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Blind auf Knien
Mit einem Lächeln entließ Gott die letzten Engel in den Feierabend, lobte sie für ihre Arbeit, schaltete in allen Räumen das Licht aus und warf einen letzten Blick auf die flimmernden Bildröhren im Überwachungsraum, bevor er ins Freie trat.
Dem Straßenbahnfahrer erließ er das Wechselgeld und setzte sich auf einen der im hinteren Teil befindlichen Plätze. Die übrigen Fahrgäste grüßten ihn und Gott erwiderte mit gewohnter Höflichkeit. Die Menschen hier mochten ihn und priesen ihn als weisen Herrscher.
Die Straßenbahn schlängelte sich behende durch den dichten Feierabendverkehr und spuckte Gott am Stadtrand wieder aus. Endstation! Den Rest des Weges lief er zu Fuß. Vorbei an prächtig blühenden Blumenfeldern und sich windenden Bächen, die wie kleine Adern die Landschaft durchzogen. Schließlich erreichte er einen Wald, dessen hohe, dürre Tannen bedrohlich anmutende Schatten warfen. Gott lief einige Schritte und stand alsbald vor seinem Haus, das mitten im verhüllenden Kleid des Waldes stand und von dessen Existenz niemand wusste.
Kein eleganter Prachtbau, sondern eine marode Holzhütte ohne Fenster, an dessen Seitenwand sich ein enger Hundezwinger anschloss, der von einem rostigen Zaun begrenzt war. Gott mochte den Hund nicht. Vor vielen Jahren hatte ihm eine alte Frau das Tier anvertraut und er hatte es widerwillig aufgenommen, ohne sich aber wirklich um ihn zu kümmern. Sein schwarzes Fell fiel ihm büschelweise aus, eine wunde Stelle am Bein eiterte unablässig und aus dem Maul hervorstehende faulende Zähne klagten still ihr großes Leid. Der Hund würde bald sterben, das stand fest, und Gott lächelte bei diesem Gedanken.
Als er ins Haus trat, vernahm er das gewohnte, leise Winseln seiner Frau, die mit schmerzverzerrtem Gesicht und leeren, resignierenden Augen auf dem kalten Steinboden im Flur lag. Gott warf einen Blick in die mit Müll überhäufte Küche, die aus dem Klo quellende Kloake und auf die Ketten, die den linken Knöchel seiner Frau mit der Unausweichlichkeit verbanden. Sie würde schreien, wie immer, aber die Fassade des Waldes schluckte jegliches Geräusch.
Gewissenhaft vergewisserte er sich ihrer Einsamkeit, bevor er die Tür schloss und seiner Frau zu nahe kam.