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Blackout
Der Schotter knirschte unter den Reifen meines Geländewagens, als ich die Auffahrt zur Hütte entlang fuhr. Ich hatte mich auf den Weg gemacht, um in der Abgeschiedenheit wieder etwas zu mir zu finden nach dem ganzen Mist mit Tanja, meiner Frau. Nun, so wie es aussah, wahrscheinlich bald Ex-Frau. Eine kurze Affäre mit einer meiner Doktorandinnen, und sie wollte fünfzehn Jahre Ehe einfach so wegwerfen. Zugegeben, es war nicht der erste Ausrutscher dieser Art gewesen, aber trotzdem: Tanja verhielt sich vollkommen irrational. Diese blöde Kuh! Machte mir die Hölle heiß und wollte jetzt erst einmal Zeit für sich haben. Seit einer Woche war sie nicht mehr in unserer gemeinsamen Wohnung gewesen. Von mir aus. Sollte sie sich bei ihrer Rückkehr ruhig wundern, wo ich steckte. Ich würde mich hier ein, zwei Wochen einquartieren und endlich wieder durchatmen.
Ich entlud den Wagen und stapelte die Vorräte in der kleinen Küche. Mit einer verführerisch kalten Flasche Bier setzte ich mich auf die hintere Terrasse und schaute auf den See.
Das Haus hatten wir kurz nach Antritt meiner Professur am sozialpsychologischen Institut gekauft. Endlich eine Perspektive, nach all den Jahren des wissenschaftlichen Tingeltangel-Lebens. Die Bezahlung hätte besser sein können, aber wir waren zufrieden gewesen und hatten Pläne geschmiedet. Auf das Haus am See waren wir zufällig bei einer unserer Touren ins Umland gestoßen. Wir wanderten beide gern und der von alten Bäumen gesäumte See mit seinem dunkelblauen, fast schon schwarzen Wasser hatte uns sofort in seinen Bann gezogen. Wie friedlich es hier war. Wenn die Sonne auf die Oberfläche schien, hatte man das Gefühl, direkt in die Seele des Sees zu schauen.
Die Hütte war renovierungsbedürftig gewesen, aber das dazugehörige Grundstück groß, und die Terrasse grenzte direkt an das Wasser. Tanja und ich hatten uns sofort in das Anwesen verliebt und machten dem Besitzer, einem alten Herrn, der das Haus seit Jahren nicht mehr nutzte, ein mehr als großzügiges Angebot. Im Laufe der Jahre richteten wir das alte Haus wieder her und statteten es mit einigem Komfort aus. Ich verbrachte hier viele unbeschwerte Sommer mit Tanja. Später dann immer öfter auch das eine oder andere Wochenende mit wechselnden Affären. Tanja erzählte ich etwas von Dienstreisen, ob sie mir glaubte, wusste ich nicht, aber es war mir zu diesem Zeitpunkt auch schon egal gewesen. Ich liebte Tanja, sicher, aber ich wollte auch frei sein. Ein Widerspruch, unter dem unsere Ehe zunehmend zermalmt wurde. Ich reagierte darauf mit Abwesenheit, Tanja, indem sie versuchte, mir das Leben zur Hölle zu machen. Wir hatten immer öfter Streit, und immer häufiger war ich betrunken. Überhaupt, der Alkohol. Ich wusste, ich trank zu viel, und ich wusste auch, dass mich der Fusel veränderte. Oder vielleicht auch nur das an die Oberfläche trieb, was tief in mir verborgen lag: Zorn.
Ich erhob mich aus meinem Liegestuhl und durchforstete die Plattensammlung. Kurz darauf trieben die Klänge von Neil Youngs „Harvest“ über den See. Immer noch ein verdammt starkes Album, fand ich und leerte gierig die Flasche, dann noch eine, und noch eine, bis sich allmählich ein Gefühl der Entspannung einstellte. Ich machte Pläne für die nächsten Tage: lange Spaziergänge, Angeln, vielleicht sogar weiter an der kulturpsychologischen Abhandlung arbeiten, an der ich gerade saß - schon viel zu lang saß. Und vor allem wollte ich Abstand von Tanja gewinnen, das ewige Auf und Ab in unserer Beziehung - Streit, Versöhnung, wieder Streit - hatte mich zermürbt und dünnhäutig gemacht. Meist gedanklich abwesend, ging ich meiner Arbeit an der Hochschule nur noch halbherzig nach und war zudem schlecht gelaunt. Ich fühlte mich gefangen in diesem Leben. Ja, ich musste wirklich einmal durchschnaufen.
So beschloss ich, an diesem ersten Abend früh schlafen zu gehen. Am nächsten Morgen würde ich ein ausgiebiges Bad im kalten See nehmen und mich dann einfach durch den Tag treiben lassen.
Mein Schlaf in dieser Nacht war allerdings unruhig. Ich erwachte mehrmals mit dem Gefühl, jemand stünde an meinem Bett und würde mich beobachten. Jemand, den ich kannte. Aber da war niemand - nur die Dunkelheit und das Rauschen des Windes in den Bäumen.
Eiskaltes Wasser empfing meinen müden Körper und ließ mein Herz für einen Moment aussetzen. Dann schoss das Adrenalin durch meine Adern und meine Muskeln pumpten sich voll mit Energie. Es war herrlich, im Licht der ersten Sonnenstrahlen mit gleichmäßigen Armbewegungen das Wasser des Sees zu durchpflügen. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ich das Gefühl wieder ganz bei mir zu sein. Nur mir selbst zu gehören.
Anschließend duschte ich lange und heiß, sehr heiß. Als ich aus der Duschkabine trat, glich das kleine Badezimmer einem römischen Dampfbad. Ich trocknete mich ab und wollte mir gerade Rasierschaum auf die Wangen schmieren, da sah ich es. Ich erstarrte in der Bewegung. Auf dem durch den Wasserdampf beschlagenen Spiegel stand in zittriger Schrift geschrieben: HILFE. Unwillkürlich schaute ich hinter mich, so als müsste dort der Verfasser der Nachricht stehen. Ich sah wieder zum Spiegel. HILFE, war dort immer noch deutlich zu lesen. Für einen Moment durchfuhr mich ein heftiger Schwindel, als würde ich auf einem stark schwankenden Schiff versuchen das Gleichgewicht zu halten. Ein Scherz, dachte ich dann. Da muss sich jemand einen Scherz mit mir erlauben. Genau, das war es. Wütend, aber auch erleichtert über diese, mit einem Mal absolut naheliegende Erklärung, wischte ich ungestüm über die Glasfläche. Dann ging ich in die Küche und rasierte mich mit Hilfe des Handspiegels, der an einem Haken über der Spüle hing.
„Hallo Professor“, begrüßte mich der Besitzer des kleinen Lebensmittelladens freundlich. Ich hatte mich nach einem raschen Frühstück ins Auto gesetzt und war in das nächstgelegene Dorf gefahren, in dem wir während unserer Aufenthalte am See oft Dinge des täglichen Bedarfs kauften.
„Guten Tag.“ Ich schlich durch die Gänge und gab vor, mich für die Produkte in den Regalen zu interessieren. Nach ein paar Minuten trat ich an den Tresen mit der Kasse und fragte betont beiläufig: „Wie läuft das Geschäft?“
„Na ja, sie wissen ja. Nicht viel los hier“, entgegnete er achselzuckend und sah mich neugierig an. Wahrscheinlich wunderte er sich darüber, dass ich überhaupt ein Gespräch mit ihm begonnen hatte, war ich doch sonst eher wortkarg und beschränkte mich auf das Notwendige: Guten Tag, Danke, Auf Wiedersehen. Aber dieses Mal wollte ich etwas von ihm wissen.
„Tja“, sagte ich nur.
„Wenn Sie nicht gelegentlich reinschauen würden ...“
„Es ist ja nicht weit von unserer Hütte.“
„Hmm.“
„Sonst war niemand hier? Ich meine, jemand Fremdes?“
Er schaute mich verwundert an.
„Jemand Fremdes?“, wiederholte er meine Frage.
„Ja, zum Beispiel in den letzten Tagen.“
Der Mann schürzte die Lippen und überlegte kurz: „Nein, mit Ausnahme von Ihnen vor einer Woche, niemand.“
„Wie bitte?“ Ich glaubte, mich verhört zu haben.
„Na, Sie waren doch vor einer Woche hier und haben Putzmittel gekauft.“
„Ich soll ...“ Obwohl ich mir sicher war, dass er sich täuschen musste, verstummte ich angesichts seines fragenden Blicks und sagte stattdessen: „Ach so. Ja, sicher. Und das war’s?“
„Wie ich schon sagte, niemand sonst.“
„Na klar. Ist auch nicht so wichtig. Dann nehme ich noch eine Packung Filterlose, bitte. Da oben, die roten.“
Ich zahlte das Päckchen und fuhr zurück.
Putzmittel? Ich hatte in meinem ganzen Leben noch keine Putzmittel gekauft. Und überhaupt, ich sollte vor einer Woche hier gewesen sein? Der Mann musste sich gründlich geirrt haben, hatte mich entweder verwechselt oder sich in der Zeit vertan. Während des Sommers kamen wir öfter mal spontan für einige Tage hier heraus, aber ich wusste genau, dass ich seit ein paar Wochen nicht mehr hier gewesen war. Oder etwa doch?
Ich überlegte: Eine Woche hatte ich allein zu Hause gesessen und auf Tanja gewartet, bevor ich wütend in meinen Wagen gestiegen war. Und davor? Da war ich wahrscheinlich auch in der Stadt gewesen, hatte mich mit Tanja gestritten, zu viel getrunken, mein Leben verflucht. Das Übliche eben. Auch wenn ich mich nicht an jeden einzelnen Tag erinnern konnte – aber wer konnte das schließlich schon – so war ich mir doch sehr sicher, dass ich nicht hier gewesen war. Warum auch? Dennoch hatte mich die Aussage des Verkäufers verwirrt. Ich war mir zwar bewusst, dass mein Gedächtnis nicht das Allerbeste war, aber daran hätte ich mich doch erinnert. Ich hätte schließlich Vorbereitungen treffen müssen: Lebensmittel kaufen, ein paar Kleidungsstücke zusammenpacken, das Auto auftanken. Aber nichts dergleichen hatte ich getan. Nein, der Mann musste sich einfach getäuscht haben. Aber ein seltsames Gefühl blieb, wie ein Nerv, der kaum spürbar gereizt wird. Und das Gefühl verstärkte sich, als ich unter der Spüle in der Küche einen Haufen unterschiedlicher Reinigungsmittel fand.
Die nächsten zwei Tage verbrachte ich damit, zu schreiben. Es lief gut und das wollte ich nutzen. Zu lange schon hatte ich die Abgabe hinausgezögert, und ewig würde mir der Dekan das nicht durchgehen lassen. Der Druck hörte eben nie auf. Nach den jahrelangen Erniedrigungen auf halben, ach was, viertel Stellen, verlängert im Dreimonatsturnus, teilweise sogar auf eigene Rechnung, an irgendwelchen Provinzinstituten. Und Tanja, die mir in den Ohren lag mit dem immer gleichen Vorwurf, sie hätte ihre eigene Karriere für mich aufgegeben, und die nie zufrieden war mit dem, was ich tat. Nicht nur ein Mal war ich kurz davor gewesen alles hinzuschmeißen, weil ich nicht mehr schlafen konnte, Angstzustände hatte, ein Gefühl der Unwirklichkeit mich glauben machte, ich sei verrückt geworden, ja, manchmal konnte ich mich nicht einmal mehr erinnern, wie ich an diesen oder jenen Ort gelangt war. Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als zu trinken und zu versuchen, mir zwischen den Schenkeln junger Frauen mein verlorenes Leben zurückzuholen. Manchmal funktionierte es, meistens jedoch nicht.
Aber allein in der Hütte, voll konzentriert auf meine Arbeit, das erwies sich als unerwartet wohltuend. Die Arbeit machte mir immer noch Spaß und ich merkte geradezu, wie sich meine Muskeln entspannten, mein Geist wieder klarer wurde und ich empfand seit langer Zeit wieder so etwas wie Vergnügen. Den Vorfall im Lebensmittelladen hatte ich bald vergessen.
Als ich am Nachmittag des zweiten Tages gerade meine Arbeit unterbrach, um mir in der Küche einen Kaffee zu kochen, warf die Sonne ein wunderschönes Muster an Lichtstrahlen durch das Wohnzimmer und durch den schmalen Flur bis auf den Küchenboden. In Gedanken bei meiner Arbeit, bemerkte ich den Fleck auf dem braunen Bodenbelag erst gar nicht. Er war groß, sehr groß sogar, aber kaum zu erkennen. Wahrscheinlich hatte ihn das zufällig an diesem Tag und zu dieser Uhrzeit in die Küche einfallende Sonnenlicht erst sichtbar gemacht. Zumindest war mir dieser Fleck zuvor noch nie aufgefallen. Ich schaute hoch an die Decke, da ich einen Wassereinbruch vermutete, aber es war nichts zu erkennen, was darauf hingedeutet hätte. Äußerst seltsam. Na ja, vielleicht war Tanja einmal eine Flasche Rotwein auf dem Boden zerbrochen? Ich kochte den Kaffee und starrte dabei unentwegt auf den Fleck am Boden.
Den Abend verbrachte ich mit Lesen, Rauchen und Trinken – Trinken, vor allem. Nachdem ich mein Notebook ausgeschaltet hatte, überkam mich mit einem Mal eine große Einsamkeit. Das Haus war so still und obwohl ich es mir nur ungern eingestand, vermisste ich Tanja. Zumindest die Tanja, die mit mir lachte, mir liebevoll über das Haar strich und ihren nackten Körper lustvoll an meinen schmiegte.
Sie hatte immer Kinder gewollt. Ich hingegen konnte Kindern nichts, rein gar nichts, abgewinnen. Für mich bedeutete die Verantwortung, die sich damit ergab, einen nicht hinnehmbaren Eingriff in mein Leben, so wie ich es gern führte. Deshalb war ich auch nicht allzu ambitioniert gewesen, wenn es um die Familienplanung ging. Ich ließ Tanja machen und lieferte halbherzig meinen Beitrag dazu, jeden Monat hoffend, dass der Erfolg ausblieb.
Und so war es auch: ein Jahr verging, ohne dass sie schwanger wurde. Mir war es Recht, und fast erleichtert nahm ich das Ergebnis meines Spermiogramms zur Kenntnis, zu dem mich Tanja irgendwann genötigt hatte: niedrige Spermienqualität, Befruchtungswahrscheinlichkeit sehr gering. Für mich war damit alles klar gewesen, doch Tanja hatte sich immer mehr hineingesteigert. Sie wurde noch ehrgeiziger und kämpfte ihren aussichtslosen Kampf gegen die Statistik. Als sie sich schließlich eingestehen musste, dass dieser Kampf wohl nicht zu gewinnen war, wechselte ihr Gemütszustand in schneller Abfolge von wütend über traurig bis depressiv. Und insgeheim gab sie natürlich mir die Schuld für ihren unerfüllten Wunsch nach Kindern und einer Familie – was es nüchtern betrachtet auch war. Andererseits, was konnte ich für meine Spermien? Auf jeden Fall waren diese kleinen Nichtschwimmer mit den gegabelten Schwänzen das ideale Angriffswerkzeug für Tanja, wenn es wieder einmal darum ging, mich anzukeifen: Schlappschwanz, Eunuch, waren noch die freundlichsten Ausdrücke, die sie mir an den Kopf warf. Und obwohl es mir eigentlich egal war, ob ich Kinder zeugen konnte oder nicht - hey, bedeutete es doch, dass ich mir keine Gedanken um ungewollt geschwängerte Doktorandinnen machen musste - traf Tanja damit bei mir einen Nerv und konnte mich ordentlich auf die Palme bringen. Vielleicht, weil es doch etwas anderes war, es auf einem nüchternen Ausdruck zu lesen, und, es aus ihrem Mund zu hören, mit diesem verächtlichen Blick in den Augen.
Die Gedanken daran bewirkten, dass ich mich, entgegen meines Vorhabens weniger zu trinken, schließlich auf der Terrasse wiederfand, abwechselnd Bier und Whisky saufend. Und dann musste ich an den Abend denken, an dem ich sie zum ersten Mal geschlagen hatte.
Es war einige Jahre her gewesen, Tanja und ich befanden uns gerade voll im Projekt „Nachwuchs“. Ich war spät nach Hause gekommen, irgendeine Veranstaltung an der Universität mit anschließendem Abendessen hatte mich aufgehalten. Sie hatte kerzengerade auf einem der eleganten Stühle an unserem viel zu großen Esstisch gesessen und mich mit einem Blick angesehen, der mit vorwurfsvoll noch sehr nett beschrieben wäre. Du kommst spät, hatte sie gesagt und mich sofort darauf aufmerksam gemacht, dass an diesem Tag eine sehr hohe Befruchtungswahrscheinlichkeit bestehen würde. Das bedeute: Sex, sofort. Nur war ich alles andere als in der Stimmung dazu, und machte den großen Fehler, ihr das auch zu sagen.
Der anschließende Wutausbruch von Tanja war einer der heftigsten gewesen, den sie bis dahin gehabt hatte. Ich war seltsam passiv geblieben, wollte das alles einfach nicht mehr hören. Doch sie fand kein Ende, beschimpfte mich, zerrte an mir, warf Teile unserer Einrichtung gegen die Wand. Und das alles nur wegen eines windelscheißenden Babys. Ich hatte während des Abendessens mit meinen Wissenschaftskollegen ordentlich getankt und spürte irgendwann, wie sich die Wut wieder ihren Weg an die Oberfläche bahnte. Ich weiß noch, dass ich wortlos aufgestanden war, mich vor Tanja gestellt und ihr ansatzlos einen wuchtigen Hieb in das Gesicht verpasst hatte, der sie auf den Boden schleuderte. Halt die Fresse, hatte ich danach gesagt und war dann ins Bett gegangen.
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es bei diesem Ausrutscher geblieben ist, wirklich. Aber leider sollte sich bald herausstellen, dass dieser erste Schlag eine Tür aufgestoßen hatte zu einem Raum voller körperlicher Gewalt. Nun, rückblickend war es wohl eher eine riesige Halle.
Voller Schwermut kippte ich einen Whisky nach dem anderen, so lange, bis die Flasche leer war. Der Abend war längst in eine stockdunkle, ungewöhnlich stille Nacht übergegangen und ich fühlte mich schrecklich müde. Ich schleppte mich ins Schlafzimmer und fiel, angezogen wie ich war, in das ungemachte Bett.
Ein Geräusch weckte mich. Es war noch dunkel draußen, ich konnte also nicht lange geschlafen haben. Ich war immer noch besoffen, aber nicht mehr so sehr, dass ich das Geräusch einfach hätte ignorieren können. Eine Art rhythmisches Klopfen, wie feine Zweige, die gegen ein Fenster schlagen. Es kam aus dem vorderen Bereich des Hauses. Ich erhob mich schwerfällig und bemerkte, dass ich nur Boxershorts trug. Seltsam, war ich nicht voll bekleidet ins Bett gestürzt?
Das Schlafzimmer lag am Ende eines Flurs, der so dunkel war, dass ich das Gefühl hatte, ich würde ins Nichts treten. Langsam tastete ich mich an der Wand entlang und erreichte die Tür zum Wohnzimmer. Ich lauschte. Das Geräusch war immer noch zu hören: tatatack, tatatack. Vorsichtig öffnete ich die Tür und sah hinein.
Der Mondschein hatte den Raum in ein silbriges Licht getaucht, schemenhaft erkannte ich den Tisch, das Sofa, das Bücherregal. Und eine Gestalt. Sie stand an der Panoramascheibe, durch die man den im Mondlicht glänzenden See erkennen konnte, und hatte mir den Rücken zugewandt. Es war eine Frau in einem langen weißen Nachthemd, unter dem sich ein schlanker Körper abzeichnete. Sie trommelte mit den Fingern ihrer rechten Hand gegen die Glasscheibe. Ließ nacheinander Zeigefinger, Mittelfinger und Ringfinger gegen das Glas tippen: tatatack, tatatack. Immer und immer wieder. Dabei sah sie auf den See hinaus. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, also trat ich leise in das Zimmer und fragte mit brüchiger Stimme: „Wer bist du?“
Als die Frau mich hörte, verharrten ihre Finger in der Bewegung. Quälend langsam drehte sie sich zu mir um, doch bevor ich ihr Gesicht sehen konnte, gab es einen lauten Knall und das Bild verschwamm vor meinen Augen.
Ich erwachte schwitzend und mit einem Mund trocken wie die Wüste auf dem Sofa im Wohnzimmer. Mein Kopf dröhnte und als ich mich aufgerichtet hatte, sah ich, dass der Boden übersät war mit den Scherben einer zerbrochenen Whisky-Flasche. Das Schlimmste war allerdings, dass ich keine Ahnung hatte, warum ich auf dem Sofa wach geworden war. Hatte ich mich zum Schlafen nicht in das Bett gelegt? Und dann kam langsam die Erinnerung an den Traum wieder: das Zimmer im Mondlicht, die geheimnisvolle Frau am Fenster, das Geräusch ihrer Finger, die an die Scheibe klopften. Unwillkürlich drehte ich mich zu der Stelle um, an der sie in meinem Traum gestanden hatte, aber da war natürlich nichts, nur der friedliche See im Licht der Vormittagssonne. Ich stand auf, machte einen großen Bogen um die Glasscherben und trank gierig Wasser aus der Leitung in der Küche.
Nachdem ich mich wieder einigermaßen erholt hatte, beschloss ich, die Reste der letzten Nacht aus meinen Gliedern zu wandern. Ich würde meine Stiefel schnüren, einige Vorräte einpacken und den ganzen Tag in den endlosen Wäldern der Gegend verbringen. In dem kleinen Schuppen, den ich an das Haus gebaut hatte, wollte ich mir unter den dort gelagerten Ausrüstungsgegenständen und Werkzeugen das Benötigte zusammensuchen und dann so schnell wie möglich aufbrechen. Gerade hatte ich den Schlüssel in das Schloss gesteckt, da sah ich, dass etwas in den Staub geschmiert worden war, der das Schuppenfenster bedeckte. Mein Puls beschleunigte sich und meine Hand, die den Schlüssel hielt, begann zu zittern. Denn dort stand: HILFE ER TUT MIR WEH. Ich starrte auf die, wie es schien, hastig auf das Fenster geschriebenen Buchstaben und musste wieder an die Botschaft an meinem Badezimmerspiegel denken. Und da war noch mehr: Ein Gefühl der Unruhe, das sich in mir ausbreitete. Ich konnte es nicht genau lokalisieren, aber von diesem Moment an sollte es mich nicht mehr loslassen, vielmehr sollte es sich verstärken, mit jedem Tag, jeder Stunde, jedem Augenblick.
Sicher, als ich die Nachricht am Schuppenfenster las, glaubte ich immer noch an einen schlechten Scherz. Andererseits, wer sollte sich die Mühe machen, hier in die Einöde zu fahren und diese seltsamen Nachrichten zu hinterlassen? Und dieser Jemand hätte sich sogar Zutritt zu meinem Haus verschaffen müssen.
Tanja, dachte ich dann. Ja, Tanja. Sie hatte natürlich auch einen Schlüssel für das Haus. Aber hätte ich sie nicht irgendwie bemerken müssen? Aber wer weiß, das Biest war clever. Je mehr ich darüber nachdachte, desto logischer erschien mir diese Vermutung. So logisch, dass ich mein Vorhaben wandern zu gehen vergaß und stattdessen ins Haus zurückrannte und in den Tiefen meiner Reisetasche mein Mobiltelefon suchte. Bei meinem Aufbruch vor einigen Tagen hatte ich mir zwar geschworen, dass ich sie nicht anrufen würde, aber nach Lage der Dinge hatte ich jetzt einen mehr als guten Grund. Also setzte ich mich auf das Bett und schaltete hastig das Telefon ein. Doch es entglitt meinen Händen und polterte auf den Boden. Genervt bückte ich mich und dabei fiel mein Blick unter das Bett.
Plötzlich war der Anruf nicht mehr wichtig, denn ich hatte etwas entdeckt: Tanjas Sporttasche. Ich zog sie hervor. Ja, das war die Tasche, die sie für kurze Reisen benutzte. Ich öffnete den Reißverschluss, das waren Tanjas Kleidungsstücke. Ich presste eines der Shirts an meine Nase und sog ihren Geruch ein. Was machte diese Tasche unter dem Bett? War sie etwa hier gewesen? Aber wann? Nach dem heftigen Streit vor zwei Wochen? Verdammt, was war eigentlich genau passiert, bevor ich hierher kam?
Ehe ich mich versah, goss ich mir ein Glas randvoll mit Whisky und trank in gierigen Schlucken. Das war doch alles total verrückt! Ich versuchte mich an die letzten zwei Wochen zu erinnern, merkte aber immer mehr, dass ich es nicht konnte. Ich wusste noch, dass ich vor meiner Ankunft in der Hütte einige Tage zu Hause gesessen und vor mich hingebrütet hatte. Hatte ich getrunken? Anzunehmen. Tanja war gegangen, aber wann? Was war davor? Ich füllte mein Glas noch einmal und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ganz ruhig, und noch einmal genau nachdenken, ermahnte ich mich. Aber ich war alles andere als ruhig, und das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, verstärkte sich immer mehr. Meine Beine zitterten und ich verspürte den Drang mich zu bewegen, lief wie ein eingesperrtes Tier im Zimmer auf und ab.
Was war davor geschehen? Wir hatten uns gestritten, bevor sie sich ohne Vorwarnung davongemacht hatte. Ja, so war es. Und dann? Ich wusste es einfach nicht mehr. Hatte sie nicht gedroht, es wäre endgültig aus mit uns? Ich hatte es nicht Ernst genommen, dieses Mal genauso wenig wie die vielen Male zuvor. Aber offensichtlich hatte sie es durchgezogen. Und dann war sie hierher gekommen. So musste es gewesen sein. Nur, was hatte ich getan? Wahrscheinlich war ich tagelang besoffen gewesen, bevor ich mir dann in den Arsch getreten und halbwegs nüchtern auf ihre Rückkehr gewartet hatte. Aber sie war nicht zurückgekehrt.
So, wie ich mir das ausmalte, musste sie dann hier auf jemanden gewartet haben. Wahrscheinlich hatte sie sich hier mit einem Mann getroffen und war mit ihm auf und davon. Die Geschichte, die ich mir an diesem Tag zurechtgelegt hatte, benebelt vom Schnaps, schien mir so einleuchtend, dass ich laut lachen musste. Und dann fluchte ich, schrie es über den See in die Welt hinaus: diese Schlampe, dieses verlogene, untreue Miststück! Und obwohl ich zugleich wütend, traurig, enttäuscht und unglaublich in meinem Stolz gekränkt war, empfand ich auch Erleichterung. Darüber, dass das Kapitel Tanja damit wohl erledigt war. Ich hoffte nur, ich müsste sie nie wiedersehen. Darauf musste ich anstoßen und leerte im Laufe des Tages die Flasche Whisky und noch viele Biere, bis ich wieder vollkommen betrunken ins Bett sank. Das Gefühl der Unruhe hatte ich allerdings mit dem Alkohol nicht betäuben können.
Tatatack, tatatack, tatatack. Wieder hörte ich die trommelnden Geräusche aus dem Wohnzimmer. Sie stand am Fenster und sah hinaus auf den See. Das lange, dunkle Haar verdeckte ihr Gesicht.
„Wer bist du?“, fragte ich und sie verharrte, bewegte dann unmerklich den Kopf und schien etwas am Ufer des Sees zu beobachten. Ich näherte mich ihr mit langsamen Schritten, mein Atem ging heftig und kalter Schweiß durchnässte mein Shirt. Mit zum Zerreisen gespannten Nerven streckte ich eine Hand nach ihr aus, um sie zu berühren. Ich wollte ihr unbedingt ins Gesicht sehen, wollte wissen, wer dort am Fenster stand. Doch kaum hatte ich meine Hand auf ihre Schulter gelegt, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf: „Nein.“
Ich zuckte zusammen und zog meine Hand zurück, als hätte ich mich verbrannt.
„Wer bist du?“, versuchte ich es erneut. Noch immer hielt sie ihr Gesicht vor mir verborgen, nein, vielmehr verschwammen ihre Konturen vor meinen Augen, so dass sie jede Frau hätte sein können, oder auch keine Frau, ich konnte es einfach nicht sagen.
„Du musst dich erinnern“, hörte ich wieder das Flüstern, das direkt in meinem Kopf zu entstehen schien.
„Erinnern?“, fragte ich.
„Dort.“
Ich sah hinaus in die Dunkelheit, konnte aber nichts erkennen.
„Du musst dich erinnern.“
Dann drehte sie sich langsam zu mir um, ihr Haar bedeckte immer noch das Gesicht. Sie hob die Hand, ergriff eine Strähne und strich sie sich hinter das Ohr. Nein, das konnte nicht sein!
Nein!
Die Sonne brannte auf meinem Gesicht. Vor meinen geschlossenen Augenlidern tanzte der Tag. Ich spürte, wie sich tausend spitze Gegenstände in meinen Rücken bohrten. Waren das Steine? Als ich mich ächzend auf die Seite drehte, schossen solch starke Schmerzen durch meinen Kopf, dass ich kotzen musste. Ich schirmte meine Augen mit einer Hand ab und sah mich um. Heilige Scheisse, wie es aussah, lag ich neben meinem Wagen auf dem Schotterweg. Nackt.
Den bitteren Geschmack in meinem Mund ignorierend, rappelte ich mich auf und lehnte mich gegen die Tür des Range Rover. Was war passiert? Was zum Teufel war mit mir los? So schlimm es mir in der Situation auch ging, ich wünschte mir nichts sehnlicher als einen Drink. Also wankte ich zurück zur Hütte, um mir ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Ja, das wäre jetzt genau das Richtige. Ich stemmte beide Arme gegen die Wand der Hütte, um kurz zu verschnaufen, dabei warf ich einen Blick über die Schulter. Fast teilnahmslos las ich die Nachricht, die mit aus Kieselsteinen geformten Buchstaben auf der Motorhaube des Autos hinterlassen worden war: HILFE ER BRINGT MICH UM.
Nachdem ich mich angezogen hatte, war ich schnurstracks in den Ort gefahren, hatte im Lebensmittelladen so viele Flaschen Schnaps gekauft, wie ich tragen konnte und wollte gerade wieder wortlos verschwinden, als der Verkäufer sagte: „Schöne Grüße an ihre Frau.“
„Was?“, fuhr ich den alten Kerl an.
„Äh, ich wollte nur...“, stammelte er.
„Scheiß drauf. Verstanden? Scheiß drauf!“, schrie ich ihn an und knallte die Tür zu.
Die erste Flasche öffnete ich noch während des Rückwegs im Auto. Die darauffolgenden Tage blieben mir nur noch als Aneinanderreihung von Szenen in Erinnerung, die Collage eines exzessiven, selbstzerstörerischen Saufgelages.
Und immer wieder diese Träume: tatatack, tatatack, tatatack.
Erinnere dich.
Aber woran sollte ich mich erinnern? Verdammt! Und hatte das etwas mit der Unruhe zu tun, die sich mittlerweile in Panik verwandelt hatte? Aber Panik wovor?
Tatatack, tatatack, tatatack. Erinnere dich. Dort. Erinnere dich. Dort.
HILFE ER BRINGT MICH UM! Erinnere dich. ER-IN-NE-RE-DICH!!!
Ich erwache mit einem vollkommen klaren Kopf, liege auf dem Sofa, das Wohnzimmer ist kaum wiederzuerkennen. Der Boden ist übersät mit leeren Bier- und Schnapsflaschen, Glasspittern, zerrissenen Büchern, Fetzen eines aufgeplatzen Sofakissens. Mein Notebook liegt zerschmettert in einer Ecke des Raumes. Es riecht nach Schweiß, kaltem Rauch, Fusel und Erbrochenem. Nur mit einer Shorts bekleidet, stehe ich auf, laufe vorsichtig zur Terrassentür und blinzele in den sonnigen Tag. Ich stehe jetzt dort, wo sie immer stand. Tatatack, tatatack. Erinnere dich. Dort. Ich schaue in Richtung der Bäume am Ufer unweit des Hauses, dazwischen Gestrüpp und sandiger Boden. Als ich die Tür öffne, dringt der Geruch von Sommer in den Raum, Vogelgezwitscher, der Schrei eines Wasservogels in der Ferne. Wie friedlich es hier ist, denke ich. Ich trete auf die Terrasse und atme tief ein und wieder aus. Ein und aus, einige kostbare Augenblicke lang. Dann gehe ich zum Schuppen und entriegele die Tür. Ich finde schnell, was ich suche. Mit dem Spaten in der Hand laufe ich zu den Bäumen und dem Gestrüpp. Ich bleibe stehen, lasse den Blick schweifen, und entdecke im sandigen Boden eine Verwerfung. Kraftvoll dringt der Spaten in den Boden und hebt die lockere Erde aus. Der weiße Stoff kommt als Erstes zum Vorschein, darauf ein großer roter Fleck. Ich grabe weiter. Noch einmal hebt sich der Spaten, dann schaue ich in die vor Schmerz und Entsetzen weit aufgerissenen toten Augen von Tanja.