Blind Date
Gespannt und voller Vorfreude fuhr Chris die Landstraße entlang. Er hatte sie erst vor 3 Wochen kennengelernt. Dennoch herrschte zwischen Ihnen ein Gefühl der Vertrautheit, als würden sie sich ein Leben lang kennen. «Acht Uhr», hieß es in der SMS, die sie ihm vor wenigen Stunden geschickt hatte. Linda. Das war ihr bezaubernder Name. Sie studierte
Wirtschaftswissenschaften an der hiesigen Universität und wohnte im gleichen Landkreis, etwa 15 km von ihm entfernt. Die Adresse hatte er in seinem Notizbuch in seiner rechten Jackentasche sicher verstaut. Eigentlich hatte er wenig übrig für Chatrooms. Im Nachhinein stellte er sich immer noch die Frage, was ihn ursprünglich dazu trieb, seine Abende in dieser virtuellen Welt zu verbringen. Womöglich fühlte er sich einfach nur einsam. Nachdem sich Marie letztes Jahr im Herbst von ihm getrennt hatte, wurde ein großes Loch in seine heile Welt gerissen.
Chris war der typische Einzelgänger. Exzellente Noten, keine Freunde. Der klassische Loser. Marie war das egal. Sie war der erste Mensch, bei dem er sich verstanden fühlte. Es hatte lange gedauert, bis er damals sein Glück fassen konnte. Marie war der Wahnsinn. Sie hatte wunderschöne, dunkelbraune Locken und Augen so strahlend blau, dass man sich in ihnen verlieren konnte. Linda hatte er noch nie gesehen. Er kannte lediglich ihre Stimme durch die zahlreichen Telefonate, die sie meistens spät am Abend führten, wenn er, wie so oft, nicht schlafen konnte und die Einsamkeit ihm den Verstand raubte. Linda war für ihn da. Es war ihr Vorschlag und für sie beide eine völlige neue Erfahrung, sich nicht durch Äußerlichkeiten zu beeinflussen und sich stattdessen auf die inneren Werte zu konzentrieren. Noch immer in Gedanken versunken bemerkte er das Reh auf der rechte Fahrbahnseite zu spät - viel zu spät.
Hastig hüpfte das Tier aus dem Graben auf die Fahrbahn und riss Chris schlagartig aus seinen Gedanken. Mit voller Kraft presste er seinen rechten Fuß auf das mittlere Fahrzeugpedal und zog aufgeschreckt das Lenkrad nach links. Das Quietschen der Reifen hallte durch die Nacht, als Chris die Kontrolle über sein Fahrzeug gänzlich verlor und gegenüber an einer großen Buche zum stehen kam.
Zitternd saß er am Steuer. «Scheiße! Das war knapp.»
Nachdem er kurz innehielt, um sich zu sammeln, stieg er aus.
Die rechte Seite war durch den Baum blockiert, weshalb er gezwungen war, über die Mittelkonsole durch die Beifahrertür auszusteigen. Seine Knie schlotterten, als er sich mit beiden Händen auf sie stemmte und in gebückter Haltung tief durchatmete. Nachdem er sich beruhigt hatte, sah er sich um. Von dem Verursacher fehlte jede Spur. Er ging um das Fahrzeug herum, um den Schaden zu begutachten. Der linke Kotflügel war völlig deformiert und schien mit der Buche eine untrennbare Verbindung eingegangen zu sein.«Scheiße, das hat mir noch gefehlt», sagte er leise, als er in seine rechte Hosentasche auf der Suche nach seinem Handy ins Leere griff und es zeitgleich vor seinem geistigen Auge, zu Hause im Flur auf der Kommode, neben der Eingangstür, liegen sah. Scheint nicht mein Tag zu sein, dachte er auf eine fast schon ängstliche Art. Hätte er gewusst, welche Überraschungen der heutige Abend außerdem für ihn bereithielt, hätte ihm jegliche Fähigkeit zur Beherrschung gefehlt.
Schon kurze Zeit, nachdem er beschlossen hatte, zu Fuß zu der Tankstelle zu gehen, die er einige Minuten zuvor am letzten Ortsausgang in Erinnerung hatte, sah er die großen, hellen Lichter eines Trucks auf ihn zukommen. Was solls, vielleicht komme ich so schneller ins nächste Dorf, dachte er, als er seinen Daumen austreckte. Ohne auch nur Anstalten zu machen anzuhalten, brauste der Truck an ihm vorbei. War ja klar. Das rötliche Licht der Bremslichter bemerkte Chris erst, als er einige Meter weiterging und einen zufälligen Blick über seine Schulter warf. Sicher. Den Spaß kannte er. Du läufst hin, der Wagen fährt los und schleudert dir Staub ins Gesicht. Erst als Chris die weißen Rücklichter aufleuchten sah, setzte er sich in Bewegung und konnte sein Glück kaum fassen. Der Truck rollte rückwärts auf ihn zu. Ein junger Mann, vielleicht dreißig Jahre alt, lehnte sich lässig über den Beifahrersitz und blickte von oben auf ihn herab, als er die Tür öffnete.
«Hey Kumpel, wohin soll´s denn gehen?», fragte er.
«Zur nächsten Tankstelle. Ich hatte einen Wildunfall und mein Handy zu Hause vergessen. Mein Wagen steht dort drüben. Muss wohl abgeschleppt werden. Kann ich mitfahren?»
«Aber klar doch, hüpfen Sie rein!»
«Danke!», sagte Chris, als er auf den Beifahrersitz kletterte und die Tür schloss.
«Der Wagen sieht echt übel aus!», sagte der Mann und krammte in einem Fach unterhalb des Armaturenbretts.
«Was sie nicht sagen.», erwiderte Chris.
«Hey, kein Grund unhöflich zu werden!»
«Tut mir leid, ich steh immer noch etwas neben mir. Der Wagen war gerade mal zwei Monate alt. Meine Mutter wird mich umbringen.»
«Es ist nur ein Auto. Die Versicherung wird das schon regeln. Seien Sie froh, dass Sie wenigstens unversehrt sind.», sagte der Trucker, als er eine weiße Pillendose aus dem Fach zog und sich zwei davon einwarf. Mit fragendem Blick starrte Chris den Mann an. «Das sind nur Aufputschpillen. Sie helfen mir mich zu konzentrieren. Völlig harmlos. Nicht dass es mir noch so ergeht wie Ihnen.», sagte der Mann mit einem höhnischen Grinsen im Gesicht. Chris ignorierte die Stichelei. «Kann ich Ihr Handy benutzen?» Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. 19:36 Uhr. Er lag noch immer gut in der Zeit. Seine Mutter hatte es ihm schon zu Kindzeiten zur Angewohnheit gemacht, sich übertrieben früh auf dem Weg zu machen, damit er trotz jeglicher Art von Zwischenfällen, pünktlich ist. «Durch Pünktlichkeit zeigst du deinem gegenüber Respekt», hatte sie immer gesagt.
«Tut mir leid, Kumpel. Ich kann Ihnen nur mir dem guten alten CB-Funk dienen.», sagte der Mann.
Wenn sich Chris für den direkten Weg zu Linda entschied, dann konnte er von dort in Ruhe, vielleicht sogar erst morgen früh, telefonieren, um sich um seinen Wagen zu kümmern. Während er in seinen Gedanken hing, fuhr der LKW langsam auf den Hof der Tankstelle.
«Endstation, Kumpel!»
Verdutzt blickte Chris den Mann an.
«Nehmen Sie mich noch ein paar Meter weiter mit?»
«Ich dachte sie brauchen Hilfe wegen Ihres Fahrzeuges?», fragte der Mann verwirrt.
«Ähm...ja...schon. Ich bin nur um acht Uhr verabredet und hab mir gedacht, dass ich auch von dort telefonieren könnte. Es ist nicht mehr weit von hier. Es würde mir eine Menge Zeit und Mühe sparen, verstehen Sie?»
«Oh, aber natürlich. Wo wohnt deine Freundin?», fragte er Chris mit einem verschmitzen Lächeln im Gesicht.
«Wir sind nicht zusammen.», erwiderte Chris. «Genau genommen kennen wir uns erst seit kurzem.»
«Ah, verstehe. Du fickst sie nur.», sagte der Mann mit einem lüsternen Unterton, als der LKW das Gelände der Tankstelle verließ.
«Wie bitte?», fragte Chris entsetzt.
«Ihr fickt bloß miteinander.», wiederholte der Mann ruhig.
«Wie sieht sie aus? Hat sie geile Titten?»
«Halten Sie den Truck an! Ich möchte aussteigen. Sofort!»
Der Mann lachte nur. «Jetzt reg dich nicht gleich so auf. Man wird sich ja noch einen kleinen Spaß erlauben dürfen.»
«Ich will aussteigen!», sagte Chris und versuchte dabei so entschlossen und ernst wie nur möglich zu klingen.
«Hey Kumpel, immer mit der Ruhe. Tut mir echt leid. Ich bin seit Tagen unterwegs. Ich bin müde und voller Aufputschmittel. In meinem Beruf ist man sehr einsam. Ich habe nur selten die Gelegenheit mich mit jemanden zu unterhalten. Manchmal vergesse ich meine guten Manieren und plapper einfach drauf los, ohne vorher zu überlegen. Ich hab´s nicht so gemeint. Hey, wie weit sagtest Du ist es bis zu deiner...ähm...Bekannten? Ich liefer dich direkt dort ab. Bequem für dich und ich genieße noch ein bisschen unsere nette Unterhaltung. Also was sagst du? Schwamm drüber?»
«Naja, ich weiss nicht recht.», sagte Chris leise. Irrer Typ. Ihm war nicht wohl dabei. Auf der anderen Seite, was soll schon groß passieren? Trucker sind so. Ständig auf der Straße und mit ihrer Geilheit alleine. Außerdem wäre er zu Fuß mindestens 45 Minuten unterwegs. Der Abend wäre gelaufen.
«Na gut. Aber halten Sie sich mit Ihren Aussagen zurück.»
«Na klar, Kumpel. Wie du willst.»
Der Motor des Trucks brummte tief, als sie weiter die verlassene Straße entlang fuhren.
«Also, wo soll ich dich absetzen? Hast du ne Adresse?», fragte der LKW-Fahrer und musterte Chris dabei von oben bis unten.
«Lassen Sie mich einfach irgendwo an der Hauptstraße raus. Dann haben Sie keine Schwierigkeiten, was das Wenden betrifft.»
«Alles klar! Kaffee? Du siehst ein bisschen Müde aus.»
Chis war müde. «Gerne, danke!»
«Hier. Pass auf, er ist kochend heiß. Eben frisch gebrüht an ner Raststätte.»
Vorsichtig nahm Chris einen kleinen Schluck, als er das Ortsschild von weitem schon erkennen konnte.
«Da ist es.», sagte er.
Chris hatte kaum die Hälfte der Tasse ausgetrunken, als er plötzlich sehr schläfrig wurde und schließlich, glücklicherweise, das Bewusstsein verlor, sodass er nichts davon mitbekam als der Trucker anhielt, ihn aus dem Führerhaus zerrte, auf die Ladefläche seines Trucks hiefte und ihm dann mit einem großen, eisernen Radkreuz, welches sich auf der Ladefläche befand den Schädel einschlug. Kurz nachdem er Chris´ Taschen durchsucht hatte, hielt er ein kleines schwarzes Notizbuch in Händen, in dem er eine Adresse fand.
Linda zuckte zusammen, als um 20:09 Uhr die Klingel ihrer Wohnungstür ertönte. Sie blickte auf die Uhr, die sich über ihrem offenen Kamin befand und ging eilig in Richtung Flur.
Sie warf einen letzten Blick in den Spiegel der sich seitlich ihrer Eingangstür befand und öffnete voller Erwartungen die Tür. «Du siehst älter aus, als ich erwartet hatte.», sagte sie mit einem Lächeln und lies den Mann in ihre Wohnung. «Ja, das höre ich oft.», sagte der Mann breit grinsend als er eintrat und hinter sich die Tür verschloss.