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Blaubeerkuchen
Ein Kurstadt-Sonntagnachmittag im Mai. 14.00 Uhr. Wie immer sonntags um diese Zeit sitzt Hanne im Cafe am Kurpark. Sie wartet auf ihre Freundin Maria, die ebenfalls 75 Jahre alt ist. Die beiden Rentnerinnen treffen sich bereits seit 8 Jahren jeden Sonntag pünktlich in dem Cafe. Nur einmal hatte Maria eine Erkältung und konnte nicht kommen. Die Frauen befinden sich in einem guten Allgemeinzustand.
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Im Cafe gibt es den besten Blaubeerkuchen, den man sich denken kann. Außerdem bekommen die Damen dort ihren sogenannten „Kaffee spezial“. Dieser ist nicht so stark und hat dennoch ein sehr gutes Aroma. Ein einziges mal schmeckte die Creme des Blaubeerkuchens ein bisschen ranzig. Maria beschwerte sich bei dem Wirt; dieser entschuldigte sich in aller Form und gab den Freundinnen einen Anislikör aus. Der war vorzüglich und konnte als Entschädigung durchaus akzeptiert werden. Hanne hat das Gefühl, als könne sie heute noch den guten Geschmack wahrnehmen.
Außerdem ist der Wirt darauf bedacht, dass die weiblichen Stammgäste immer ihren gleichen Platz am Fenster erhalten. Von dort kann man nicht nur das Lokal sondern auch die Umgebung bestens überblicken. Lediglich einmal saß eine andere Person um die übliche Zeit an dem Tisch. Der Wirt sprang sofort vermittelnd ein und konnte die Person in eine andere Ecke des Lokals bugsieren. Überhaupt gibt er sich sehr viel Mühe mit seinen treuen Gästen. Er erzählt manchmal einen guten Witz und baut dabei die Pointe sehr gekonnt ein. Niemand kann sagen, dass er keine Witze erzählen könne.
Mittlerweile ist es 14.10 Uhr. Hanne kann Maria nirgends erblicken. Durch das Fenster hat sie eine gute Übersicht. Wo die Freundin heute wohl bleibt? Draußen geht eine jüngere Frau mit ihrem kleinen Hund vorbei. Dieser kläfft ohne Unterlass. Ein Terrier vielleicht. Aus der Sicht von Hanne gibt es ja nette Hunde, dieser gehört aber sicher nicht dazu. Der Wirt fragt nun auch schon, ob Maria heute später kommen wolle. Hanne antwortet, dass ihr in dieser Hinsicht nichts bekannt sei. Sie wird jetzt bereits ein bisschen unruhig.
Es ist 14.20 Uhr.
Vielleicht sollte sie einmal versuchen, Maria auf ihrem Handy zu erreichen. Diese hat das Handy noch nicht lange. Ihre Lieblingsenkelin konnte sie aber dazu überreden, sich ein solches „Teil“ zuzulegen.
Sie wählt die Nummer, nachdem sie ihre Gleitsichtbrille aufgesetzt hat. Das Freizeichen ertönt. Hanne lässt immer wieder anklingeln. Maria meldet sich nicht. Hanne überlegt, was sein könnte. In den 8 Jahren der regelmäßigen Treffen kam so etwas bisher nicht vor. Da kommen ihr die Katzen Marias in den Sinn. Die beiden Stubentiger sind der ganze Stolz der Freundin. Sie werden von ihr wie Kinder behandelt. Maria kann stundenlang über diese Tiere reden. Es kann schon manchmal nervend sein. Die eine Katze mag nur dieses Futter, die andere nur das. Hanne dachte schon oft, dass die beiden Viecher doch Mäuse fressen sollen, wenn ihnen alles nicht schmeckt. Vielleicht kam es zu Verzögerungen, weil eines der Tiere krank ist oder eine sonstige Verstimmung hat.
Bis auf die Katzenverrücktheit ist Maria aber wirklich eine gute Freundin, mit der man alles reden kann.
Als Hanne aus dem Fenster blickt, sieht sie die älteren Ehepaare, die wie jeden Sonntag in das nahe Restaurant zum Tanztee eilen.
Es ist also bereits 14.30 Uhr. Einige sind sehr elegant angezogen. Hanne dachte schon oft, dass in diesen Fällen viel mehr Schein als Sein vorhanden ist. Auch Maria war in gemeinsamen Gesprächen stets der Meinung, dass es direkt widerlich ist, wie vulgär sich ältere Frauen manchmal anziehen und alten aber vermögenden Witwern oder den Musikern beim Tanztee an den Hals schmeißen. Nie käme so etwas für Maria oder Hanne in Frage. Einen kurzen Moment befürchtet Hanne, dass Maria vielleicht doch einen älteren Liebhaber gefunden hat. Der Gedanke ist aber einfach zu absurd. Sie hätte sie vorher informiert...
Das Cafe füllt sich an diesem Tag nur sehr langsam. So fällt auch nur wenigen, häufig kommenden Gästen auf, dass Hanne alleine sitzt. Es wäre ihr auch peinlich, wenn andere Leute ihre Nervosität bemerkten. Sie bestellt sich jetzt auch ohne Maria ein Stück Blaubeerkuchen mit Sahne und eine zweite Tasse „Kaffee spezial“. Die gute Freundin wird schon noch erscheinen. Der Blaubeerkuchen ist wieder ganz ausgezeichnet. Er wird von einem bekannten Konditor in der näheren Umgebung hergestellt. Das Cafe ist für diesen Kuchen fast schon im ganzen Landkreis bekannt. Einmal hatten Hanne und Maria Mohnkuchen gegessen. Der Sonntag war dadurch fast verdorben. Für Hanne gehören zu einem Sonntag der Blaubeerkuchen, „Kaffee spezial“ und Maria. Warum sollte ein Sonntag anders ablaufen? Das Gewohnte gibt dem Menschen Halt.
Der Wirt macht ein paar beiläufige Bemerkungen über das Wetter. Er fragt nicht nach Maria. Hanne merkt aber, dass er gerne eine Frage stellen würde. Sie gibt ihm dazu keine Gelegenheit und lobt den Blaubeerkuchen, der wieder ganz vorzüglich schmeckt. Das Stück kommt ihr heute fast noch größer als sonst vor.
Gegen 14.40 Uhr versucht Hanne noch einmal, Maria auf ihrem Handy zu erreichen. Wieder meldet sich niemand. Hanne merkt, wie wichtig ihr im Laufe der Zeit die Freundschaft mit Maria wurde. Dies trotz des Umstands, dass sich die Gespräche häufig in der Hauptsache um Marias Katzen drehten. Ein weiteres Lieblingsthema war immer die Reinlichkeit und Gründlichkeit Marias in ihrem Haushalt. Ja, sie war schon ihrem Mann immer eine pflichtbewusste Ehefrau und den Kindern eine gute Mutter gewesen. Nun sind die beiden Damen schon viele Jahre verwitwet und die Kinder befinden sich in weiter Ferne. Die Kurstadt bietet eben nicht die besten Berufsmöglichkeiten für junge Menschen.
Wenn die Familie weit entfernt ist, erweisen sich gute Freunde als wirklich vorteilhaft. Hanne und Maria haben sich das schon oft gegenseitig bestätigt. Das junge Mädchen, das hier manchmal an den Wochenenden hilft, fragt nun, ob Hanne einen weiteren Wunsch habe. Hanne will aber erst einmal abwarten. Als sie aus dem Fenster sieht, bemerkt sie, dass sich die Promenade immer mehr füllt. Die Kurgäste haben Besuch und die Bewohner der umliegenden Dörfer wollen einmal durch die Kurstadt schlendern.
Hanne sieht überwiegend ältere Menschen aber auch Familien mit Kindern und Liebespaare. Es gehen auch einzelne Menschen ohne Begleitung spazieren. Das möchte Hanne nicht. Wieder bemerkt sie, dass die Freundschaft zu Maria doch fast unverzichtbar ist. Sie mag sich gar nicht vorstellen, sonntags alleine im Cafe am Kurpark zu sitzen. Trotz der vielen Menschen draußen ist in dem Cafe kein größerer Andrang festzustellen. Es ist sowieso unangenehm, wenn die Lokalität so schrecklich mit Menschen angefüllt ist. Manche Leute können sich einfach nur laut unterhalten. Maria und Hanne empfanden das schon immer als störend. Vor allem Kinder gehen gar nicht….An diesem Tag ist noch sehr viel Blaubeerkuchen vorhanden. Maria könnte sich eine ganze Wochenration mit nachhause nehmen, wenn sie denn endlich einmal käme.
Gerne würde Hanne diese Wochenration bezahlen, wenn Maria doch noch erschiene. Ein Blick aus dem Fenster macht diesen Wunsch aber zunichte. Von Maria ist weit und breit nichts zu sehen.
Die gemeinsamen Sonntagnachmittage waren doch immer so schön unterhaltsam…
Um 14.50 Uhr tritt der Wirt an den Tisch zu Hanne. Die erkennt, dass er einen furchtbar neugierigen Gesichtsausdruck hat. Er stellt aber keine Fragen. Ja, der Wirt war schon immer sehr diskret. Er redet nie großartig mit seinen Gästen in deren Anwesenheit sondern eher über diese in ihrer Abwesenheit. Das „Witzeerzählen“ als Form der weitgehend einseitigen Kommunikation bildet eine Ausnahme.
Einen ganz hervorragenden Käsekuchen habe er nun neuerdings im Angebot; ob Hanne diesen einmal probieren wolle. Sie lehnt dankbar ab. Er wisse doch, dass immer nur Blaubeerkuchen in Frage komme. Dieser sei auch wirklich unübertrefflich und man könne ihn gar nicht genug loben. Der Wirt gibt hierzu keinen Kommentar ab. Er geht hinter die Theke zurück und bereitet einen Eisbecher zu. Das Serviermädchen hat eine entsprechende Bestellung in Auftrag gegeben.
Die altmodische Uhr im Cafe am Kurpark zeigt nun 15.00 Uhr an. Da hört Hanne einen Signalton ihres Handys. Eine SMS ist eingegangen. Hanne sieht auf den Empfänger. Gottseidank. Maria….
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Sie öffnet die SMS:
Bin heute im Cafe am Westfalensteg mit Gerlinde. Dort gibt es einen wirklich fabelhaften Himbeerkuchen und der Milchkaffee ist nicht zu überbieten. Ich habe den Blaubeerkuchen ebenso satt wie das Cafe am Kurpark. Werde es daher nicht mehr betreten.
Gerlinde ist schon über 80. Sie kommt mir aber doppelt so jung vor. Ich werde mich jetzt jeden Sonntag mit ihr treffen. Sie liebt Katzen und ist eine fabelhafte Hausfrau.
Maria
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Hanne wundert sich, wie man sich so schnell auf einen anderen Kuchen umgewöhnen kann.
Sie wird den exzellenten Blaubeerkuchen in Zukunft alleine genießen. Sie nimmt noch drei Stück mit nachhause.
Um 15.10 Uhr zahlt sie und verlässt das Cafe nicht ohne den gleichen Tisch für den nächsten Sonntag zu reservieren. Sie wird auch alleine genießen können.
Der Wirt gibt ein paar Abschiedsfloskeln von sich.
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