Blasen
Blasen
"Ach, das ist ja himmlisch! Wunderschön! Herrlich! Nein, ja, ja du machst das phantastisch! Ach, da kommen sie ja! Da kommen sie! Du machst das großartig, Phae!" Ruthe riß ihre Hände in die Luft, der Speck an ihren Oberarmen schwabbelte dabei. Sie winkte ihre Schülerinnen herein, lachte und tanzte mit den Hüften, 86 Kilo auf 1,50.
"Kommt herein! Alle! Kommt alle nur herein! Jaaaa!" Ruthe begrüßte all ihre neuen Schülerinnen per Handschlag. Mit ihren weichen Wurstfingern packte sie die zierlichen Hände ihrer Lehrlingstöchter und knetete sie durch. Ihre Hand fühlte sich an wie ein Luftkissen, prall, nicht zu fest drücken, sonst platzt sie.
Ruthes Schülerinnen waren zahlreich eingetroffen und sie schloß hinter der letzten die Tür. Ruthe wackelte mit den Händen hoch in der Luft durch die Tischreihen vor zu ihrem Pult, mit einem gewagten Hüftschwung stand sie dahinter, senkte langsam ihre Hände, legte sie flach auf das Pult und blickte schüchtern lächelnd durch die Reihen. Dann begann sie zu nicken: "Ja, meine Kinder! Ihr habt heute Großes vor!" pustete sie und schaute in die jungen Gesichter. Sie riß ihre Arme wieder in die Höhe und rief jauchzend: "Laßt uns beginnen!"
Ruthe schmiß den Overhead-Projektor an und knipste das Licht aus. Sie legte die erste Folie auf: "Laßt euch nicht abschrecken, Kinderchen, aber das werden wir heute schaffen! Ja, laßt es uns immer wieder sagen: Wir werden die Männer glücklich machen! Und nicht nur die Männer, Kinderchen, die Frauen auch! Jaaaa!!!" Die Kinderchen schauten ehrfurchtsvoll auf die Folie. Ja, sie hatten Großes vor!
"Bitte nehmt jetzt die Deckel ab und stellt sie rechts neben euch auf den Boden“, forderte Ruthe ihre Schülerinnen auf. "Einstecken und Anschalten! Ganz toll macht ihr das! Ganz toll!" Ruthe wuselte durch die Reihen, knipste hurtig das Licht wieder an, daß die Mädchen auch Licht hatten.
"Kinderchen! Ihr Süßen, schenkt mir eure Aufmerksamkeit!" Ruthe deutete auf ihre Augen. "Die Maschinen sind jetzt an, betrachtet nun die Funktionsfenster! Was könnt ihr da sehen?" fragte sie in die Runde. Mariechen meldete sich.
"Ja, Mariechen?"
"SPEED!" piepste sie hinter ihrer Maschine hervor und mit großen Augen wartete sie auf Antwort.
"Ja, genau: SPEEEEED!" antwortete Ruthe und riß dabei den Kopf in den Nacken. "Mit der SPEED-Taste könnt ihr drei verschiedene Höchstgeschwindigkeiten einstellen! Die Maschine kann nur mit der vorgewählten Höchstgeschwindigkeit arbeiten, wenn der Fußanlasser ganz nach unten gedrückt wird!"
"STICHLÄNGE!" schrie Kula.
"Jaaaaa, die STICHLÄNGE!" schrie Ruthe, "Die Stichlänge wird geändert, indem ihr entweder die Plus- oder die Minustaste gedrückt haltet! Die Länge könnt ihr so von 0 bis 6 mm einstellen!"
"RÜCKWÄRTSTASTE!" schrie Jesa.
"Jaaaaa, die RÜCKWÄRTSTASTE!" schrie Ruthe.
"Die PROGRAMMIERTASTE!"
"Die STOP-TASTE!"
"Die NADELSTOP-POSITION!"
"Jaaaaa, ihr habt ja alle Reeecht!" schrie Ruthe und riß ihre Hände in die Höhe, klatschte sie über ihrem Kopf zusammen und kreiste ihre Hüften. Nachdem sie einige Zeit kreiste und wackelte, nahm sie ihre Hände wieder herunter, rückte ihre Bluse zurecht, machte den obersten Knopf wieder zu, den ihr Busen bei der Aktion gesprengt hatte und holte das Material. Es ging los. Ruthe ging durch die Reihen und verteilte jedem einen Probestoff.
"Unser Material ist begrenzt, deswegen üben wir jetzt erst einmal an diesem Probestoff. Ihr müßt aufpassen, Kinderchen, das letztendliche Material ist in keinster Weise ähnlich zu diesem hier. Es gibt kein ähnliches Material, deswegen müssen wir ja so aufpassen! Es ist einmalig!" Ruthe war wieder hinter ihrem Pult angelangt, schaute mit Tränen in den Augen auf ihre Schülerinnen, die da saßen und auf Anweisungen warteten, ach, die Generationen...
"Zuerst lernen wir die Einfache Naht! Die werden wir im Endeffekt nicht verwenden, aber zur Einstimmung und Übung ist es gut, diese Technik zu beherrschen! Wir dürfen uns keine Fehler erlauben, wenn ich nachher das richtige Material austeile!" begann Ruthe. "Mit der Einfachen Naht werden zwei Stofflagen aufeinandergenäht. Die Nahtzugabe ist offen und muß deshalb noch versäubert werden. Übt, als sei es das richtige Material! Die zwei Stoffteile werden kantengleich, Oberseite auf Oberseite aufeinandergelegt und zusammengesteckt. Zur Übung! Nachher müssen wir gleich nähen, nachher dürfen wir nicht Stecken! Bei keiner Naht! Das ist wichtig, Kinderchen! Sehr wichtig! Deswegen müßt ihr üben, ihr müßt es können! Ihr müßt es beherrschen!"
"Dann legt ihr die Nahtzugabe zur Innenseite der Maschine und steppt 1 cm von der Schnittkante entfernt entlang. Nachher müssen wir sehr sparsam mit der Nahtzugabe umgehen, deshalb ist es wichtig, Kinderchen, daß ihr jetzt schon übt schön gerade zu nähen! Das ist wichtig!"
"Ihr legt die Nahtzugabe auseinander und versäubert jede Schnittkante für sich mit dem Zick-Zack-Stich. Die Stoffkante muß so unter dem Nähmaschinenfuß geführt werden, daß die Nadel abwechselnd in den Stoff und dicht neben der Kante einsticht! Das ist sehr wichtig, Kinderchen! Sehr wichtig, daß ihr nicht daneben sticht!"
Ruthe ging nervös durch die Reihen und blickte den Schülerchen prüfend über die Schultern. Das machten sie hervorragend. Ohne Fehler. Wundervoll.
Gegen Mittag hatten die Schüler vierundvierzig Stoffproben genäht und durften Pause machen. Sie gingen alle zur Cafeteria, um zu Mittag zu essen. Ruthe setzte sich derweil zu Phae und schnaufte tief durch: "Ach Phae, ich bin so erschöpft!"
"Du hast wundervolle Schüler, Ruthe! Sie lernen sehr schnell! Wir werden immer schneller und können mehr produzieren! Wir werden die verkümmerten Dinger wieder aufpeppen! Wir werden nicht zugrunde gehen!" beruhigte sie Ruthe.
"Ich hoffe, du hast Recht, Phae!" schnaufte Ruthe, "Wir haben schließlich gekämpft! Wir saßen nicht untätig herum!"
"Und wir kämpfen immer noch, Ruthe! Es wird wieder schöne Zeiten geben! Der Anfang ist gemacht! Und wir werden es auch zu Ende bringen!"
"Es ist die letzte Generation! Wir müssen es zu Ende bringen! Wir müssen es schaffen, Phae!"
"Auf der ganzen Welt wird gearbeitet, wir werden es schaffen! Eine weiße Frau hat mal gesagt: Entweder wir sterben als freie Männer und als freie Frauen, oder wir sterben beim Versuch es zu werden! Und weißt du, wer das gesagt hat, Ruthe?"
"Ja, Phae. Das weiß ich, das weiß ich, Phae!"
Phae arbeitete weiter, Ruthe ließ sie allein. Wir werden es schaffen, dachte sie, wir leisten gute Arbeit! Sehr gute! Ihr trauriger Gesichtsausdruck schwang um in ein optimistisches Lächeln, als sie die Gesichter der Kinderchen sah, die von ihrer Mittagspause zurückkamen.
"Gekräftigt gehen wir ans Werk, meine Kinder! Das Werk ist bereits begonnen und nun werden wir es zu Ende führen!"
"Die Übersteppte Naht, Kinder! Die Übersteppte Naht ist unser Ziel! Denn nur die Übersteppte Naht hat die Haltbarkeit, die wir brauchen! Die Übersteppte Naht ist fest und zugleich Verzierung! Die Nahtlinie wird betont! Die Nahtzugabe liegt außerdem sehr flach, was von ungeheurem Vorteil ist! Die Verkrustung fällt nicht so sehr aus!"
"Ihr legt die Stoffteile rechts auf rechts und steckt ein letztes Mal zur Übung! Ihr steppt steppfußbreit! Ihr versäubert beide Schnittkanten gemeinsam! Ihr faltet den Stoff auseinander und legt die Naht auf eine Seite. Von der Oberseite des Stoffes steppt ihr bei 0,5 cm von der Nahtrille entfernt nochmals ab! Und fertig! Und fertig, Kinder!" Ruthe nickte vor sich hin, sie werden es schaffen, dachte sie, sie lernen schnell!
"Phae, was meinst du?" flüsterte Ruthe, "Denkst du, sie sind schon so weit?"
"Ruthe, wir dürfen keine Zeit verlieren, das weißt du, aber sind sie dem wirklich schon gewachsen? Ich weiß nicht!" antwortete Phae und blickte über ihre Lesebrille in die Gesichter der Kinder, die eifrig nähend an ihren Maschinen saßen. "Sie lernen schnell, das sehe ich, aber hat es auch Qualität?"
"Ja, Phae, sie sind begabt!"
Phae überlegte, rückte ihre Lesebrille zurecht, schaltete ihre Maschine aus.
"Was hast du vor, Phae?" fragte Ruthe ihre Freundin ängstlich.
"Ich werde sie prüfen!"
"Kinder!" begann Phae, stellte sich vor das Pult und hielt ihre Arbeit in die Luft. "Könnt ihr das schaffen? Ihr seid schnell, daß sehe ich! Aber macht ihr eure Arbeit auch gut und gewissenhaft? Seid ihr euch bewußt welche Verantwortung ihr übernehmt, um so etwas zu schaffen?" fragte Phae und hielt ihre Arbeit noch höher in die Luft. "Es ist die Schöpfung! Ihr müßt ihm Leben einhauchen oder wir werden zu Grunde gehen!"
Mädchen fingen an zu weinen, andere rannten verängstigt aus dem Zimmer. Ruthe stand entsetzt an der Wand, hielt die Tränen zurück. Phae stand vorne am Pult, hielt ihre Arbeit höher in die Luft, das Blut lief ihr den Arm hinunter, voller Erwartungen schaute sie durch die noch übrigen Gesichter.
"Ja, Mrs. Labery, wir sind bereit, deswegen sind wir gekommen! Und wir werden nicht eher gehen, bis wir in den Händen halten, was Sie in Ihren Händen halten!" antwortete eine Schülerin, "Geben Sie uns das nötige Material!" Die Stimmung im Raum änderte sich in eine Hochburg der Euphorie. Meine Schüler, dachte Ruthe und wischte sich eine Träne von der Wange, Revolution! Nein, Evolution! - dachte Phae.
Ruthe schüttelte sich, schüttelte ihre letzten Tränen aus dem Gesicht, riß die Arme in die Höhe, schwang sich durch die Tischreihen und begann das letzendliche Material zu verteilen. Die Kinderchen nähten mit gierigen Augen, hielten sich strickt an die Anweisungen, machten keine Fehler, nähten, steppten, Höchstgeschwindigkeit, machten keine Fehler, ja, die Welt wird überleben, denn hier arbeiteten die Frauen der Schöpfung und machten keine Fehler.
Ruthe und Phae gingen durch die Reihen, schauten der letzten Generation über die Schulter, halfen ihnen, gaben ihnen mehr Material, noch mehr Material, halfen ihnen bei den Rundungen, beim Vernähen, kein Stich ging daneben, mehr zuschneiden, sie mußten noch mehr zuschneiden und kein Stich ging daneben.
"Paßt auf, daß es nicht anfängt zu bluten!" warnte Ruthe. "Näht jetzt die Schwellkörper ein, die Harnröhre! Wir werden heute noch fertig! Ich hole die Kühlbehälter. Blast ihnen das Leben ein - blast, meine Kinderlein!"
[ 19.06.2002, 18:59: Beitrag editiert von: Korina ]