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Blindness
Sehend
Bin ich der Einzige, der sie ansehen kann? Als sie sich aus ihren Gräbern erhoben, den Bergen und Meeren, als die Landschaft sich unter dem Beben ihrer Schritte hin- und herwarf, war die Luft erfüllt von den brechenden Schreien derer, die ihre Augen auf die massiven Gestalten warfen. Nun, einige Monate später, findet man die traurigen Hüllen jener Gepeinigten höchstens tot am Rand verwahrloster Straßen. Nicht, dass zwischen lebenden und verwesenden Exemplaren ein großer Unterschied bestehen würde. Alle, die ich gesehen habe, waren gleich: innerlich tot, formatiert, ein Stück Fleisch, das in absurden Zungen vor sich hin flüstert. Schwarze Augäpfel. Habe ich dieselben?
Das letzte Mal, dass ich einen Spiegel gesehen habe, scheint Jahrhunderte zurückzuliegen. Meine eigenen Züge verblassen in meinem Gedächtnis….Doch ich habe andere Probleme. Unter einer sengenden Sonne wandle ich durch eine leere Welt. Ihre Präsenz hat das Land verändert; Ich sehe Wüsten wenige Meilen von tropischen Wäldern entfernt, riesige Seen, wo früher Großstädte standen.
Hin und wieder treffe ich Überlebende, Menschen die sich selbst auf die eine oder andere Weise das Augenlicht nehmen, die sich zu schützen suchen vor dem vernichtenden Moment, in dem sie ihren Blick auf einen Giganten werfen. Ich brauche derlei Vorkehrungen nicht. Manche ziehen nach ihrer Begegnung mit mir weiter. In diesem Land kämpft jeder für sich.
Manchmal höre ich von den Blinden Gerüchte. Meist sind es Versionen der immer gleichen Geschichten: Die Japaner haben einen erwischt, das Militär hat sich reformiert, eine Stadt in der Ferne steht noch und ist Zuflucht. Habe alles gehört, glaube nichts davon.
Die Nächte machen uns ziellos Umherirrenden alle gleich. Weit in der Ferne stets ein oder zwei stapfende Berge, mit ihrem Grollen, das Kontinente überspannt. Am Tag kann ich sie sehen. Ich glaube ich kann sie sehen. Doch ob mein Verstand mir tatsächlich wiederspiegelt, was meine Augen wahrnehmen, weiß ich nicht. Sie sehen alle anders aus, bisher habe ich sechs gesehen. Sie wirken….verschwommen. Unklar. Manche haben zwei Beine, andere vier, wieder andere schweben. Selten kann ich mehr ausmachen als ihre unteren... Körper. Wenn es Wolken gibt, so verdecken diese in großer Höhe den Rest ihrer Ausmaße. Gibt es keine Wolken, ist es nicht einfacher. Je weiter sie entfernt sind von meinen Augen, desto mehr verschwimmt ihre Struktur. Das Wenige, was ich glaube gesehen zu haben, gibt mir keine Aufschlüsse. Zwei hatten Beine wie Felslawinen, krachende Brocken aller und mehr Farben, in ständiger Bewegung und Umlagerung. Einer war eine purpurrote Masse aus Gasen und Nebeln, ineinander verschlungenen Phasen, die wabernd entgegen der Windrichtung durch die Lüfte zogen. Die Anderen….aus welchen unmöglichen Elementen sie bestanden und bestehen vermag ich mir nicht auszumalen.
Ich habe Angst. Angst, dass ich in Wirklichkeit nicht mehr bin als eine der Hüllen, die vor sich hin reden, ohne Erinnerung, ohne Selbst.
Vor einigen Tagen habe ich meinen Letzten gesehen. Ein Mann, vielleicht 40. Den Kopf in den Nacken gelegt, mit offenem Mund und mit aufgerissenen Augen in den Himmel starrend. An der Hand gezogen von einer Frau, vielleicht seiner Frau. Ihr Gesicht verriet ihre Entschlossenheit, doch die schwarze Binde über ihren Augen konnte nicht verbergen, dass sie geweint hatte, wie alle. Ein Kind ging vorneweg. Als ich seine ungeschützten Augen sah wurde mir klar, dass ich noch nie ein schwarzäugiges Kind gesehen hatte. Es gab seinen älteren Begleitern Anweisungen, führte sie einen Weg entlang, den Weg, den es für richtig hielt.
Sie hatten dem Mann einen Rucksack umgebunden. Letztendlich war dieses Detail das Ausschlaggebende. Nachdem ich das Kind ruhiggestellt hatte, geriet die Frau in Panik. Sie schrie und wollte ihre Augen befreien, doch bevor sie die Binde abreißen konnte, hatte sie das mit Chloroform getränkte Tuch auf dem Gesicht. Ein Geschenk an sie. Medizinische Vorräte waren rar, doch ich hatte Glück. Vor kurzem hatte ich einer kleinen Karawane einen Arzneikasten entwenden können. Ich nahm dem Mann den Rucksack ab. Er wehrte sich nicht, auch nicht als ich ihr nutzloses Gepäck nach kurzer Durchsuchung in den Staub warf. Das Kind lag immer noch dort, wo ich ihm die Luft abgedrückt hatte. Es könnte noch leben. Ich sehe nicht nach.