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Blick in die Kristallkugel.

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15.03.2004
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Blick in die Kristallkugel.

Wir schreiben das Jahr zehn.
Ja, Sie lesen richtig: Auch die Zeitrechnung war umgestellt worden und so war es tatsächlich das Jahr 10 nach den vielen uns eine Wohltat nach der anderen versprechenden Reformen. Darunter auch die besonders fürsorgliche und liebevolle Gesundheitsreform, denn Gesundheit geht uns ja schließlich alle an.

Das Straßenbild hatte sich verändert. Alle Menschen trugen deutlich erkennbar, meist mit einer Sicherheitsnadel an ihre Kleidung geheftet, einen 10-Euro-Schein mit sich herum. So durften sie auch für den Fall der Fälle, daß ihnen ein unvorhergesehenes Unglück auf ihrem Weg passieren sollte, immer gewiß sein, wenigstens in der Notaufnahme eines Krankenhauses auch aufgenommen zu werden.

Selbst für den Worst Case konnten sie damit auf der sicheren Seite sein. Denn niemand würde sich mehr weigern können, einen Totenschein für sie auszustellen. Schließlich war selbst der Tod nicht mehr für umsonst zu haben und für dessen Feststellung und Bestätigung mußte noch der stolze Preis von zehn Euro entrichtet werden.

Daß dadurch die Zahl der Raubüberfälle zunahm, denn schließlich weckte dieses winzige Stückchen Papier so offen dargeboten auch Begehrlichkeiten, nahm man billigend in Kauf, denn für einen eventuellen Notfall galt es einfach, gerüstet zu sein.

Viele Ärzte, vor allem aber die wenigen Idealisten unter ihnen, die eher daran interessiert waren, ihrem Eid zu folgen und alles für die Heilung ihrer Patienten taten, hatten inzwischen ihre Praxis schließen müssen, da sie von den Krankenkassen [warum eigentlich nicht Gesundheitskassen, das hatte man wohl vergessen, zu reformieren] regreßpflichtig gemacht wurden.

Somit hatte man sie also an den Rand des Ruins getrieben und fortan durften sie, zusammen mit anderen Akademikern aus den verschiedensten Bereichen nun auch als Straßenkehrer einer durchaus für unser aller Gemeinwesen nützlichen Tätigkeit nachgehen. Längst schon hatten sie aufgehört zu murren und folgten freudig der dank der Arbeitsmarktbereinigungsinitiative der damaligen Regierung entstandenen Erweiterung ihres Bewußtseins.

Die ewig nörgelnden, mit allem unzufriedenen, mehr Chaos als Wissenschaft über uns alle ergießenden Studenten reihten sich bereits - eher unfreiwillig zwar - aber in letzter Konsequenz dennoch als aussterbende Spezies in die Annalen unserer Geschichtsbücher ein.

Die wenigen Eliteunis beherbergten fortan nur Millionärstöchterchen und Millionärssöhnchen sowie ein Heer an Nachhilfelehrkräften, das dieser Elite in unermüdlichem Einsatz dazu verhalf, auch wirklich zur geistigen Elite heranreifen zu können.

So ganz nebenbei waren leider auch die Gefängnisse längst schon überfüllt mit schwarz putzenden Frauen, Baby sittenden Teenies, Hunde ausführenden Kiddies und heimlichen unheimlichen nachbarlichen Renovierungshelfern.

Chronisch Kranke hatten mit dankenswerter Konsequenz beschlossen, ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern nicht mehr länger durch ihre zu hohen Behandlungskosten auf der Tasche zu liegen und die wenigen noch verbliebenen Arztpraxen mit ihrem permanenten Wunsch nach weiteren medikamentösen Verschreibungen zu stürmen. So lösten sie sich einfach in Luft auf.

Rentner erstarrten in Demut vor diesem großzügigen Geschenk, das man ihnen in Form der Rentenzahlung machte. Obwohl sie es in ihrem beschwerlichen Arbeitsleben bereits selbst in die auf wundersame Weise wieder leer gewordenen Rentenkassen eingezahlt hatten, ließen sie es gerne noch einmal versteuern. Das hatten sie zwar vorher schon bei der Einzahlung ihrer Rentenbeiträge getan, aber sie wollten nur zu gerne auch ihren Obulus zu aller Wohlstand beitragen.

Etwas starrköpfig, wie sie halt manchmal so sind, die älteren Herrschaften, hätten sie wohl lieber Heilkräuter gepflückt anstatt zehn Euro Eintrittsgebühr für einen Arztbesuch zu zahlen, wenn sie das eine oder andere Zipperlein mal wieder plagte. Da ihre Rente zusätzlich mit angemessenen Krankenkassen-, Pflegekassen- und sonstigen der menschlichen Sicherheit dienenden Beiträgen versehen war, konnte sich von den paar übriggebliebenen Euros wirklich keiner mehr von ihnen ernähren. Und so stürzten sich viele Rentner gleich freiwillig mit Eintritt ihres Pensionärsdaseins aus den obersten Stockwerken der Altenheime.

XYZ, also Menschen wie du und ich, irrten meist unterernährt, graugesichtig und schweigend durch die Welt, weil es ihnen peinlich war, den Mund überhaupt noch zu öffnen, da sie zahnlos waren, denn niemand konnte sich mehr den teuren Zahnersatz leisten.

Alles in allem:
Obwohl es erst das Jahr zehn nach diesen Jahrhundertreformen oder besser gesagt Jahrtausendreformen war, war doch dank des unermüdlich reformierenden Einsatzes der damaligen Politiker eine wunderschöne neue graue Welt entstanden, in der jeder Underdog wirklich höchst zufrieden in seinem Pappkarton an der nächsten Straßenecke lebte.

Und so wird wohl die unausgesprochene Beschwörungsformel aller zu jeder Tages- und Nachtzeit gelautet haben: Liebe Regierung, bitte bitte bitte, ganz schnell her mit der nächsten Reform!

© chaosdiva

[Anmerkung:
An alle, die auf diesen Bericht mit Unverständnis reagieren: Die Ironie habe ich bewußt gewählt, weil es mir die einzig adäquate Antwort auf eine Gesundheitsreform schien, die ich persönlich als zynisch bezeichnen würde.]

 

Hi chaosdiva,

das Thema ist echt nicht zum Lachen, aber ich mußte trotzdem grinsen. Deine Ironie ist wirklich das einzige, mit dem man diesen "Reformen" begegnen kann, und du hast mitten ins Herz getroffen -sozusagen. Reformen haben halt leider kein Herz.
Vielleicht könntest du noch eiunen Absatz hinzufügen:
"Es gab bald kaum mehr brauchbare Handwerker, weil die Azubis während der Lehrzeit schon häufig an Grippe oder Windpocken starben, weil sie nicht die zehn Euro für den Arzt aufbringen konnten. Aber so wurde zumindest das Problem mit den Meisterbriefen gelöst. Aber Handwerker konnten sich sowieso nur noch die Eltern der Elitestudenten leisten, weil der Rest der Nation alles Geld für die medizinische Versorgung zusammensparte."
Mußte ich gerade nach Autounfall am eigenen Leib erleben... :(

Habe nix zu maulen, klasse Text! :thumbsup:

greetz, Oile

 

hi oile,

... freu mich, daß du mit meinem text was anfangen konntest ... und vielen dank für deinen ergänzungshinweis ... bin allerdings noch sooo neu hier, daß ich das hier noch nicht alles so blicke ... ich find deine vorgeschlagene ergänzung absolut ok ... aber ist es wirklich auch ok, wenn ich sie jetzt in diesem text übernehmen würde???
gruss, chaosdiva

 

HI nochmal,

tja, ob du das -in abgewandelter Form, sonst wär ich ja schon fast Co-Autor- übenehmen möchtest, bleibt dir überlassen; mußt du aber nicht, dein Text ist in sich ja schon rund. War halt nur das, was mir spontan noch dazu einfiel, Selbsterfahrungen sozusagen. :)
Vielleicht äußert sich ja noch jemand anderes dazu.

greetz, Oile

 

Hallo chaosdiva!

Ich habe diese Geschichte aufgrund Deiner folgenden Aussage hier gelesen:

schade nur daß meine durchaus ernsteren texte die ich gleichzeitig hier poste eher wenig interesse finden
Ich nehme an, diesen hier zählst Du zu Deinen ernsteren Texten. :)
Nun bin ich mit der deutschen Gesundheitsreform nicht sonderlich vertraut, habe gerade erst bei sims Geschichte "Bringst du mich heim?" eine solche Ungeheuerlichkeit erfahren, die ich kaum glauben konnte... Die Gesundheitsreform ist allerdings in sims Geschichte nur ein Nebenaspekt, bei Dir geht es ja ausschließlich darum, sollte also kein Qualitätsvergleich sein, wollte eigentlich nur klarmachen, daß ich wirklich nicht viel über diese Reform weiß. ;)

Was Du meiner Meinung nach mit Deinem Text tun solltest, ist, eine richtige Geschichte draus zu machen. Einen Menschen, also den Protagonisten, etwas erleben lassen, woran sich die Auswirkungen zeigen, sodaß sie unverkennbar als Kritik hervortreten, ohne daß Du direkt drauf hinweist. Dein Text ist leider eher eine Auflistung einiger Ideen zum Thema, in denen nicht näher definierte Menschen und Schauplätze zusammenhanglos wechseln.

Das Fatale an solchen Reformen ist ja meist, daß es nicht den Durchschnitt derart hart trifft, sondern immer nur gewisse Gruppen. Ein mittlerer Angestellter wird beispielsweise keine Probleme haben, wenn die Kasse mal etwas nicht bezahlt: Er kann es sich selbst leisten, ohne daß ihm deshalb die Butter am Brot oder gar das Brot selbst fehlt - aber die unteren Einkommensschichten trifft es meistens hart, und in diesem Fall eben auch Kranke. Obendrein sind gerade die Arbeiten, die schlechter bezahlt sind, auch jene, die die Gesundheit am meisten schädigen - wodurch sich da schon ein Teufelskreis ergeben kann...

So einen Teufelskreis könntest Du zum Beispiel aufzeigen - als Geschichte.

Die Informationen, die ich von sim in seinem Antwortposting erhalten habe, lassen in mir zum Beispiel das Bild einer Familie aufsteigen, die versucht, sämtliche gesunden Bekannten als Patienten für den Arzt der Großmutter zu werben - damit der Schnitt paßt...

Laß Deiner Phantasie freien Lauf und denke Dich in die Welt, die Du hier beschrieben hast. Dann nimm Dir ein Einzelschicksal heraus. - Es ist ganz egal, ob Du dabei alle Aspekte der Reform abdeckst, es sollte ja keine wissenschaftliche Abhandlung sein, in der möglichst jeder Aspekt berücksichtigt wird, sondern eine Geschichte. Und wie eben nicht jeden Menschen alles auf einmal trifft, wird dann eben auch der Protagonist nicht die ganze Reform zu spüren bekommen, sondern nur die Teile, die ihn und sein Umfeld betreffen.
Dann würde das Ganze auch viel realistischer - denn Dein jetziger Text wirkt in meinen Augen schon unglaubwürdig überzogen, sodaß die Gefahr besteht, daß er in die falsche Richtung interpretiert wird, nämlich als "naja, so schlimm wie hier beschrieben ist es dann ja wirklich nicht, die Gegner der Reform sind bloß alle paranoid" - und das war ja nicht Dein Ziel, oder?

Ich denke: Wenn schon satirisch überzogen, dann in den möglichst originellen Lösungsmöglichkeiten, die die Betroffenen finden könnten... ;)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

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