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Blind auf Knien

Beitritt
30.09.2002
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Blind auf Knien

Mit einem Lächeln entließ Gott die letzten Engel in den Feierabend, lobte sie für ihre Arbeit, schaltete in allen Räumen das Licht aus und warf einen letzten Blick auf die flimmernden Bildröhren im Überwachungsraum, bevor er ins Freie trat.
Dem Straßenbahnfahrer erließ er das Wechselgeld und setzte sich auf einen der im hinteren Teil befindlichen Plätze. Die übrigen Fahrgäste grüßten ihn und Gott erwiderte mit gewohnter Höflichkeit. Die Menschen hier mochten ihn und priesen ihn als weisen Herrscher.
Die Straßenbahn schlängelte sich behende durch den dichten Feierabendverkehr und spuckte Gott am Stadtrand wieder aus. Endstation! Den Rest des Weges lief er zu Fuß. Vorbei an prächtig blühenden Blumenfeldern und sich windenden Bächen, die wie kleine Adern die Landschaft durchzogen. Schließlich erreichte er einen Wald, dessen hohe, dürre Tannen bedrohlich anmutende Schatten warfen. Gott lief einige Schritte und stand alsbald vor seinem Haus, das mitten im verhüllenden Kleid des Waldes stand und von dessen Existenz niemand wusste.
Kein eleganter Prachtbau, sondern eine marode Holzhütte ohne Fenster, an dessen Seitenwand sich ein enger Hundezwinger anschloss, der von einem rostigen Zaun begrenzt war. Gott mochte den Hund nicht. Vor vielen Jahren hatte ihm eine alte Frau das Tier anvertraut und er hatte es widerwillig aufgenommen, ohne sich aber wirklich um ihn zu kümmern. Sein schwarzes Fell fiel ihm büschelweise aus, eine wunde Stelle am Bein eiterte unablässig und aus dem Maul hervorstehende faulende Zähne klagten still ihr großes Leid. Der Hund würde bald sterben, das stand fest, und Gott lächelte bei diesem Gedanken.
Als er ins Haus trat, vernahm er das gewohnte, leise Winseln seiner Frau, die mit schmerzverzerrtem Gesicht und leeren, resignierenden Augen auf dem kalten Steinboden im Flur lag. Gott warf einen Blick in die mit Müll überhäufte Küche, die aus dem Klo quellende Kloake und auf die Ketten, die den linken Knöchel seiner Frau mit der Unausweichlichkeit verbanden. Sie würde schreien, wie immer, aber die Fassade des Waldes schluckte jegliches Geräusch.
Gewissenhaft vergewisserte er sich ihrer Einsamkeit, bevor er die Tür schloss und seiner Frau zu nahe kam.

 

Hallo Sebastian!

Sitzt Du da auf der Strafbank, oder was?
Es muß jedenfalls andere Gründe haben, an der Geschichte kanns nicht liegen...
Ehrlich, hätte ich Dir diese Geschichte nach Deinen Diskussionsbeiträgen gar nicht zugetraut, ich bin direkt angenehm beeindruckt. Abgesehen davon, daß sie sich durch ihre Kürze sehr von Deinen Artikeln abhebt, hast Du mich auch mit dem Inhalt überrascht!

Gewiß, manche/r wird sich am Inhalt auch stoßen, aber das Schöne ist ja, daß wir alle verschiedene Meinungen haben können.

Da hast Du Gott das typische Bild der Gesellschaft gegeben: Außen hui, innen pfui - mit kurzen Worten...

Drei Dinge noch:

"Dem Straßenbahnfahrer erließ er das Wechselgeld"
- Kommt aber heutzutage eher selten vor, daß der Fahrer kassiert, oder?

"und priesen als weisen Herrscher."
priesen ihn als weisen Herrscher

"und leeren, resignierten Augen"
- Augen können nicht resigniert sein. Resignierend aber schon. ;)

Also ehrlich, ich finde Deine Geschichte wirklich gut - fällt mir auch noch grade auf: "die Fassade des Waldes schluckte jegliches Geräusch" finde ich sehr gelungen...

Alles liebe,
Susi

 

Hallo Sebastian,

ein sehr berührender Text ist dir hier gelungen. Die Idee dazu ist meines Erachtens Spitzenklasse. Du hältst der Gesellschaft den Spiegel vor.
Alles hast du in diesem Text gut gemacht.
Die Worte, die Aussage, die dahinter steckt.
Super. Zum Nachdenken.

Liebe Grüße - Aqua

 

Hallo, Sebastian!

Böse, böse, Dein Text. Dein Protagonist erhebt sein zu klein geratenes Ego durch das Beherrschen und Quälen seiner direkten "Untergebenen" (Frau und Hund) zu einer Art "Gott". Ich möchte nicht wissen, hinter wie vielen (häuslichen und menschlichen) "Fassaden", die nach außen hin unauffällig erscheinen, sich Grausamkeiten ungeahnten Ausmaßes abspielen.

Sehr gut gewählte Bilder!


Ciao
Antonia

 

@Antonia
Natürlich steht es jedem frei, den Text nach seiner eigenen Auffassung zu interpretieren, doch auf eines möchte ich hinweisen: Diese Person, die ich beschreibe, soll wirklich Gott sein.

 

Äh, Sebastian, scroll doch bitte auch weiter nach oben, danke. ;)

 

Hi Sebastian,
keine Frage, das ist Gott, den würde ich überall wiedererkennen, hat mir letzten Sommer den Geldbeutel geklaut, der Arsch.
Dufte Geschichte, gut gemacht, mich stören nur die Blumenwiesen, weil es is ja Feierabend, spät, dunkel.
Nee, wirklich. Ich bin begeistert.

liebe Grüße, alex.

 

@Sebastian:
Es gibt sicher Leute, die sich ueber deine
Story aufregen wuerden...ich habe auch erst
einige Sekunden gestockt, doch ich stimme dir
zu. Stelt sich jetzt nur noch die alte Frage:
Gibt es Gott denn wirklich? Ich hab da so meine
eigene Theorie...
@Alexandra:
Ich mag deinen Satz:
"Hat mir letzten Sommer den Geldbeutel geklaut,
der Arsch". ;o)

 

@janini-canadian: Es geht weniger darum ob es Gott gibt. Es ging mir nur darum, eine Person, ein Wesen oder was auch immer zu wählen, das von den meisten eher idealisiert denn kritisch betrachtet wird.

 

behende

muss das nicht "behände" heissen?

hi sebastian,

der schreibstil ist sehr schön und bildlich.
mir hätte die geschichte sicherlich gefallen, wenn du in deiner kritik später nicht erwähnt hättest, dass du dir gott genauso vorstellst.
du gehörst bestimmt zu den leuten, die auch nicht mehr an den weihnachtsmann glauben.
wenn deine geschichte mehr anspruch haben soll, als das, was du schreibst, dann ist der bedarf an tiefe da, um sich kritisch mit diesem thema auseinanderzusetzen.
es gibt viele dinge, die dann eine bedeutung bekommen. "und am 6. tag erschuf er den menschen nach seinem abbild."
so schön deine egschichte auch geschrieben ist - so klar deine intention hervortritt - so sehr halte ich deine geschichte für nicht gelungen, weil sie nicht mehr als ein ausruf ist. wenn du die gestalt gott angreifst, dann tue es mit mehr tiefe - ansonsten ist es nicht mehr, als eine antitheistische parole!
sorry sebastian und sorry ihr kritiker, aber ich finde es schmal von euch bei so einem belasteten thema, das sebastian verwendet, kaum mehr zu sagen als gut oder schlecht.
also - sebastian, gegen alle kritiker hier - ich empfehle dir, an dieser geschichte zu arbeiten und etwas daraus zu machen, das mehr wert hat.
bye
barde

 

@Barde: Ich will doch gar nicht Gott angreifen. Gott ist lediglich ein Beispiel für eine Person (oder ein Wesen), das von den meisten Menschen verherrlicht und selten kritisiert wird. Und genau diese Verherrlichung will ich kritisieren. Du kannst da auch andere Menschen einsetzen. Gott ist nur ein Beispiel

 

@Antonia Natürlich steht es jedem frei, den Text nach seiner eigenen Auffassung zu interpretieren, doch auf eines möchte ich hinweisen: Diese Person, die ich beschreibe, soll wirklich Gott sein.

es widerspricht sich!

aber es ändert ja nichts daran, dass es ein stoff ist, den du verwendest, der nach mehr tiefe ruft!

 

@ Sebastian

Der Barde hat recht. Die Idee ist spitze, aber in deinem Text ist noch viel mehr drinnen. Jetzt wirkt es auf mich eher wie ein (gelungenes) Fragment. Könnte eine ganz herausragende Story werden! Würde an deiner Stelle die Gedankengänge des machtsüchtigen Protagonisten intensiver einarbeiten. So zu sagen sein "Tagwerk".

Ab der Stelle, wo er dann heimkehrt ist die Geschichte wieder perfekt - da würde ich nichts ändern.

Gruß
Liz

 

@Liz und Barde: Manchmal ist es besser, seine Gedanken auf den Punkt zu bringen. 500 Seiten - Wälzer ärgern und langweilen mich meist zu Tode ;-)

 

Guten Morgen, Sebastian , eigentlich, wollt ich irgendwann sowas ähnliches machen. Brauche ich ja nun nicht mehr... in ziemlich wenigen Sätzen hasst du hier etwas zusammengefasst, das mir auch schon längere Zeit auf dem Magen liegt. Wir haben bald Weihnachten, passt irgendwie umso besser deine Geschichte. Sehr gut.

Liebe Grüsse Archetyp

 

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