Blauer Montag
Sie setzte sich auf den Bürostuhl - ihren Bürostuhl - und atmete erst mal tief durch. Der Morgen hatte für einen Montag viel zu stressig begonnen, mit einem Auto, das plötzlich nicht mehr wollte und einem medaillenverdächtigen Sprint zur U-Bahn. Und das alles an ihrem dritten Jahrestag in diesem Unternehmen, von dem natürlich nur sie wusste, dass es ihr dritter Jahrestag war. Und selbst wenn es jemandem auffiele, was gäbe es auch groß zu feiern. Eine Drei feierte man nicht. Vielleicht die Zehn, oder die Fünfundzwanzig, aber nicht die drei. Als sie in Gedanken hochrechnete, wie alt sie in 25 Jahren sein würde, bekam sie ein mulmiges Gefühl und verbannte den Gedanken schnell aus ihrem Kopf.
Sie griff nach ihrer Tasche, stellte sie in das kleine Fach im Aktenregal neben ihrem Schreibtisch und schaltet ihren Computer ein. Ihr Blick fiel über den Tisch auf Markus, dem sie seit zwei Jahren gegenüber saß. Er beachtete sie nicht, sondern starrte gebannt auf seinen Bildschirm. Nicht mal gegrüßt hat er, dachte sie. Sie lächelte und sah ihn weiter an. Irgendwann wirst du mich sehen müssen. Als fast eine Minute vergangen war, und er ihren Blick noch immer nicht "gespürt" hatte, kam sie sich bereits albern vor, außerdem verlangte der Computer penetrant ihr Passwort. Innerlich seufzend beendete sie ihr einsames Spiel und tippte ihr ROJ47Aj ein. Ein paar Sekunden vergingen, dann erschien ihr Arbeitsschirm, der aufdringlich auf seine Eingaben wartete. Auch vom Computer gab es keine Grußworte, stellte sie unüberrascht fest.
Rudolf kam vorbei und packte einen Stapel Arbeit auf ihren Tisch. Wie immer grinste er dabei mit einer Mischung aus Häme und Anzüglichkeit. Den anderen Arbeit zuzuteilen war genau die richtige Arbeit für ihn, und wahrscheinlich machte sie ihm auch Freude. Niemand mochte ihn, und hinter seinem Rücken nannten ihn alle Rudolf, das Rentier. Auf den Weihnachtsfeiern der Belegschaft fehlte er regelmäßig. Aber wenigstens er hatte aus seinem breit grinsenden Maul ein "Guten Morgen" herausgebracht. Gerade er!
Sie sah kurz auf den obersten Zettel, worauf sie die Worte "Abrechnung", "Gutschrift", "Lastschrift" las, und bekam plötzlich einen unbändigen Appetit auf Kaffee...und Schwarzwälder Kirschtorte, am besten gleich beides. Sie sah wieder zu Markus. Er kritzelte etwas auf einen Zettel. Seine blauen Augen strahlten, sogar wenn sie nicht auf sie gerichtet waren. Azurblau, es musste Azurblau sein. Wie die französische Riviera an einem heißen, wolkenlosen Sommertag. Blau war eine schöne Farbe, eindeutig ihre liebste. Bitte, sieh doch mal her, dachte sie beschwörend, aber Markus kritzelte unentwegt, hielt ab und zu kurz inne und kritzelte dann weiter. Wie konnte ein Mensch nur so in sich selbst versunken sein?
"Guten Morgen", platzte sie heraus und schimpfte sich sofort, dass ihre Stimme dabei so piepsig geklungen hatte. Jetzt sah Markus von seinem Zettel auf. Sein Blau schwappte über sie wie eine Woge kristallklaren karibischen Wassers.
"Guten Morgen", antwortete er und lächelte.
Sie lächelte zurück und ihr Blick wanderte von seinen Augen etwas nach unten, zu den niedlichen Grübchen an seinen Mundwinkeln, die treuen Begleiter seines Lächelns. Gerade wollte sie ihn nach seinem Wochenende befragen, als sein Telefon klingelte. Er verzog kurz missmutig das Gesicht und hob ab, sie lächelte verständnisvoll. Während er sprach, drehte er sich auf seinem Stuhl zur Seite und sah zum Fenster hinaus. Das Blau verschwand wieder.
Sie widmete sich wieder dem ersten Zettel auf ihrem Stapel. Lange, auf geheimnisvolle Weise angeordnete Zahlenreihen schlugen ihr entgegen. Aber sie verschwammen vor ihren Augen, weil sie die ganze Zeit an Urlaub denken musste, an heiße Sommertage an der Riviera. Irgendwann später atmete sie tief durch, und die Zahlen waren wieder da. Es war kurz nach acht.
Kurz nach zehn kam sie mit einer Tasse Kaffee zurück an ihren Arbeitsplatz. Wie es schien die einzige kleine Freude an diesem Montag. Sie hätte ihn auch in der kleinen Kaffeeküche trinken können, aber dort war Arschlochalarm. Rudolf und drei Typen vom Einkauf lungerten dort rum und versuchten ihr, während sie auf ihren Kaffe wartete, zu erklären, warum Bier besser sei als eine Frau. Sie hatte die ganze Zeit über mitgelacht, als fände sie ihr Gesülze komisch, und hatte sich dann schnell verabschiedet. Da bevorzugte sie doch ihren Tisch - ihr Reich, wie sie manchmal scherzhaft sagte - und noch viel mehr bevorzugte sie die Möglichkeit, sich an Markus zu ergötzen. Er hatte keine Anstalten gemacht, die Pause irgendwo anders zu verbringen, und als sie mit ihrer Tasse um die Ecke bog, saß er wie erwartet immer noch da. Sie setzte sich, er tippte wie wild auf seiner Tastatur. Heute schien ihn die Arbeitswut gepackt zu haben.. Sie beobachtete ihn von der Seite, seinen konzentrierten Blick auf den Bildschirm, seine Finger, die über die Tasten huschten, und schmachtete vor sich hin. Er war einfach zum Anbeißen, wenn er so in seine Arbeit versunken war. Sie nahm einen Schluck vom Kaffee und stellte fest, dass sie zuwenig Zucker genommen hatte. Ihr Blick wanderte zu seinen Haaren, dunkelblond, kurzgeschnitten und leicht gewellt. Genau wie sie es mochte. Sie sah wieder von ihm weg, da sie plötzlich Angst hatte, ihr Starren würde ihm auffallen. Während sie Lara am Tisch gegenüber beobachtete, wie sie drei Aktenordner gleichzeitig jonglierte, fragte sie sich, ob es nicht besser gewesen wäre, die Personalabteilung hätte ihr jemand anderen gegenübergesetzt. Jemand so um die fünfzig, mit dicken Brillengläsern und abstehenden Ohren vielleicht. Anfangs hatte sie sich diese Frage immer nur scherzhaft gestellt und selbst darüber gelacht, aber in letzter Zeit ertappte sie sich immer häufiger dabei, dass sie ernsthaft darüber nachdachte.
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie wie Markus sich nach unten beugte und etwas aus seinem Koffer oder aus einer Lade herausholte. Sie spähte über den Tisch und sah, wie er ein Brot auspackte. Ein Salatblatt und Tomaten ragten an der Seite heraus. Oh Gott, er fängt an zu essen, dachte sie und lachte in Gedanken über sich selbst. Sie liebte es, ihm beim Essen zuzusehen. Er war dann noch süßer als sonst, hatte so etwas Unschuldiges und ... Sanftes an sich. Seine sinnlichen Lippen, seine sich rhythmisch bewegenden Backen, während er leise vor sich hin mampfte. Vielleicht war es dumm so zu denken, aber was konnte sie tun? Die Gedanken kamen, wann sie wollten und taten was sie wollten.
Sie nahm einen weiteren Schluck von ihrem Kaffee und sah schnell wieder zu Lara hinüber, die jetzt gerade dabei war zu telefonieren, während sie abwechselnd in den drei Aktenordnern herumblätterte. Sie spürte, wie sich dieser Traum in ihren Kopf drängen wollte. Der Traum vom leeren Büro an einem samstag vormittag, nur sie und Markus sitzen an ihren Tischen und machen gemeinsam Überstunden. Der Traum von der zufälligen Berührung als er halb über sie gebeugt neben ihr steht und ihr hilft, weil der Computer plötzlich keine Eingaben mehr annehmen will. Der Traum von seinen Augen und wie er sie mit einem Mal ansieht, so ganz anders ist als sonst. Tief, vertraut ... und fordernd ...
"Wie war dein Wochenende?"
Markus' Stimme riss sie aus ihren Gedanken, ließ die Bilder so plötzlich verblassen, wie sie gekommen waren. Sie lächelte ein wenig unsicher, und fühlte sich ertappt.
"Nichts ... ich meine nichts besonderes. Mit Freundin getroffen, Kino, tanzen und zuviel getrunken..."
Er grinste und stopfte sich das letzte Stück seines Brotes in den Mund.
Sie grinste auch. Ein bisschen.
"Klingt ja gut."
"Naja", seufzte sie abwehrend. "Immer das Gleiche eben."
"Gleiches kann ja auch ganz schön sein."
Sie lächelte.
"Interessante Theorie, obwohl ich nicht ganz verstehe, was du damit meinst."
Er streckte sich auf seinem Bürostuhl, hob die Hände über den Kopf und umfasste mit der einen das Handgelenk der anderen.
"Ich versteh's auch nicht", sagte er. "Ist mir grad so eingefallen."
Beide lachten kurz.
"Wir verblöden hier", sagte sie nüchtern und ernster als sie eigentlich gewollt hatte. "Den ganzen Tag nur Zahlen, wie verrechnet man das mit dem ... kein Wunder, wenn wir anfangen, Unsinn daherzureden."
Die Worte waren kaum ausgesprochen, als sie plötzlich Angst bekam, er könnte vielleicht beleidigt sein, weil sie gesagt hatte, er rede Unsinn. Aber Markus grinste nur. Seine Augen waren so unendlich blau. Wenn er lächelte oder so spitzbübisch grinste wie in diesem Moment, schienen sie noch blauer als sonst. Er war nicht beleidigt. Warum war sie bloß so dämlich?
"Wie war dein Wochenende?" fragte sie.
"Gut", sagte er gedehnt und ein wenig abwesend. "Aber eigentlich, so gut auch wieder nicht."
"Wieso? Was habt ihr unternommen?"
"Kino, tanzen und zuviel getrunken."
Sie schlug ein wenig verschämt die Augen nieder und sah in ihre leere Kaffeetasse.
"Du verarscht mich", sagte sie gespielt betroffen.
"Aber es stimmt. Sie wollte unbedingt in diese Retrospektive. Französische Filme aus dem Jahre Schnee, Schwarzweiß und mit Schauspielern die keiner kennt."
"Du Ärmster."
Ihr gefiel die Vorstellung von ihm in einem dunklen Kino, gelangweilt und mit dem Schlaf kämpfend.
"Ja, was tut man nicht alles", sagte er und gähnte gleichzeitig. Er war wirklich süß.
"Danach noch ins Raven. Zum Tanzen, wie man so schön sagt. Aber eigentlich doch nur zum Trinken. Jedenfalls hat sie mehr getanzt als ich..."
Bevor sie noch etwas antworten konnte, kam Richie angestürmt, platzierte sich aufdringlich neben Markus und präsentierte ihm einige Zettel, zu denen er unentwegt Fragen stellte.
Sie sah auf ihre Uhr. Die Pause war ohnehin schon vorbei. Aber Richie hasste sie trotzdem.
Kurz nach zwölf saß sie gemeinsam mit Lara und Trudi in der Kantine beim Mittagessen. Sie sah auf ihren Teller und wusste genau, dass sie das nicht essen würde. Eigentlich hatte sie auf gar nichts Appetit, außer vielleicht auf Schwarzwälder-Kirschtorte, die es hier sogar gab. Aber irgendwie hatte sie nicht den Mut dazu, hier als einzige mit einem riesigen Stück Torte herumzusitzen. Sie schimpfte sich als dumme Kuh.
Zum Glück saß Trudi Lara gegenüber, so hatte sie freien Blick auf Markus zwei Tische weiter. Er aß dort mit einigen anderen Kerlen, die sie zwar kannte, aber vor lauter Gleichgültigkeit nicht wahrnahm, wenn sie heimlich hinüberspähte, um ihn zu beobachten. Ab und zu sagte er etwas und fuchtelte dabei mit der Gabel gestikulierend in der Luft herum. Manchmal lächelte er, dann wieder war sein Gesicht ernst und seine Blicke wichtig. Sie liebte seine Art, die Selbstvergessenheit, mit der er sich den Dingen widmete.
Trudi erzählte von dem Film gestern abend, der ihr so gefallen hatte, obwohl sie ihn anfangs gar nicht sehen wollte. Sie wäre schon dabei gewesen weiterzuzappen, sei aber dann doch hängengeblieben und hätte ihn sich bis zum Schluß angesehen. Sie hatte keine Ahnung von welchem Film Trudi sprach und es war ihr auch egal.
Markus und die anderen am Tisch begannen aus irgendeinem Grund lautstark zu lachen. Markus' Kopf wurde ganz rot, seine blauen Augen blitzten und sein heiteres Gesicht war plötzlich mehr denn je ihr einziges Verlangen. Sie legte die Gabel auf den vollen Teller und handelte sich die befremdlichen Blicke von Lara und Trudi ein.
"Ist du nichts?" fragte Lara.
"Nein, doch keinen Hunger."
"Du wirst doch nicht krank?" meinte Trudi sinnierend.
"Keine Ahnung. Kann sein. Oder ich bin's schon."
Sie lächelte, ein wenig aufgesetzt, und versuchte dann Trudi's Schilderung zu folgen. Sie erzählte noch immer von dem Film, der ihr so gefallen hatte.
Kurz nach vier klingelte Markus' Telefon, und an der Art wie er kurz darauf "Hallo" sagte, wusste sie, dass es kein "geschäftlicher" Anruf war. Und sie wusste auch wer anrief. Rasch nahm sie einen Zettel und tat so, als wäre sie ganz in den Inhalt vertieft. Markus drehte sich zur Seite, wie er es meistens machte, wenn er telefonierte. Sie lauschte.
"Ja ... ja, gehe jetzt ... Und wo sollen wir uns treffen?... Ja, kenne ich ... Ok, machen wir ... Ciao Schatz."
Klack.
Sie starrte weiter auf den Zettel. Markus stand auf, nahm seine Jacke, die über dem Stuhl hing, und zog sie an. Dann räumte er noch kurz einige Sachen auf dem Schreibtisch herum und griff schließlich nach dem kleinen Aktenkoffer, mit dem er immer zur Arbeit kam.
"Hey!" rief er ihr zu. "Es ist Feierabend. Hör sofort auf zu arbeiten!"
Er grinste und strich sich über die Haare.
"Ich mach nur das noch fertig", sagte sie und zwang sich zu lächeln. Sie hatte keine Ahnung, was auf dem Zettel stand, den sie schon die ganze Zeit ansah.
"Streberin, du machst unseren ganzen Schnitt kaputt. Bei der nächsten Zuteilung gibt's dann Erhöhung, weil wir ja so fleißig sind", lachte er.
"Ich glaube, da besteht bei mir keine Gefahr."
Er stand kurz unschlüssig dar. Natürlich nicht wegen ihr, weil er ihr vielleicht noch etwas sagen wollte, etwas Wichtiges und Schwer zu sagendes. In Gedanken kontrollierte er nur, ob auch alles erledigt war und er nichts vergessen hatte. Das machte er immer so. Sie kannte ihn schon gut. Zwei Jahre waren schließlich doch eine lange Zeit. Und wenn sie noch zwanzig Jahre nebeneinander saßen, hatten sie vielleicht etwas von einem alten Ehepaar, bei dem jeder die Macken des anderen kannte. Zumindest ein wenig.
Er lief an ihr vorbei, und im Vorbeigehen sagte er:
"Ciao, bis morgen dann."
"Bis morgen."
Sie begann ihren Tisch ebenfalls aufzuräumen, und redete sich ein, dass alles in Ordnung war. Ein Gefühl formloser Traurigkeit tobte wieder in ihr wie immer zu Arbeitsschluss. Jeden Morgen war sie froh ihn zu sehen, müde vielleicht und verärgert über die viele Arbeit, aber doch froh. Dann die verstohlenen Blicke und kurzen Gespräche während des Tages, nichts Aufregendes, nur das übliche freundschaftlich Geplänkel, aber in dieser Zeit gehörte er doch auf verrücke Art ihr. Obwohl sie wusste, dass ein Schatz mit Vorliebe für französische Filme aus dem Jahre Schnee auf ihn wartete, war er für sie doch mehr als nur ein "Ciao bis morgen", und die Stunden bis zum nächsten Morgen verkamen mehr und mehr zu einem sehnsüchtigen Warten. Sie versuchte sich damit abzufinden, dass jeder Tag Abschied bedeutete. Genauso wie es vorigen Freitag Abschied bedeutet hatte, und es morgen nachmittag Abschied bedeuten würde. Dagegen anzukämpfen war sinnlos. Das hatte sie schon versucht.
Sie rückte den Stuhl an den Schreibtisch, nahm ihre Tasche und ging.
Kurz nach fünf kam sie in ihre Wohnung. Unterwegs hatte sie noch eingekauft, nicht viel, nur etwas zu essen, obwohl sie noch immer keinen Hunger spürte, nicht einmal nach dem beiseite gestellten Mittagessen. Im Vorbeigehen schaltete sie den Fernseher. Sie stellte die Sachen in die Küche und legte sich dann aufs Sofa. Sie überlegte kurz, zum Computer zu gehen und nachzusehen, ob ihr jemand eine E-Mail gesendet hatte, wollte aber nicht mehr aufstehen. In den Werbepausen schloss sie die Augen und dachte an Markus. An seine blauen Augen, nicht zwei Schreibtische weg von ihr, sondern ganz nah. An sein Lächeln und an sein sanftes Gesicht.
Als in einer Reisesendung blaues Meer und Sommersonne gezeigt wurden, lachte sie kurz ein leises bitteres Lachen.
Kurz nach zwölf schlief sie auf dem Sofa ein. Es war Dienstag.