Blind
Der volle Mond schien hell auf die Wasseroberfläche. Keine Wolke verschleierte den Nachthimmel. Die Weidenzweige tanzten anmutig im Takt des Windes, der sich raschelnd, wie eine Decke, über das Dach der Baumkronen legte. Verstummte der Wind, durchbrach kein Geräusch mehr die Stille der Nacht. Es schien fast so, als ob die dröhnende Stille die Geräusche der Nacht erstarren ließ. Der kleine Weiher lag einsam und verlassen da. Keine Regung ließ die spiegelglatte Fläche verschwimmen. So kam es einer Detonation gleich, als ein einzelner, salziger Tropfen in den Wasserspiegel einschlug und kleine, sich in der Weite verlierende Wellen, das Wasser durchzogen. Ein flackerndes Licht erhellte den Saum des Gewässers.
So stand sie am Ufer des Weihers und blickte in das mondbeschienene Nass. Tränen liefen über ihre Wangen und hinterließen schlangengleiche, nasse Spuren auf ihrer Haut. Ihr einst so lebensfrohes Antlitz glich nunmehr einer bleichen Maske der Trauer. Das weiße Mondlicht warf geisterhafte Schatten auf ihr Gesicht. Das lange, schwarze Haar fiel wellenartig auf ihre Schultern. Zögernd schritt die Gestalt voran. Das kalte Wasser berührte ihre nackten Füße. Doch spürte sie die Kälte, beseelt von noch tieferer Kälte, kaum. Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle.
Sie wurde im Jahre 1842 als Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns in Middlesex geboren. Es fehlte ihr an nichts. Mit 17 heiratete sie einen Anwalt aus Surrey, woraufhin sie zu ihm nach Addlestone zog. Dort führten sie ein ehrbares Leben und ihr erster Sohn ließ nicht lange auf sich warten. Ihre Tage verbrachten sie in Eintracht und Glück. Tagsüber kümmerte sie sich um den Haushalt und den gemeinsamen Sohn. Ihr Mann sorgte für ein gutes Einkommen und genoss einen tadellosen Ruf als Gentleman. Sein Erfolg verschaffte im schon bald Klienten außerhalb der Grenzen von Surrey. Aufgrund seiner Arbeit musste er deshalb oftmals für mehrere Wochen verreisen. In diesen Zeiten beschäftigte sie sich noch mehr mit ihrem Sohn, der rasch heranwuchs mit Ehrgeiz lernte, um eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters treten zu können. Eines Tages erkrankte der Sohn allerdings am Gelbfieber. Nach einem tagelangen Kampf um sein Überleben gewann die Krankheit allerdings die Oberhand und er verstarb, ohne seinen Vater nochmals zu Gesicht zu bekommen. Seit diesem dunklen Tag lag ein Schatten auf den Herzen der beiden Eltern. Trotz aller Versuche ihr Leben wieder aufzunehmen, schien das Leben trist und farblos geworden zu sein. Die Mutter weinte sich in den Schlaf, erkrankte selbst immer öfter. Der Vater war vor Gericht nicht mehr bei der Sache und büßte an Kundschaft ein. So litt das junge Paar zu allem Überfluss zusätzlich an Geldsorgen. Im Herbst 1872 bekam der Anwalt nun ein Telegramm aus Paris, wo er einen reichen Banker vor Gericht vertreten sollte. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht, da er seine Frau nicht allein lassen wollte, das Geld aber dringend benötigt wurde. Sie selbst musste in Surrey bleiben, um das Haus zu verwalten und um ein paar Pfund als Näherin zu verdienen. Die Chance ergreifend, verabschiedete er sich von seiner schwermütigen Frau und reiste nach Paris, um der Bitte nachzukommen. Allein zurückgelassen starrte die Frau jeden Abend aus dem Fenster, las immer und immer wieder mit tränenverschleiertem Blick die Briefe ihres Gefährten und führte lange Selbstgespräche. Der Anwalt widmete sich seinem Klienten und vertrat ihn in einer langen Kette von Prozessen, in welchen er schlussendlich die Oberhand gewann. Überglücklich, aber krank vor Sorge um seine Frau, schrieb er ihr einen Brief, mit der frohen Kunde seiner baldigen Rückkehr. Seit er aus Addlestone verreiste, vergingen bereits sechs Monate. Mit diesem Brief in den Händen hellte sich die Miene seiner Geliebten auf. Sie freute sich auf die Heimkehr ihres Mannes, ihrer Stütze, ihrem einzigen Lebensinhalt. Sie brachte das ganze Haus auf Hochglanz, kümmerte sich wieder um den Garten und ließ nach endlos langer Zeit wieder ein Lachen verlauten. Plötzlich wurde der Himmel blau und die Vögel sangen ihr Lied. Abends zirpten die Grillen um die Wette. Der Wind flüsterte melodisch durch das Gras und strich liebevoll über ihr glänzendes, schwarzes Haar. Sie schrieb einen langen Brief an ihre Mutter und schilderte ihr von ihrem Glück. So vergingen ihre Tage in Vorfreude. Am vereinbarten Tag seiner Anreise wartete sie an der Pforte des kleinen Anwesens. Die Sonne wanderte am Himmel entlang, die Schatten wurden länger, die Sonne ging unter. Sie hörte ein rascheln aus der Richtung des eichengesäumten Pfades, der zu ihrem Anwesen führte. Ihr Mann kam – nicht.
Am nächsten Morgen grinste ihr die Schlagzeile der Tageszeitung entgegen. „Tragisches Schiffsunglück – Dampfer auf der Route von Calais nach Dover gesunken, hunderte von Toten“.
Ein Schatten fiel auf ihr hübsches Gesicht. Sie ging ins Schlafzimmer und starrte gegen die Wand. So verging Stunde um Stunde, bis die Sonne ihr immergleiches Spiel wiederholte und am Horizont verblasste. Sie setzte sich auf, zündete eine Kerze an und ging, bekleidet mit nichts als ihrem weißen Nachthemd und dem flackernden Licht, der Eichenholztür entgegen. Die Frau schritt langsam hinfort. Ihre Füße trugen sie über nasses Gras, Erde und Pflastersteine. Vor ihren stumpfen, glanzlosen Augen tat sich ein Weiher auf. Sie kannte den kleinen Teich gut. Früher war sie dort oft mit der Familie anzutreffen, die ihr genommen wurde - in Tagen, als der Himmel noch blau war und die Vögel ihr Lied sangen.
Der volle Mond schien hell auf die Wasseroberfläche und strahlte, als ob er mit den Sternen um ihre Schönheit konkurriere. Keine Wolke verschleierte den Nachthimmel. Die Weidenzweige tanzten anmutig im Takt des Windes, der sich raschelnd, wie eine Decke, über das Dach der Baumkronen legte. Verstummte der Wind, durchbrach kein Geräusch mehr die Stille der Nacht. Es schien fast so, als ob die dröhnende Stille, die Geräusche der Nacht erstarren ließ. Der kleine Weiher lag einsam und verlassen da. Keine Regung ließ die spiegelglatte Fläche verschwimmen. Sie fing an zu weinen. Als die erste Träne die Spitze ihres Kinns verließ und auf dem Wasser aufschlug, erschrak sie, so laut durchdrang das Geräusch die Geräuschlosigkeit der Nacht. Kaum war der erste Tropfen gefallen, fing sie haltlos an zu weinen. Ein flackerndes Licht erhellte den Saum des Gewässers. Eine eisige Klaue hatte sie gepackt, ihr Herz zerstört. Auf der Welt gab es nichts mehr, was ihr noch von Bedeutung erschien, was ihrem Leben Flügel verleihen könnte. Ihre Augen – starr geradeaus, ihre Ohren - verschlossen, ihre Gedanken – nur noch auf den Verlust gerichtet. In der Ferne rief jemand ihren Namen. Der Wind zerriss die ferne Stimme. So glitt sie in die kalte Bedeutungslosigkeit und versank in ihrer Trauer. Ihre letzten Gedanken schossen mit den Luftblasen in Richtung Himmel. Sie spürte den Matsch unter ihren Fingern, unterdrückte ihr letztes Ringen um Luft – vergeblich. Ihre Lungen füllten sich mit dem Elixier des Vergessens. Das kleine Licht, das einstmals lebenslustig erstrahlte und mit seiner Wärme verzauberte, verlosch für immer.
Als ihr Mann an das Ufer herantrat, sah er, wie die Wellen sich kräuselten. Beseelt von einer unglaublichen Vorahnung, einem Hammerschlag gleichkommend, durchschnitt er das Wasser und griff nach einer kalten Hand.