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Blauer Vogel
6.9.2099 18:15:12 Uhr
Der Zug rauscht lautlos an mir vorbei, lässt mir die kurzen Haare um die Ohren fliegen. Ich stehe zu nah am Gleis. Aber dass interessiert niemanden. Mich auch nicht. Ich halte meine Augen einen Moment geschlossen und ich fühle plötzlich, wie der Druck kurz von meinen Schultern fällt. Ich sacke innerlich ein Stück zusammen... Ein scharfer Schmerz zuckt plötzlich durch meinen Kopf. Ich schaue auf, straffe meinen Rücken, ersticke den Keim der Schwäche, trete einen Schritt von den Gleisen zurück. Ich blicke mich um. Der kalte graue Himmel spiegelt sich in den Augen der anderen Schüler um mich herum. Mit erstarrten Gesichtszügen laufen sie rasch an mir vorbei. Mit Büchern unterm Arm und mit grauer Schuluniform bekleidet sehen sie alle gleich aus. Alle gleich. Die grauen Schüler vermischen sich mit dem grauen Asphalt, aus dem Asphalt erheben sich tote Bäume und alles geht über in den grauen Himmel auf den sich nur noch selten ein Sonnenstrahl verirrt. Ich bin einer dieser Schüler. Ein Leben wie auf dem Laufband, man kommt einfach nicht vorwärts, so sehr man sich auch anstrengt. Wir werden geboren um fleißige Menschen mit einem guten Job zu werden, unser ganzes Leben werden wir darauf vorbereitet, Vorschule, weiterführende Schule, Abendschule bis spät , Studium... Und wofür das alles? Damit wir hochangesehene Leute werden die keine Zeit für ihre Familien haben und unglücklich sterben. Das ist was ich von unserer Gesellschaft mitbekomme. Ich weiß nicht welche Nutzen meine Existenz überhaupt hat. Ich merke plötzlich, dass ich allein am Bahngleis stehe und haste den anderen hinterher in Richtung Abendschule. Der Unterricht beginnt um 18:30 Uhr, um 18:31 Uhr schließen sie die Türen. Ich weiß, dass wenn ich zu spät komme, wenn sie die Türen schon geschlossen haben, werden sie meinen Vater anrufen und ich werde nur noch mehr Arbeit aufgehalst bekommen. Er wird wütend sein, meinetwegen wird er seine geliebte Arbeit unterbrechen müssen. Wüsste ich es nicht besser, würde ich denken er liebt seinen Job mehr als mich.
Ich beiße mir so stark auf die Lippe, dass ich Blut schmecke. Jeder hier liebt seine Pflicht, seinen Job oder gute Noten offensichtlich mehr als seine Familie und Freunde. Jedoch keine Liebe, die etwas mit Freude zutun hat, sondern Liebe, die vom Verlangen nach Wissen und Geld entstand. Die gefühlten viereinhalb Stunden meines Lebens, die ich mit meinem Vater verbracht habe, machen uns fast zu Fremden. Bestehend aus Momenten der Einsamkeit. Meine Bücher scheinen heute besonders schwer. Die kalte Luft weht mir ins Gesicht und ich wünschte, der Wind wäre stark genug um mich mit sich zu reißen, davonzutragen.
18:25:49 Uhr Die Türen stehen noch offen. Sie sehen aus wie zwei gigantische Adlerschwingen, die mich empfangen. Ich verlangsame meinen Schritt und gehe an den Reihen kahler Bäume vorbei, auf das große Gebäude zu. Meine Sneaker sind lautlos auf dem kalten Stein, es ist so still, man könnte meinen die Menschheit wäre ausgestorben. Ich finde es erdrückend, beginne erneut zu rennen als ich plötzlich ein leises Vogelzwitschern höre. Ein heutzutage seltener Klang. Ich drehe mich um, suche den leeren Platz mit meinen Augen ab und sehe einen kleinen Vogel, dessen Federn blau schimmern als er sich wieder in den Himmel erhebt. Ich bekomme eine leichte Gänsehaut und ein Lächeln huscht mir über die Lippen. Ich beneide den Vogel um seine Flügel. Ich habe gelesen, dass sie früher Vögel als Haustiere gehalten haben. In kleinen Käfigen, die sie daran hinderten, richtig zu fliegen, frei zu sein. Schon witzig, dass wir jetzt diejenigen sind, die in einem solchen Käfig stecken. Ohne jede Hoffnung auf Freiheit. Ich weiß nicht welche Nutzen meine Existenz überhaupt hat.
18:30:30 Uhr Sofort als ich die die Türschwelle übertrete empfängt mich der Geruch von Desinfektionsmittel. Und von Kälte und Einsamkeit und Druck und verschwendeter Lebenszeit und es riecht neu... alles riecht so unerträglich neu und unberührt. Ich atme all das ein. Meine Schritte hallen an den weißen Wänden wieder und ich eile die Treppen hinauf um die Ecke und klopfe an die Tür von Raum 33.
18:31:01 Uhr Als ich eintrete, blicke ich dem Lehrer nicht in die Augen. Ich beuge meinen Oberkörper leicht nach vorne. “Entschuldigen Sie die Verspätung”, sage ich leise und richte mich wieder auf. Aus dem Augenwinkel sehe ich nur, wie er mich ebenfalls keines Blickes würdigt, lautlos auf meinen Platz deutet. Er fühlt sich so lächerlich wichtig. Ich schaue auf meine perfekt gebügelte Hose, um keine Blicke auf mich zu ziehen. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich stelle mir vor, dass ich ein paar Zentimeter über dem Boden schwebe und kein Geräusch von mir gebe, wenn ich laufe. Ich gleite auf meinen Stuhl und lege meine Hände vorsichtig auf die kühle Metallplatte. Einen Moment lang starre ich auf meine Handrücken, dann drehe ich den Kopf zu meinem Sitznachbarn. Er sieht mich schnell an, lächelt kurz. Er ist mein Freund, glaube ich. Er ist nett zu mir. Ein paar mal habe ich mich mit ihm unterhalten. Er hat gesagt, dass wir eines Tages losziehen und meine Mutter finden. Wir werden niemals zusammen losziehen und meine Mutter finden. Das weiß ich. Er wird seinen Schulabschluss machen, eine Universität besuchen, den Laden seines Vaters übernehmen - arbeiten um zu arbeiten. So wie jeder, das sehe ich in seinen Augen. Aber er ist dennoch nett und aus diesem Grund ist er vielleicht mein Freund. Der einzige Freund. Der Lehrer hat leise begonnen zu sprechen, gerade laut genug um ihn zu verstehen. Er redet schnell, ich schlage mein Buch auf und zwinge mich, zuzuhören.
20:00:28 Uhr Die ruhige, leise Stimme des Lehrers ist zu einem ständigen Hintergrundgeräusch geworden. Immer wieder muss ich meinen Kopf schütteln, um mich am abschweifen zu hindern. Mein Kopf schmerzt und die Zeit ist stehengeblieben. In etwa halbstündigen Abschnitten bekomme ich dieses komische Gefühl, wie jeden Tag. Eine brennende Faust schließt sich um meine Lunge und drückt zu. Mir wird heiß und kalt , ich atme flach und schnell und ich winde mich. Ich winde mich und möchte aus meiner Haut raus. Und dann ist es wieder vorbei. Er, neben mir, wirft mir unsichere Blicke zu, schweigt. Ich sehe in seinen Augen, dass er mit der Situation nicht umzugehen weiß und dass muss er auch nicht. Er wendet langsam den Blick ab und ich tue es ihm gleich. Wieder sehe ich auf die Uhr und stelle fest, dass es noch 2 Stunden dauert bis ich raus darf. Bis ich wieder frische Luft einatmen kann, bis der Druck in meiner Kehle nachlässt. Ich werde einfach an den schönen Vogel denken den ich gesehen habe.
22:00:00 Uhr Ich stürme ins Freie, wie jede Nacht nach der Abendschule, fange mir einige verstörte Blicke ein aber das ist mir egal. “Ich habe dich vermisst, Wind”, wispere ich und renne zum wartenden Zug.
22:20:40 Uhr Fast lautlos drehe ich den Schlüssel im Schloss und spähe wachsam durch den engen Spalt. Ich kann nichts hören. Hier ist es immer schrecklich still. Ich streife meine Sneaker auf der Schwelle ab und stelle sie feinsäuberlich neben die von Vater. Ich berühre die Wand mit meinen Fingern, zeichne ein Muster. Wie gerne würde ich alle Wände dieser weiß-grauen Welt mit Bunten Mustern bemalen. Mit Rot und Gelb und Blau und mit Grün und Rosa. Mit meiner Hand male ich den Vogel von heute nach. Ich weiß noch genau, wie er aussah, das Bild hat sich für immer in meine Netzhaut gebrannt. Ich blicke auf und gehe in die Küche. Am Tisch sitzt ein Mann, groß, breitschultrig und im Anzug. Er schaut geradeaus, sieht mich nicht an. Er ist ganz still, sitzt nur da. Alle sagen, wir sehen uns ähnlich aber ich erkenne mich nicht in ihm wieder, kein Stück. Ich neige den Kopf. “Guten Abend, Vater”, sage ich leise. “Du bist zu spät”, antwortet er mit ruhiger, tiefer Stimme. “Der Bus kam schon vor 5 Minuten an, du verschwendest Zeit wenn du so lang für alles brauchst.” Ich beiße mir auf die Lippe und blicke auf. Es entsteht ein kurzer Moment des Schweigens. Dann, “Vater, ich habe heute einen Vogel gesehen!” Ich atme schneller als sonst. Zum ersten mal heute, wendet er den Kopf ein Stück und sieht mir direkt in die Augen. Sein Blick zeigt keinerlei Reaktion, keine Regung ist in dem tiefen Schwarz zu erkennen. Doch plötzlich, blitzschnell knallt seine Hand mit voller Wucht auf den Tisch. Die Lampe flackert. Ich zucke zusammen, presse meine Lippen aufeinander, damit kein Buchstabe mehr hinausschlüpfen kann. “Das ist nichts womit du dich beschäftigen sollst.” sagt er schneidend, laut, aber in seinem Gesicht ist immer noch keine Emotion zu sehen. Er steht auf, dreht sich um und geht aufrecht und mächtig aus dem Raum. Die Luft scheint vor Spannung zu knistern. Es vergehen eins, zwei, drei Minuten und ich rege mich nicht von der Stelle. Eine heiße Träne rollt mir über die Wange. Ich weiß nicht, welche Nutzen meine Existenz überhaupt hat.
7.9.2099 06:03:00 Uhr Der rote Stift in meiner Hand zittert ganz leicht. Ich fühle mich wie betäubt, kann dem Lehrer heute noch schlechter lauschen als sonst. Ein Kloß sitzt in meinem Hals, ich denke, ich werde verrückt. Ich nehme meinen Block und meine Hand malt von ganz allein. Nichts konkretes, nur Muster. Es sieht aus wie eine Lotusblüte - Wieder knallt die Hand vor mir auf den Tisch. Dabei ist er gar nicht hier, muss ich mir sagen. Doch wieder zucke ich so heftig zusammen, dass mein Herz kurz stehen zu bleiben scheint. Wieder sehe ich seinen leeren Blick vor mir. Nichts ist in seinen schwarzen Augen. Mit zitternder Hand fahre ich mir durchs Haar, ich brauche halt. Meine Augen sind starr auf die Tischplatte gerichtet, ich sehe nur verschwommen. Seine Stimme, so schneidend, hallt in meinen Ohren. Er, mein eigener Vater lässt mich immer wieder zerbrechen, lässt mich gedrängt in einer Ecke zurück, lässt mich innerlich verstummen... Ich beiße mir fest auf die Lippe. Seine reißende Stimme wird lauter und lauter in meinem Kopf. Ich denke, ich werde verrückt. Mein Atem geht keuchend und schnell, mein Blut pulsiert kochend heiß, plötzlich ist alles zu viel, alles zu laut alles ist zu laut ich versuche einen klaren Gedanken zu fassen doch ich kann nicht ich kann nicht ich kann nicht ich will hier raus raus aus meinem Kopf ICHDENKEICHWERDEVERRÜCKT ! Ich springe auf und schmeiße dabei meinen Stuhl um. Es ist totenstill, Blicke auf mir wie Nadeln und plötzlich, weiß ich was ich zu tun habe. Weiß endlich, was ich zutun habe. Ich starre dem Lehrer in die Augen, zum ersten Mal, fühle ich mich nicht unterdrückt und klein. Er ist fast unmerklich bemüht, seine Überraschung zu verbergen, doch er kann nichts vor mir verstecken, niemand kann das, ich habe sie alle durchschaut. Dann, ohne ein Wort, gehe ich aus dem Raum. Als ich rasch durch die Flure gehe, strecke ich meinen Arm aus und fahre mit dem Stift, der noch immer in meiner Hand liegt, an der Wand entlang. Es regnet als ich aus der Tür trete. Und ich lache, ich lache laut und pure Freude kommt aus meiner Kehle hervor, als ich anfange zu rennen. Die Regentropfen sind eine Melodie und ich breite die Arme aus wie Flügel. Endlich bin ich auch ein Vogel. Jetzt ist all die Last von mir abgefallen, ich werde niemals zurückkehren. Ich lasse alles hinter mir und fliege mit dem Wind. Ich werde losziehen und meine Mutter finden.