Blackout
Das war kein schönes Erwachen. Geblendet selbst vom schwachen Morgenlicht öffnete Hewington die Augen gerade weit genug um zu erkennen dass er es in der Nacht wohl nicht mehr bis zu seinem Bett geschafft hatte und ohne sich Schuhe und Hose auszuziehen auf der Couch eingeschlafen war. Nun kündigten sich Kopfschmerzen an, doch er fühlte sich auch so schon schlecht genug. Mann, muss das ein Gelage gewesen sein gestern! Doch er konnte sich gar nicht erinnern...
Jetzt wollte er eigentlich hier liegen bleiben, denn wenn er aufstünde, das wusste er, spürte er seinen Kater erst recht und den ganzen Tag bekäme er nichts zu Stande.
Eine Stunde später mühte er sich endlich von der Couch und verbrachte eine weitere Stunde im Bad, bis er sich einigermaßen fit fühlte. Die Kopfschmerzen waren nicht stärker geworden – hatten aber auch nicht aufgehört, außerdem gesellte sich ein noch viel unangenehmeres Schwindelgefühl hinzu. Ab und zu flimmerte es vor seinen Augen, dann sah er alles nur verschwommen und undeutlich so dass es ihm doppelt schwer fiel sich einen Weg durch das Chaos seiner Wohnung zu bahnen. Dies war nicht sein erster Morgen nach dem Genuss von zu viel Cenolschnaps, aber er konnte sich nicht erinnern dass es jemals so schlimm war.
Hewington ging in die Küche und suchte im Kühlschrank nach etwas Essbarem. Dort herrschte aber gähnende Leere so dass er sich schließlich mit Knäckebrot und einigen Schlucken H-Milch zufrieden geben musste. Einkaufen war er schon seit Wochen nicht mehr gewesen, doch er war ja diese unfreiwillige Diät gewöhnt. Seine Arbeit ließ ihm nun mal kaum Zeit für andere Dinge. Aber bald hatte das ja ein Ende, bald war er berühmt, müsste nie wieder arbeiten, hätte keine finanziellen Sorgen mehr und könnte sich auf seinen Lorbeeren ausruhen. Der Gedanke daran gab ihm immer wieder Mut zum Durchhalten.
Doch da fiel es ihm ein: Verdammt, er hatte doch heute noch einen riesigen Berg Arbeit vor sich! Sein Projekt war ja gerade in der kritischen Phase, jetzt ging es daran zu Beweisen ob seine Theorien stimmten. Bei dem Gedanken flammte der Kopfschmerz wieder auf. Oh nein, er musste sich beeilen um im Zeitplan zu bleiben!
Also, erst mal kurz ins Labor und nach dem Rechten sehen. Doch wo war der Schlüssel der Labortür? Scheiße, er hing nicht an seinem Platz! Sollte er ihn jetzt etwa suchen? Wo ihm seine Augen ständig Streiche spielten und in seinem Arbeitszimmer eine furchtbare Unordnung herrschte? Überall lagen Papiere herum, lose und gestapelt, auf dem Boden, auf Stühlen und auf dem Tisch. Noch viel wahlloser schienen elektronische Instrumente und Bauteile im Raum verteilt zu sein, genau wie die dicken Fachbücher über die er fast stolperte. Für den nächsten Umtrunk unter Kollegen hatte er eine Kiste voller Cenolflaschen gekauft, die neben seinem Schreibtisch stand. Dieser Umtrunk lag jetzt wohl hinter ihm, denn alle Flaschen waren leer. – doch er konnte sich verdammt noch mal nicht erinnern! Totaler Blackout, Mist!
Ein verdammtes Teufelszeug war dieser Cenolschnaps. Vor einigen Jahren war Hewington selbst maßgeblich an dessen Entwicklung beteiligt gewesen: Cenol war ein vollkommen synthetischer Stoff, ein äußerst komplexes Molekül dass Struktur und Bau der Nervenzellen manipulierte und kurzzeitig veränderte, was der Gehirnforschung viele neue Erkenntnisse brachte. Die Wirkung von Cenol war unterschiedlich, konnte aber fast allen bekannten Drogen ähneln. Meistens jedoch fühlte man sich einfach nur betrunken, gepaart einer leichten Orientierungslosigkeit. Und so erfreute sich Cenol unter Forscherkollegen einer immer wachsenden Beliebtheit und der Privatkonsum ging schnell über den einen oder anderen Selbstversuch hinaus, vor allem da sich die Veränderungen, die der Stoff im Gehirn auslöste, als völlig reversibel herausstellten. Deswegen war es eigentlich auch so seltsam dass
er immer noch nicht klar im Kopf war.
Nie wieder würde er so viel trinken bevor er seine Arbeit nicht abgeschlossen hatte! Ach ja, aber das hatte er sich ja schon so oft geschworen...
Hewington lief noch einmal ziellos durch die Wohnung und sank dann deprimiert in seinen Schreibtischstuhl, welcher daraufhin langsam eine halbe Drehung machte und somit seinen Blick durch die offene Tür in sein Schlafzimmer lenkte. Warum sah sein Bett dort eigentlich so benutzt aus? Hatte er es nicht gestern erst gemacht? Er wusste wirklich nichts mehr...
Aber trotzdem: ein bisschen Arbeit am Computer würde er jetzt noch schaffen.
Zu Beginn des Projektes hatte er verschiedene Langzeitscans seines eigenen Gehirns und Nervenssystems gemacht. Die Scans lieferten ihm ein bis auf die atomare Ebene genaues Bild dieser Strukturen und nun konnte er mittels von ihm selbst entwickelter Verfahren sein Gehirn rekonstruieren und eine exakte Kopie anfertigen. Am Ende sollte dann diese Kopie bis auf die Molekularstruktur mit dem Original übereinstimmen, also von diesem gar nicht mehr zu unterscheiden sein. Und Hewington war sich sicher: diese exakte Kopie seiner Selbst wäre ihm nicht nur physisch sondern auch psychisch vollkommen gleich, denn alle Erinnerungen und somit seine ganze Persönlichkeit hingen doch letztendlich von der Gehirnstruktur und vom Bau und der Anordnung der Nervenzellen ab. Schließlich stünde er also einem zweiten Ich gegenüber, mit dem er alle Erinnerungen teilte – natürlich nur bis zum Zeitpunkt des Gehirnscans.
Es dauerte alles gar nicht mehr so lange bis zu dem Tag an dem Hewington seinem Zwilling, dessen Körper schon im Labor lag, mit einem Bewusstsein versehen und zum Leben erwecken wird. Ja, der große Tag! Er hätte sein Lebenswerk vollendet und ginge in die Geschichte ein. Naturwissenschaftler, Ethiker und Philosophen und überhaupt jeder würde dann über ihn reden, diskutieren und streiten, man würde ihn vergöttern und verachten, verehren und hassen und jahrelang über ihn schreiben. Und der Nobelpreis wäre auch in greifbare Nähe gerückt...
Jetzt schaute er sich die Datenbank an, dort hatte er die Ergebnisse seiner Gehirnscans gespeichert, ausgewertet und so ein umfangreiches Programm geschrieben, dass den Bauplan der Gehirnkopie festlegte. Aber irgendetwas stimmte hier nicht...
Auf einmal schreckte er auf. Oh nein, er hatte für das Programm die falschen Scans ausgesucht! Verdammter Mist! Einige hektische Mausklicks später –und nachdem sich die Kopfschmerzen wieder bemerkbar gemacht hatten- war sich Hewington sicher: Diese Scans hier hatte er einmal gemacht als er, genau wie jetzt, einen Cenol-Kater hatte...
Nicht auszudenken was passiert wäre wenn er das als Vorlage für seine Gehirnrekonstruktion genommen hätte, womöglich hätte sein Klon dann zeitlebens einen Kater! Gott sei Dank hatte er den Fehler rechtzeitig bemerkt! Schnell korrigierte er alles und lehnte sich dann erleichtert zurück. Doch als sein Blick wieder auf die Kiste mit den leeren Cenolflaschen fiel versetzte er dieser fluchend einen Tritt. Zu oft hatte ihn das Zeug schon an seiner Arbeit gehindert. Zu schnell hatte er immer zur Flasche gegriffen wenn irgendetwas schief lief. Sobald er in seiner Arbeit einen Fehler gemacht hatte –selbst wenn es nur ein kleiner Fehler war- war er frustriert in die Kantine gelaufen und hatte sich volllaufen lassen.
Plötzlich hörte er etwas. Da war jemand an der Tür! Er hörte einen Schlüssel, der sich im Schloss drehte. Moment – ein Schlüssel? Wie kann das sein? Die Tür öffnete sich langsam und jemand schob sich hindurch. Hewington konnte die Gestalt nicht genau sehen, seine Augen machten mal wieder nicht mit, und so ging er näher zur Tür.
Als er die Gestalt, die da torkelnd und nach Cenolschnaps riechend in die Wohnung kam, erkannte spürte er im Augenblick des Entsetzens seine Kopfschmerzen so stark wie nie zuvor.
"Mann, war das ein Gelage" schnaubte der zweite Hewington undeutlich, ließ sich im Schlafzimmer auf sein Bett fallen und schlief sofort ein, ohne von seinem Zwilling Notiz zu nehmen.
[Beitrag editiert von: Kakus am 11.02.2002 um 01:43]