenz verkauft. Dieses scheinheilige Gesindel!
In solchen Momenten ist es gut, wenn man sich in ein warmes Nest kuscheln kann. Doch seltsamerweise sind meine Frau und die Kinder heute so ernst. Jetzt schickt sie sie hinaus, sieht mich fest an, und eröffnet mir, dass sie sich scheiden lassen will.
„Wie bitte? Komisch, ich glaube, ich habe etwas mit den Ohren. Mir ist doch tatsächlich vorgekommen, du hättest gesagt, dass du dich von mir scheiden lassen möchtest. Das Muss der Stress in der Firma sein. Der macht mich noch ganz verrückt.“
(nervöses Lachen)
Sie sagt: „Es stimmt. Fritz, ... du weißt, dass wir uns nichts mehr zu sagen haben. Schau, du... wir...“ (Sie seufzt)
Vorsichtiges Gestammel und böse Vorwürfe. Ich will es nicht hören! Und überhaupt: Wir haben eine achtjährige Tochter und ein gemeinsames Haus. Die Lebensversicherung, das Studium und die Firma unseres Sohnes, das Leben, das wir uns aufgebaut haben.
Sie schüttelt nur den Kopf und gesteht mir, dass unsere Tochter nicht von mir ist. Ich sinke zusammen wie unter einem Faustschlag.
„Besser, du erfährst es jetzt,“ sagt sie. Dann lässt sie mich allein, und mir ist, als nähme ich ein Zucken ihrer Schultern wahr. Sie weint. Ist denn die ganze Welt verrückt geworden?
Ich schleiche über die Treppe nach oben. Die Geschichte von Hiob, dem frommen Dulder, kommt mir in den Sinn. Es gibt solche Momente im Leben eines Mannes, wo sich alles gegen ihn verschwört. Bei diesen Gelegenheiten muss man sich tapfer seinem Schicksal stellen. Jetzt ist es gut, wahre Freunde zu haben, die einen verstehen und zu einem halten, egal was kommt. Leider habe ich keine solchen Freunde. Alle haben sich im Laufe der Jahre von mir abgewandt, diese Undankbaren!
Ich blättere im Telefonverzeichnis, da fällt mir mein alter Vater ein. Er wird mich verstehen, er, der mich schon mein ganzes Leben lang kennt. Ich bekomme ihn an den Apparat, höre seine vertraute Stimme, und glaube, ich kann meinen Ohren nicht trauen. Er brummt: „Ich habe keinen Sohn mehr!“ und legt den Hörer auf.
Wofür hält sich der alte Trottel? Für König Lear?
Was ist bloß mit dieser Gesellschaft los, dass es im Geschäftsleben keine Loyalität mehr gibt, dass Familien zerfallen, Väter sich von ihren Söhnen abwenden und rechtschaffene Männer ihre Lebensplanung überdenken müssen, weil es von allen Seiten Hiebe regnet, die einen treffen wie Blitzschläge aus heiterem Himmel???
Ich weiß nicht, was es ist, aber es ist bedauerlich, und es macht mich traurig.