Black out
Glitzernde Tiere im Dunkeln, die zahl- und endlos in atemberaubender Geschwindigkeit durch den Wald jagen. Nein, nicht durch den Wald. Diese Bäume sehen so anders aus. Keine Zweige oder Stämme, nur senkrecht in die Höhe schießende Monolithen, aus denen ein Lichtermeer scheint.
„Der Seher!“, ruft ein Bewacher am Feuer und springt aufgeregt auf, um die anderen herbeizurufen: „Er ist wach!“.
Der Seher versuchte sich zu orientieren, zu schwach um lediglich die Augen bewegen zu können. Die Lichtung, die Bäume, all das kommt ihm vertraut vor. Heimat. Sein Atem beruhigte sich langsam.
Das Tier das auf einmal auf ihn zugeschossen kam war ihm nicht so fremdartig erschienen, wie die funkelnden, rasenden Tiere. Und doch weit aus furchterregender. Die Haut war nicht so glatt und kalt, aber das Wesen erschien ihm so etwas von andersartig und bedrohlich, dass er froh war als er gerade noch erwachte bevor ihn das abscheuliche Ungeheuer verschlingen konnte. Es war nur der Hund, der ihm über das Gesicht schlabberte. Es war nur ein Traum. Ein langer, tiefer Atemzug und der Seher schlief erleichtert wieder ein.
„Ruhig, ruhig. Du bist noch zu schwach. Bald wirst Du Dich wieder bewegen können.“ Ein älterer Mann strich ihm mit etwas Feuchtem in der Hand über die Stirn.
„Was ist passiert? Wo bin ich? Was mache ich hier? Warum kann ich mich nicht bewegen? Und vor allem zum Teufel – wer bin ich?“.
Der alte Mann blickte ihm verständnisvoll und gleichzeitig gütig ins Gesicht. „Wann bist du geboren? Kannst du dich erinnern, wann du geboren bist?“
„Ich weiß nicht einmal wer ich bin und was ich hier mache. Warum soll ich mich jetzt ausgerechnet an meinen Geburtstag erinnern können?“.
„Du wirst dich bald erinnern. Aber wir haben nicht viel Zeit. Sobald du dich an deinen Geburtstag erinnern kannst, wird dir alles wieder einfallen. Es ist immer so. Du bist unser Seher.“
„Seher? Ich hatte einen Traum. So unwirklich. Tiere die funkeln im Dunkeln – mit atemberaubender Geschwindigkeit zwischen gigantischen leuchtenden Bäumen hindurch rasend.“
„Keiner kann das so gut wie du. Deshalb bist du der Seher. Nur dieses Mal hast Du zu viel genommen. Du warst 12 Monde ohne Bewusstsein. Der gesamte Stamm leidet Hunger. Es wird Zeit, dass du dich erinnerst. Wann ist dein Geburtstag?“
„Ayahuasca. Ich habe Ayahuasca genommen, richtig?“
„Du hast zu viel auf einmal genommen. Deine Visionen führen uns zu den Quellen. Die Herden sind rar geworden seit langer Zeit. Du führst unsere Jäger. Du stehst mit ihnen in Verbindung und siehst die Bewegungen der Herden vorher. Ohne deine Weisheit könnten wir die Herden weder erlegen noch würde ein einziger Jäger lebend zurückkehren. Diese Männer werden alles tun, was du von ihnen verlangst. Wann ist dein Geburtstag?“
„Ich sah eines von ihnen. Mit schrecklichen Klauen. Kiefer so schrecklich, dass ich froh bin, dass es nur der … welches Jahr haben wir?
„Wir umkreisen im dritten Zyklus die Zentralsonne. Seit dem Jahre der Erneuerung. Dein Geburtstag liegt noch in der klassischen Zeitrechnung. Kannst du dich erinnern?“
„Die Tiere - sie sind Maschinen, mit denen wir uns fortbewegt haben. Wir lebten in hohlen Bäumen, kahl und kalt und doch so härter wie mancher Fels.“
„Ja, ja, das ist gut, das ist gut.“ Ein leises Wispern und Raunen aus dem Hintergrund. Erst jetzt bemerkte der Seher, dass auch weitere Stammesmitglieder etwas entfernt um die beiden herumsaßen. Der Alte streckte ihm eine Hand entgegen:
„Wie viele Finger siehst Du?“
„Fünf. Zählen kann ich dann schon mal wieder.“
Der Seher lachte das erste Mal seit seinem Erwachen. Zu seinem Bedauern musste er allerdings feststellen, dass seine Freunde das gar nicht so lustig fanden. Die Jäger starrten ihn regungslos an.
Auch der alte Mann fixierte ihn nun weit aus eindringlicher als zuvor. Die anfängliche Wärme war einem ungeduldig strengen Gesichtsausdruck gewichen.
„Weißt Du wie viel Monde uns umkreisen? Wie viele Sonnen habt ihr?“, schrie er schon fast.
„Na, Sonne, Mond und Sterne, das weiß ja sogar ich noch.“
Erneut kam der Scherz wohl nicht an. Der alte Mann wies einen Teil der Gruppe an sofort die Jagd vorzubereiten. „Und nehmt die Kuh mit!“, befahl er um sich gleich darauf wieder seinem Patienten zuzuwenden.
„Kuh!? Das ist eine Kuh?“, lachte der Seher, als ihm erneut das Lachen im Halse stecken blieb. „Ich weiß es wieder! Am 9. April, am 9. April 1979. 09041979!“
Schlagartig erinnerte er sich an alles. Die Kuh war ein Hund – keine Kuh. Der Stamm, dem er vorstand war kein Stamm, sondern ein ganzes Volk.
„Wir befinden uns im Krieg!“ rief er ungläubig aus, als die übrig gebliebenen Stammesbrüder um ihn herum das erste Mal breit zu grinsen anfingen. Mehr sogar, sie stimmten in laut Halses Gelächter ein, dessen Töne immer fremdartiger anmuteten. „Ich erinner mich wieder. Oh mein Gott…“
Einige der Stammesbrüder wurden von Schüssen zerrissen. Doch die anderen lachten immer noch. Es war zu spät. Der Präsident erinnerte sich wieder, während am Horizont langsam die zweite Sonne auf ging.
„Wie lange schon?“ Die Sicherheitschefin rannte mit einem Tross uniformierter Männer durch die langen Gänge des geheimsten Ortes der Welt. – „Über drei Minuten.“ – „Und sie haben nichts getan? Das ist viel zu lange! Wie konnten sie nur an ihn herankommen.“ Sie zog ihre Waffe, riss sie die Tür auf und schoss ihr gesamtes Magazin leer auf den in der Luft schwebenden Präsidenten.
Zur selben Zeit am anderen Ende der Galaxie hatte eine Spezialeinheit die Lichtung ausfindig gemacht. Es war fast zu einfach. Die Telepathen kauerten um ein Feuer und versuchten sich nicht einmal verteidigen zu wollen. Den meisten Soldaten kam es sogar so vor, als lachten diese unheimlichen Wesen.
„Wir haben schon alles versucht, keine Kugel, nichts dringt bis zu ihm durch.“
Der Präsident schwebte immer noch mitten im Raum, als er erwachte: „Oh, mein Gott. Sie haben uns gefunden.“
Die Armada zerfetzte die komplette Verteidigungsflotte in derselben Minute, wie sie aus dem Hyperraum aufgetaucht war. Der Mastercode der Verteidigungssysteme flackerte kurz auf allen relevanten Computersystemen der Erde auf, bis sie innerhalb weniger Sekunden verstummte. Für immer.