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Blind
Ich schaue Nachrichten und sie nimmt einfach immer die Fernbedienung und schaltet weg. Sie möchte nicht so Horrormeldungen hören. Was in den Nachrichten käme, sei doch alles furchtbar deprimierend.
»Das ist das Leben, kleines«, sage ich dann immer kalt zu ihr.
Sie macht mit demonstrativer Gestik die Augen zu.
Wir sind eine Frauen - WG bestehend aus ... ihr und mir. Wir haben keinen auf dieser Welt, nur uns. Jeglichen Kontakt zu meiner Familie habe ich abgebrochen, zerbrochen, fragt mich nicht wie. Na jetzt ist es jedenfalls zu spät, da irreparabel. Sie hat keine Familie, hat nie eine besessen.
»Die Fremden«, sagt sie immer scherzhaft. »Die waren meine Freunde in dem Heim. Mein ganzes Leben waren da Fremde.«
»Du hast´s gut«, sage ich dann immer. »Fremde können dir wenigstens nicht wehtun, aufgrund ihrer Anonymität. Gute Leute sind diese Fremden, gute Leute.«
Wir sitzen gerade auf dem Sofa und sie geht mir plötzlich furchtbar auf die Nerven. Dass wir nur noch zusammenhängen, fällt mir so auf. So was hält keine Freundschaft aus. Wir sind ja auch arbeitslos, wir haben nichts zu unternehmen. Versteht mich bitte nicht falsch, wir sind keine Asis oder so, ich bin sogar furchtbar intelligent. Wir sind einfach von Natur aus arbeitslos, es hat sich einfach so ergeben, und so sitzen wir auf dem Sofa, Tag für Tag.
Sie lebt irgendwie in so einer Blümchenwelt, aber in gewisser Weise kann ich es auch verstehen. Sie hat viel Scheiße in ihrem Leben erlebt, für die sie allesamt nichts kann. Deswegen versteckt sie sich unter ihrem Panzer, gefärbt in allen Regenbogenfarben, die man sich nur vorstellen kann, beziehungsweise ausmalen. Naja, ich habe auch nicht das Gefühl das mein Leben mich auch nur irgendwo hinführt. Es hat mich weggeführt nach der Trennung von meinem Freund, an der ich, wenn ich heute zurückschaue, hauptsächlich selbst schuld war. Aber heute ist es zu spät, da irreparabel. Er hat sich bestimmt schon in eine andere verliebt, hat Kinder mit ihr, und all so ´ne Scheiße. Ja, bei diesen Sätzen rinnen mir Tränen die Augen runter, ich glaube nämlich, er war der richtige, und wenn man erst mal weiß, dass er der richtige war, dann tut es doppelt weh. Man kann gar nicht lange genug im Bett liegen und heulen, um darüber hinwegzukommen. Irgendwann steht man dann aber auf, ich weiß auch nicht warum.
Bei mir ist die Personifizierung dieses Aufstehens meine Freundin, die gerade ihre Füße lang gelegt hat. Sie riechen nicht besonders gut ihre Füße, aber naja.
Trotzdem, von Zeit zu Zeit tut es immer mal wieder weh, die letzte Zeit öfter.
Meine Freundin regt sich dann immer furchtbar auf, schrecklich so was. Bald wird es zum Streit kommen, ich sehe es kommen, die Stimmung zwischen uns beiden ist angespannt, bald geht die Post ab, aber holla!
Ich stehe um vierzehn Uhr morgens auf, ach, Entschuldigung, nachmittags, und schaue fern, und dann kommt sie rein mit ihrer mich ankotzenden Art. Und gerade als die Nachrichten beginnen, schnappt sie sich die Fernbedienung und schaltet in Schallgeschwindigkeit um. Dann streiten wir uns, kratzen uns, geben uns Kopfnüsse, und naja, schreien tun wir dann auch. Ich bin furchtbar enttäuscht und sie weint und all die traurigen Sachen.
»Du versteckst dich vor der Realität. Du machst einfach die Augen zu. Es ist so, als ob du blind wärst!«, sage ich.
»Und was ist mit dir? Du bist weggezogen, vor sage und schreibe drei Jahren, weil dich dort alles überfordert hat, und du bist immer noch nicht auch nur annähernd über deinen Freund, die Leute und das alles hinweggekommen. Das einzige was du in dein Leben gelassen hast, und das nur unter Protest, war ich!«, sagt sie.
Dann hasse ich mich selbst, ich hasse mich wie ich noch nie einen Menschen gehasst habe und ich liebe sie in dem Moment, ich liebe sie wie ich noch nie einen Menschen in meinem Leben geliebt habe, wie eine Freundin, wie meine beste Freundin, und dann umarme ich sie und sie weint und dann lacht sie und dann wird ihr Lachen lauter und immer lauter und sie schließt ihre Augen und dann sagt sie: »Weißt du was, manchmal möchte ich einfach blind sein, für alles, die Realität, es ist ein bisschen wie mit den Fremden.«