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Blinzeln
Wenn alle Freunde tot sind, hat es dann noch Sinn, zu leben?
Anja wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie hatte sich selbst versprochen, nie wieder in ihrem alten Tagebuch zu lesen. Doch wie so viele davor, hatte sie nun auch dieses Versprechen gebrochen. Sie stand von dem Stuhl auf und legte das Tagebuch mit zittrigen Händen auf den Esszimmertisch. Dieser eine Satz, diese letzten Worte, die sie jemals niedergeschrieben hatte, in jenes Buch, welches einst der Tresor von schönen Erinnerungen und süßen Geheimnissen war ... Anja hatte versucht, diesen Satz zu vergessen.
Langsam ging sie in die Küche, zerbrochene Eierschalen lagen neben dem Herd, auf dem eine Pfanne mit verbrannten Eiern stand. Rührei war Franks Lieblingsspeise, und das einzige, was er kochen konnte. Ein Blinzeln, und die Pfanne war fort.
Dinge verschwanden, wenn Anja blinzelte. Als sie zum allerersten Mal geblinzelt hatte, war Doris verschwunden, nur Blut und das Messer in der Hand des Mörders hatten noch von ihrer einstigen Gegenwart gezeugt.
Anja wandte sich von dem Küchenherd ab, ihre Schritte trugen sie ins Wohnzimmer, zum Kaminsims, auf dem ein einzelner Bilderrahmen stand, darin ein Foto. Anja in einem weißen Hochzeitskleid, Frank in einem blauen Anzug, ein Lächeln auf dem Gesicht. Ein Blinzeln, und das Foto war weg.
Lächeln verschwand, wenn Anja blinzelte. Als sie das zweite Mal geblinzelt hatte, hatte es Karl erwischt. Blutgetränkte Fetzen seines zerrissenen Hemds klebten auf dem Boden. Ines, Karls Schwester und Anjas beste Freundin, saß zusammengekauert in der Ecke, den Blick fest auf den Mörder gerichtet. Anja hatte ihr versprochen, dass ihr nichts passieren würde.
Als Anja am Fernseher vorbeiging, blieb ihr Blick an einem alten Video hängen, Franks Lieblingsfilm über eine Truppe von Soldaten, die irgendwo im All gegen riesige Käfer kämpften. Sie hatte den Film nie gemocht. Sie blinzelte, und das Video war verschwunden.
Leute verschwanden, wenn Anja blinzelte. Als sie das dritte Mal geblinzelt hatte, war Ines fort. Das Fenster war zerschmettert, und von den zersplitterten Resten, die noch im Fensterrahmen hingen, tropfte Blut. Da hatte sich Anja versprochen, nie mehr zu blinzeln.
Mit zittrigen Knien verließ Anja das Haus, in dem sie die letzten fünfzehn Jahre mit Frank gelebt hatte. Frank war vor dem Blinzeln nie Anjas Freund gewesen, doch war sie immer schwach geworden, wenn er sie angelächelt hatte.
Langsam entfernte sich Anja von dem Haus, ging auf den Kirschbaum zu, den Frank bei ihrem Einzug gepflanzt hatte. Wenn er blühte, mochte er noch so wunderschön sein, aber jedes Jahr verlor er seine Blüten, die Anja dann wegräumen musste. Erst vor wenigen Tagen hatte Frank einen toten Ast herunter hacken müssen, die Axt lag noch immer im Gras neben dem Baum. Diesem grässlichen Baum, der jedes Jahr seine Blüten verlor. Also blinzelte Anja.
Alles verschwand, wenn Anja blinzelte. Als sie zum vierten Mal geblinzelt hatte, war ihre Adoptivmutter, die beste Freundin, die Anja jemals hatte, verschwunden. Die Badewanne brannte, und der Mörder stand mit einem Kanister Benzin daneben. Anja war in ihr Zimmer gelaufen, hatte sich hinter ihrem Bett versteckt, und hatte mit zittrigen Fingern den letzten Satz in ihr Tagebuch geschrieben. Dort hatte Frank sie gefunden. Er hatte sie mit sich genommen, weit fort von der Stadt, in der sie gelebt hatten, und ihnen ein neues Heim geschaffen, in dem sie ohne Gäste und ohne Zeremonie geheiratet hatten. Frank war immer geduldig und verständnisvoll, niemals laut oder aggressiv.
Der Baum war verschwunden, abgebrochene Äste und zersplittertes Holz waren in einem chaotischen Muster über die Wiese verteilt. Die Sonne ging unter, und der Mörder hielt die Axt in der Hand.
Anja wandte sich ab und ging weiter. Es gab noch einen Baum auf dem Grundstück, etwas weiter weg. Eine Eiche, die niemals Blätter trug, mindestens hundert Jahre alt, mit starken Ästen. Ein wunderbarer Baum, den Anja jedes Jahr zu Weihnachten schmückte. Aber dafür war es noch zu früh, noch war Spätsommer.
Als Anja die Eiche erreichte, atmete sie erleichtert aus. Sie stand noch. Frank hatte seit einigen Tagen davon gesprochen, den Baum abzuholzen; da er tot und eine Gefahr wäre. Aber es war Anjas Lieblingsbaum. Sie wollte, dass er stehen blieb. Zum ersten Mal in fünfzehn Jahren hatte Frank mit ihr gestritten. Das wollte sie nicht, es gefiel ihr nicht. Deshalb hatte sie nach fünfzehn Jahren zum ersten Mal wieder geblinzelt.
Eine Biene krabbelte über das, was da kopfüber vom Baum hing, über das langsam gerinnende Blut und die heraushängenden Gedärme. Dann flog die Biene los, auf Anja zu, und setzte sich auf ihren Bauch. Anja sah an sich hinunter und beobachtete das Insekt dabei, wie es auf ihr herumkrabbelte; über die roten Flecken auf Anjas Kleid, hinauf zu Anjas Schulter und dann hinab zu der Hand, die die Axt hielt. Nachdem die Biene losgeflogen war, drehte Anja sich um und ging zum Haus zurück. Sie ging stetig auf ihr Ziel zu, durch das Wohnzimmer, wo sie an einem zerbrochenen Videoband und einem zerschmetterten Bilderrahmen vorbeiging; durch die Küche, in der eine Pfanne in der Mülltonne rauchte, und ins Esszimmer, wo sie sich hinsetzte, ihr altes Tagebuch in die linke Hand nahm, und anfing, darin zu lesen.
Wenn alle Freunde tot sind, hat es dann noch Sinn, zu leben?
Eine Träne fiel auf die Buchseite. Und langsam richtete Anja ihren Blick auf die Axt in ihrer rechten Hand.