Blick in die Kristallkugel.
Wir schreiben das Jahr zehn.
Ja, Sie lesen richtig: Auch die Zeitrechnung war umgestellt worden und so war es tatsächlich das Jahr 10 nach den vielen uns eine Wohltat nach der anderen versprechenden Reformen. Darunter auch die besonders fürsorgliche und liebevolle Gesundheitsreform, denn Gesundheit geht uns ja schließlich alle an.
Das Straßenbild hatte sich verändert. Alle Menschen trugen deutlich erkennbar, meist mit einer Sicherheitsnadel an ihre Kleidung geheftet, einen 10-Euro-Schein mit sich herum. So durften sie auch für den Fall der Fälle, daß ihnen ein unvorhergesehenes Unglück auf ihrem Weg passieren sollte, immer gewiß sein, wenigstens in der Notaufnahme eines Krankenhauses auch aufgenommen zu werden.
Selbst für den Worst Case konnten sie damit auf der sicheren Seite sein. Denn niemand würde sich mehr weigern können, einen Totenschein für sie auszustellen. Schließlich war selbst der Tod nicht mehr für umsonst zu haben und für dessen Feststellung und Bestätigung mußte noch der stolze Preis von zehn Euro entrichtet werden.
Daß dadurch die Zahl der Raubüberfälle zunahm, denn schließlich weckte dieses winzige Stückchen Papier so offen dargeboten auch Begehrlichkeiten, nahm man billigend in Kauf, denn für einen eventuellen Notfall galt es einfach, gerüstet zu sein.
Viele Ärzte, vor allem aber die wenigen Idealisten unter ihnen, die eher daran interessiert waren, ihrem Eid zu folgen und alles für die Heilung ihrer Patienten taten, hatten inzwischen ihre Praxis schließen müssen, da sie von den Krankenkassen [warum eigentlich nicht Gesundheitskassen, das hatte man wohl vergessen, zu reformieren] regreßpflichtig gemacht wurden.
Somit hatte man sie also an den Rand des Ruins getrieben und fortan durften sie, zusammen mit anderen Akademikern aus den verschiedensten Bereichen nun auch als Straßenkehrer einer durchaus für unser aller Gemeinwesen nützlichen Tätigkeit nachgehen. Längst schon hatten sie aufgehört zu murren und folgten freudig der dank der Arbeitsmarktbereinigungsinitiative der damaligen Regierung entstandenen Erweiterung ihres Bewußtseins.
Die ewig nörgelnden, mit allem unzufriedenen, mehr Chaos als Wissenschaft über uns alle ergießenden Studenten reihten sich bereits - eher unfreiwillig zwar - aber in letzter Konsequenz dennoch als aussterbende Spezies in die Annalen unserer Geschichtsbücher ein.
Die wenigen Eliteunis beherbergten fortan nur Millionärstöchterchen und Millionärssöhnchen sowie ein Heer an Nachhilfelehrkräften, das dieser Elite in unermüdlichem Einsatz dazu verhalf, auch wirklich zur geistigen Elite heranreifen zu können.
So ganz nebenbei waren leider auch die Gefängnisse längst schon überfüllt mit schwarz putzenden Frauen, Baby sittenden Teenies, Hunde ausführenden Kiddies und heimlichen unheimlichen nachbarlichen Renovierungshelfern.
Chronisch Kranke hatten mit dankenswerter Konsequenz beschlossen, ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern nicht mehr länger durch ihre zu hohen Behandlungskosten auf der Tasche zu liegen und die wenigen noch verbliebenen Arztpraxen mit ihrem permanenten Wunsch nach weiteren medikamentösen Verschreibungen zu stürmen. So lösten sie sich einfach in Luft auf.
Rentner erstarrten in Demut vor diesem großzügigen Geschenk, das man ihnen in Form der Rentenzahlung machte. Obwohl sie es in ihrem beschwerlichen Arbeitsleben bereits selbst in die auf wundersame Weise wieder leer gewordenen Rentenkassen eingezahlt hatten, ließen sie es gerne noch einmal versteuern. Das hatten sie zwar vorher schon bei der Einzahlung ihrer Rentenbeiträge getan, aber sie wollten nur zu gerne auch ihren Obulus zu aller Wohlstand beitragen.
Etwas starrköpfig, wie sie halt manchmal so sind, die älteren Herrschaften, hätten sie wohl lieber Heilkräuter gepflückt anstatt zehn Euro Eintrittsgebühr für einen Arztbesuch zu zahlen, wenn sie das eine oder andere Zipperlein mal wieder plagte. Da ihre Rente zusätzlich mit angemessenen Krankenkassen-, Pflegekassen- und sonstigen der menschlichen Sicherheit dienenden Beiträgen versehen war, konnte sich von den paar übriggebliebenen Euros wirklich keiner mehr von ihnen ernähren. Und so stürzten sich viele Rentner gleich freiwillig mit Eintritt ihres Pensionärsdaseins aus den obersten Stockwerken der Altenheime.
XYZ, also Menschen wie du und ich, irrten meist unterernährt, graugesichtig und schweigend durch die Welt, weil es ihnen peinlich war, den Mund überhaupt noch zu öffnen, da sie zahnlos waren, denn niemand konnte sich mehr den teuren Zahnersatz leisten.
Alles in allem:
Obwohl es erst das Jahr zehn nach diesen Jahrhundertreformen oder besser gesagt Jahrtausendreformen war, war doch dank des unermüdlich reformierenden Einsatzes der damaligen Politiker eine wunderschöne neue graue Welt entstanden, in der jeder Underdog wirklich höchst zufrieden in seinem Pappkarton an der nächsten Straßenecke lebte.
Und so wird wohl die unausgesprochene Beschwörungsformel aller zu jeder Tages- und Nachtzeit gelautet haben: Liebe Regierung, bitte bitte bitte, ganz schnell her mit der nächsten Reform!
© chaosdiva
[Anmerkung:
An alle, die auf diesen Bericht mit Unverständnis reagieren: Die Ironie habe ich bewußt gewählt, weil es mir die einzig adäquate Antwort auf eine Gesundheitsreform schien, die ich persönlich als zynisch bezeichnen würde.]