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Bleib hier, bleib doch hier.
Auf der grauen Leinwand des Nebels zeichnet sich sein Bild ab. Der Bart und das noch volle Haar weiß, in den Geheimratsecken nistet das Grau. Die Augenhöhlen schwarz und mitten darin das leuchtende Blau seiner Augen. Während er ihr sanft zulächelt, verschwindet sein Bild in einem mächtigen Regenschauer. "Bleib hier, bleib doch hier", flüstert sie.
Sie schaut über das Moor und die Felder, hinter ihr das zerfallende Gemäuer der alten Scheune, aus Feldsteinen und Sandmörtel. Langsam verebbt der Regen. Die zarten Tropfen machen ein knisterndes Geräusch auf dem großen Blechdach der Scheune, das der letzte Herbststurm zerrissen hat. Und wieder steigt langsam der Nebel auf. Das nasse alte Stroh riecht muffig. Von der Regenrinne klatschen stetig dicke Tropfen neben ihr auf den Betonboden. Die Erde schmatzt leise, sie ist vollgesogen mit Wasser.
Erst hier draußen hinter der Scheune fällt ihr wieder ein, dass er sie allein gelassen hat. Sie fühlt nur noch Leere um sich. Zu zweit haben sie sich Halt gegeben. Während er draußen Holz gespalten hat, hat sie für ihn gekocht. Er hat dann das Holz hereingetragen und sie hat Feuer im Ofen gemacht.
Jetzt kocht sie nicht mehr. Aber Feuer muss sie machen, die nasse Kälte schmerzt in den Knochen.
Sie hat ihn gesucht, am Hackklotz in der Scheune. Ist durch herabgefallene Bretter, Steine und aufgeweichte Pappkartons gegangen, die der Sturm herabgeworfen hat. Traurig über die Zerstörung, und dass sie keine Kraft und kein Geld mehr hatten alles wieder aufzubauen.
Sie ist allein. Helle Nebelstreifen heben und senken sich langsam, zeigen ihr verzerrte dunkle Umrisse von Büschen und Bäumen. Argwöhnisch suchen ihre Augen die Felder ab. Ohne ihn fehlt ihr die Hülle aus Vertrauen, die sie sich gemeinsam geschaffen haben. Sie fühlt sich schwach und verletzbar.
Während sie dasteht, nachdenkt, fühlt und schaut, hat sich unbemerkt die Dunkelheit hinter ihr ausgebreitet. Sie will zurück, aber zerbrochene Balken versperren ihr schwarz und abweisend den Durchgang. Bösartig lauernde Schatten hindern sie daran ihren Rückweg durch die Scheune zu nehmen. Die Betonplatte unter ihren Füßen ist in viele Teile zerbrochen. Aus den Spalten wächst Gras, dessen Spitzen braun und nass an der Erde kleben, und aus jeder Ritze quillt die Dunkelheit. Die verdorrten Blütenstände der Akelei stehen dicht und hüfthoch um den Rand der Platte.
Aus dem dunklen Mauerloch, dort wo die Tür der Scheune herausgebrochen ist, weht ihr die Angst entgegen. Sie heftet sich an Schultern, Arme und Nacken - undurchdringlich, schwarz und schwer. Dumpf pocht das Herz in ihrer Brust. Sie wendet sich zum Garten, durch die verfallene Scheune mag sie nicht mehr zum Haus gehen.
Der kleine Pfad um die Scheune herum ist uneben und matschig. Braune Rinnsale schlängeln sich über ihn. Die bleischweren Beine suchen sich rutschend und stolpernd ihren Weg. Sie beugt sich nach vorn und versucht schneller zu gehen. Sie keucht vor Anstrengung. Aber sie hat das Gefühl, dass sie immer langsamer voran kommt. Die Dunkelheit hat sich an sie geklammert. Mühsam setzt sie einen Fuß vor den andern die angstschwarze Schleppe hinter sich herziehend.
Als schwarze Silhouette taucht ein Baum vor ihr auf , Halt suchend greift sie nach seinem Stamm. Die nasse Rinde ist glitschig. Dennoch lehnt sie sich Atem schöpfend dagegen. Sie spürt, wie die Dunkelheit hinter ihr stockt, lauernd verhält, doch schon drängt sie sie weiter. Die unaufhörlich wachsende Dunkelheit lähmt sie und schiebt sie vor sich her. Sie schwitzt. Das Blut rauscht ihr in den Ohren und das Herz hämmert wild und stolpernd in ihrer Brust.
Nur schemenhaft erkennt sie das Haus im Nebel. Alle Fenster sind dunkel. Die groben Steine, mit denen der Hof gepflastert ist, bringen ihre schlurfenden Füße ins Stolpern. Sie fällt, versucht aufzustehen. Die steifen Glieder, die Schwäche, der Atem stockt, sie stöhnt.
"Ich schaffe es nicht", denkt sie, "mein Gott, ich schaffe es nicht."
Sie tastet vorwärts, ihre Hände stoßen an den großen steinernen Blumentopf am Fuße der Treppe. Jetzt kann sie sich hochziehen. Sie kennt die Treppe, tausend Mal ist sie die hinauf gegangen, gesprungen, gehüpft. Aber jetzt fühlen sich die Stufen fremd an, hoch, steil und abweisend. Ihre Hand findet das Geländer. Mühsam und nach Atem ringend zieht sie sich hinauf.
Vom Rande des Vordaches fällt ihr ein großer kalter Tropfen in den gebeugten Nacken. Die Berührung lässt sie erschauern. Sie glaubt, der eisige Finger des Todes habe sie berührt. Sie kann nicht mehr atmen, stöhnend fällt sie gegen die geschlossene Tür.
Die Schmerzen in der Brust lassen nach. Plötzlich atmet sie unbeschwert und erhebt sich mühelos. Die Tür schwingt langsam auf und wohltuende warme Helligkeit überflutet sie. Das Licht wäscht die Dunkelheit von ihr ab. Sie fühlt sich so leicht, dass sie glaubt fliegen zu können. Sie schaut sich um und bemerkt, dass sie in einem hohen, weiten Raum steht, der keine Wände hat. Und er steht vor ihr. Lächelnd nimmt er sie in den Arm und flüstert ihr zu: "Ich warte auf Dich."
Zuerst dringen einzelne Klänge in ihren Halbschlaf. Klirren, Brummen, Schritte. Als sie schließlich die Augen öffnet, sieht sie, dass sie in einem sauberen, weißen Bett liegt. Sie spürt ihren Körper, leichte Schmerzen in Knien und Waden, auch der Brustkorb tut weh, aber erträglich.
Allmählich weicht der Nebel aus ihrem Kopf. Ihre Wange spürt die Glätte des Leinens, sie riecht die Sauberkeit, in die sie gebettet ist. Aber hinter der Realität des Bettes und der weißen Wände bleibt sein Bild vor ihrem inneren Auge. Sie lächelt und seufzt zufrieden. Sie hat ihn gefunden.