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Blütenregen
Des Morgens frohbeschwingt zum Firmament,
Wer überm Leben schwebt und mühlos kennt
Der Blumen Sprache und der Dinge Schweigen!
Synästhetische Alarmsignale erfüllten seinen Verstand, während die idyllische Stasis-VR um ihn herum zerbröselte. Ein Großteil der externen Nanofasern, die seine Großhirnrinde penetrierten, zogen sich abrupt zurück. Die absinkende Bandbreite ließ tiefe, dumpfe Dunkelheit über ihm zusammenschwappen. Schocksignale wurden durch seine Glieder gejagt und verdrängten das aufkommende Gefühl von Körperlosigkeit durch angenehm realen Schmerz.
Trotzdem dauerte es einige Sekunden, bis Garber sich selbst schreien hörte.
Die Lichter Tausender eingehender Datenpakete erfüllten das Cockpit des Fusionstenders IS Tinkerbell. Semitransparente Displays und Hologramme vollführten epileptische Tänze vor dem Sternenhintergrund, aber niemand beachtete das Schauspiel. Momentan war von den drei Beschleunigungsliegen nur der Platz des Kapitäns besetzt und die Augen des Mannes waren fest geschlossen. Kein menschliches Gehirn war in der Lage, die hereinschwappende Datenflut aufzunehmen, seine Cortex-KI filterte den Strom und ließ nur Relevantes in seinen Verstand fließen.
++Bereitschaft zur Triebwerkszündung? ++, fragte Zyer lautlos.
++Positiv. ++, antwortete die CKI.
++Wie weit sind Garber und Igena? ++
++Die Alarmerweckung war erfolgreich. Sie sind auf dem Weg. ++
„Ich hasse Alarme!“, murrte die amorphe Masse neben ihm. Wie immer tat sich Igena schwer mit dem Klumpen Suitgel, der langsam über ihren blassen Körper kroch und eine schillernde Membran hinterließ. „Und ich hasse diesen klebrigen Schleim!“
Garber stieß sich mit den Füßen ab und schwebte in einer leichten Rotation den Verbindungstunnel zum Steuertunnel hinauf. „Und ich hasse Leute, die sich mit ihrem Job nicht abfinden können.“, rief er hinter sich. Igena grunzte abfällig und schnellte ihm nach. Als sie ihn auf halbem Wege überholte, schloss sich das Suitgel an ihren Füßen.
Ein mentales Klicken erklang in seinem Schädel.
++Bootvorgang komplett. CKI 3901-omega-82 online. ++
++Guten Morgen, Omega. Sind nähere Informationen über den Alarm verfügbar? ++
++Negativ. Kapitän Zyer hat noch keine Daten freigegeben. ++
Mit einem fast unhörbaren Schmatzen haftete die Membran von Igenas Händen an der Tunnelwand, als sie sich vor dem Schott abfing. „Komm schon Garb, Zeit nachzusehen, wer uns da mit Scheiße bewirft!“
Die Luke glitt zur Seite und sie schwangen sich nacheinander in das Cockpit. Garber hatte kaum Zeit sich der flackernden Datenhölle zu widmen, doch schon ein kurzer Blick reichte zu erkennen, dass es Probleme gab.
„Setzen und Sichern!“, brüllte Zyer ohne die Augen zu öffnen. „Fusionsbeschleunigung in zwanzig Sekunden.“
Fluchend zog sich Garber in seine Liege und aktivierte die Expresssicherung. Die Ränder des Polsters verbanden sich nahtlos mit seinem Suitgel und stülpten sich über seine Körperseiten. Binnen Sekunden war er so fest eingefasst, dass er sich kaum noch rühren konnte. Es kribbelte in seinem Nacken, als Nanofasern des Schiffes begannen einen Breitbandlink zu seiner CKI aufzubauen.
„Und drei, zwei, eins. Zündung“
Die vier Hauptantriebsmodule der Tinkerbell – jedes fast doppelt so groß wie der Rest des Schiffes – stießen kilometerlange Plasmafahnen in das All. Die Beschleunigung erreichte fast sofort sechs ge und vermittelte Garber das Gefühl, dass jemand versuchte seinen Brustkorb auf die andere Seite seines Rückgrats zu drücken.
~TAKTISCHE PROJEKTION – STRATEGISCHE KI – AROTA-QUARANTÄNESYSTEM ~
> 23 Angriffe auf den Sperrperimeter verzeichnet
> Feindstärke wird auf ca. 3000 Blüten und 10000 Samen geschätzt (Ausbruch der Klasse 1)
> Bisherige Verluste der INTEGRITÄT: 31 Schiffe, 57 Jagdschwärme, 237 Menschen, 298 KI-Systeme, 47 % Feuerkraft
> Kritischer Status in Perimeterabschnitt 24287, 07124, 73027 und 19384
> Durchbruch der Quarantäne zu befürchten
Vier Stunden bei sechs ge. Die Liegen spickten ihre Körper mit zahllosen Kanülen, pressten Sauerstoff in ihr Blut, stützten das gequetschtes Gewebe und injizierten ihnen reparierende Nanitendosen. Sie hielten sie am Leben. Gegen die Qual taten sie nichts
++Skipper, ich halt das nicht mehr aus! ++, sagte Igena. Sie sprachen über Link miteinander, keiner von ihnen war in der Lage sich zu rühren, geschweige denn ein Wort hervorzubringen.
++Wir überleben es. ++, gab Zyer emotionslos zurück. ++Ohne bleibende Schäden. ++
++Soll das ein verdammter Scherz sein? Ich hab mich nie für so etwas gemeldet. In zwei Monaten ist meine Pflichtzeit vorbei und dann bin ich weg! Wieso klont sich die verdammte INTEGRITÄT nicht ihre Superpiloten? Wieso wird diese Drecksarbeit nicht von KIs gemacht? ++
Schön wär’s, dachte Garber. Er hatte noch siebzehn Monate Dienst vor sich. Wenn er den Flug überlebte. Wenn er den Ausbruch überlebte. In Realzeit hatte er schon seit Jahrzehnten keinen Fuß mehr auf einen Planeten gesetzt.
++Weil bewusste Klone verboten sind. ++, sagte er. ++Weil KIs einfacher kontaminiert werden können. Und jetzt hör auf Dinge zu fragen, über die du genau Bescheid weißt.++
Sie ließ nicht locker. ++Wieso hat uns die SKI eigentlich verlegt? Wir waren doch derartig weit ab vom Schuss? ++
++Weil die SKI verzweifelt ist. ++, ging Zyer dazwischen, bevor Garber darauf antworten konnte. ++Niemand hat damit gerechnet, dass sie in dieser Degenerationstufe noch zu solchen Angriffen fähig sind. Aber ich bin nicht erst seit gestern Kapitän. Die SKI erwartet eine zweite Welle und beten wir, dass wir rechtzeitig ankommen. ++
Als sich die Tinkerbell den Abschnitt 73027 näherte, redete keiner von ihnen. Jeder befand sich halb in seinem ganz persönlichen Alptraum und halb in der taktischen Semi-VR. Die Sensor-Cluster des Schiffes fingen ein Stakkato an EM-Pulsen und kleineren Lichtfunken auf. Die codierten Telemetriesignale wurden umso klarer aber auch umso weniger zahlreich, je näher sie kamen.
++Interpretieren, Omega! ++
++Die zweite Welle des Angriffs hat den Perimeter erreicht. ++
Die CKI ließ ein neues Schema aufleuchten. Silberne Pyramidensymbole markierten die verbliebenen Einheiten der INTEGRITÄT. Ein paar Sensorbojen, das leichte Feuerschiff IS Cresto und fünf Jagdschwärme, von deren Tendern es keine Spur gab. Dagegen wirkte die diffuse, rote Wolke von Angreifern fast übermächtig. Die CKI schätze Form und Umfang aus den verstümmelten Sensordaten, die sie von den INTEGRITÄTsschiffen erhielten. Die Formation erinnerte an eine in sich selbst geschachtelte Blume, die unaufhörlich aus dem System drängte. Wo sie auf das Silber traf, entluden sich schmale Explosionskaskaden und Kugeln expandierender Statik. Noch war kein Angreifer durch die Quarantäne gedrungen, aber schon nach kurzer Zeit fing einer der Jagdschwärme an zu blinken, seinen Piloten hatte es erwischt. Entweder tot oder kontaminiert.
++Unser Bremsschweif ist nicht zu übersehen, also erwartet nicht, dass ihr hier unangemeldet auftauchen könnt. ++, gab Zyer zu bedenken.
++Wir werden hier so oder so nicht mehr lebend herauskommen. ++ Igenas virtuelle Stimme klang jetzt vollkommen ruhig. Das war fast schlimmer als die vorangegangene Hysterie.
++So sieht es fast aus. ++, sagte Garber. ++Aber jeder Samen, der hier durchkommt, kann theoretisch ein weiteres System infizieren. ++
++Tja Garb. Für König und Vaterland. Pass auf dich auf. ++
++Pass du auf dich auf, Ena. ++
Die Fusionstriebwerke schwiegen. Die plötzliche Schwerelosigkeit wirkte unheimlich, es war eine Ruhe vor dem Sturm. Igena und Garber schwebten durch enge Verbindungstunnel zu ihren Jägern. Sie hatten kein einziges Wort mehr gewechselt, aber in ihrer letzten Umarmung lag große Herzlichkeit.
Garber schwamm fötal in geGel, von allen Seiten mit schwammigen Netzmaschen fixiert. Wie ein langer, bleicher Blutegel schmiegte sich ein Versorgungsstrang an sein Rückgrat. Nährstoffröhren, Gaskanülen, Fiberstränge und Nanofasern bildeten ein wahres Wurzelgeflecht in seiner Anatomie. Die CKI war schwer mit der Synchronisation beschäftigt.
++Omega, wie ist der Status? ++
++Synchronisation bei 95%.Alle Tanks voll. Schwarminterface online. ++
++Das muss reichen. Nabel uns ab. ++
++Schalte auf autarke Versorgung. ++
Es gab ein leises Klingen als sich die letzten Anschlüsse aus dem Jäger ausklinkten.
++Ich bin soweit. ++, meldete er Zyer.
Zwei voll bewaffnete Jagdschwärme rasten in die Schlacht. Jeder bestand neben dem bemannten Jäger aus einhundert Kampfdrohnen, gespickt mit Raketen, Maserstrahlern, Defensiv- und Offensivsplittern, einige trugen zusätzlich noch Fusionsgefechtsköpfe. Die SubSKI der Cresto dirigierte sie durch feindliches Feuer zu ihren vorgesehenen Einsatzzonen.
Die Tinkerbell zog sich hinter den Perimeter in Richtung des Kuiper-Äquivalent von Arota zurück. Der entleerte Tender war die letzte verzweifelte Linie, sollte einem Samen der Durchbruch gelingen.
Eine Salve O-Splitter traf auf den schützenden Kokon vorgeschobener Kampfdrohnen. Fingernagelgroße Metallfragmente durchschlugen ihre Panzerung mit halber Lichtgeschwindigkeit und sie vergingen in blendenden Blitzen. Einer Drohne gelang es noch vorher ihre Fusionsbombe zu zünden. Mit zusammengebissenen Zähnen beobachtete Garber den weißen Ball aus Höllenfeuer. Er vernichtete zwar eine ganze Rotte unvorsichtiger Blumen, aber gleichzeitig meldete der halbe Schwarm schwere Sensorausfälle durch Strahlungsschäden.
++Omega, neu formieren! Ich möchte nicht auf einem Auge blind sein. ++
++Schwarm wird neu formiert. ++
Mit einem mentalen Klicken öffnete sich ein codierter Fernlink: ++Garb, hier ist Igena. Du hast dreiundzwanzig hereinkommende Ziele! Kümmere dich verdammt noch mal darum! ++
Die neu positionierten Drohnen lieferten erste Senordaten. Aus dem Plasmanebel der Fusionsexplosion stießen neue Blumen auf ihn herab. Garber verschwendete keine Zeit auf eine Antwort. Das geGel schlug eine Beschleunigungsliege um Längen, sonst hätte er das Ausweichmanöver von dreißig ge nicht überlebt. Der Schwarm legte einen Schild von D-Splittern vor ihn und prompt detonierte eine Raketensalve nicht weit entfernt.
++Zielfixierung! ++
++Überbrücke Sensorlücken. Ziele fixiert. ++
Garber wies zwanzig seiner Drohnen an, sich darum zu kümmern und ein Regen von O-Splittern und Raketen schoss auf die Angreifer zu.
Eine Reiher entfernter Explosionen und das Telemetriesignal eines weiteren Jagdschwarms verstummte. In der taktischen Semi-VR blinkte ein Dutzend roter Punkte, welche soeben den Perimeter überquert hatten. Ein erfolgreicher Ausbruch.
Gleichzeitig sah er entsetzt, wie sich seine Einsatzzone erweiterte. Die SKI versuchte das Loch zu stopfen. Garber befahl seiner CKI den zusammengeschmolzenen Schwarm noch stärker zu streuen und eine Gruppe von Samen abzufangen, die ihre Chance gekommen sahen.
Etwa eine Minute später erhellte eine neue Sonne den Rand des Arota-Systems. Die Symbole der Ausbrecher und der Tinkerbell waren verschwunden.
++Zyer… Oh mein Gott! ++, hörte er Igena flüstern.
Garber verdünnte das geGel mit wütenden Tränen und zündete einen weiteren Fusionssprengkopf gegen die Angreifer.
Der Stoß war kaum zu spüren, aber eine Reihe kreischender Alarme durchzuckten seinen Verstand.
++Omega, Bericht! ++
++Penetration von Schubeinheit vier durch einen ultraschnellen Festkörper. ++
++O-Splitter? ++
++Analyse nicht möglich. ++
++Schaden? ++
++Punktueller Gasverlust. Dreizehnprozentiger Verlust der Manövrierfähigkeit. Selbstreparaturmechanismen online. ++
Mehr konnte er nicht tun. Es blieb ihm noch nicht einmal Zeit, sich Sorgen zu machen. Ihm waren weniger als fünfzig Drohnen geblieben und der Ansturm wollte einfach nicht enden.
Das Symbol der Cresto begann zu flackern, dann wechselte es die Farbe von Silber nach Rot. Eine Drohne des benachbarten Jagdschwarms übermittelte ein vergrößertes Kamerabild von bescheidener Qualität. Die ansonsten glatte Hülle des Feuerschiffs schien zu brodeln und sich zu verformen. Doch anstatt Blasen trieben Knospen aus dem Metall und begannen sich langsam zu komplizierten Blütenmustern zu entwickeln. Das Schiff war eindeutig kontaminiert.
Garber hörte mit an wie der Pilot des Schwarms die SubSKI um Anweisungen bat. Sie befahl die Zerstörung der Cresto und ignorierte die wütenden Hilfeschreie der Besatzung. Er versuchte so etwas wie Bedauern zu empfinden, aber er kannte niemanden von ihnen, so wie er außer Igena und Zyer keinen anderen Menschen im System kannte. Sie waren so anonym wie die Blüten, die sie aufhalten sollten.
Stumpfe Steine, welche die INTEGRITÄT gegen eine Lawine schmiss.
Stumpf, dachte Garber, so wie ich.
Ab dem Zeitpunkt, als sich das Feuerschiff in einem weißen Glutball auflöste, war die weitere Verteidigung des Perimeters nur noch ein symbolischer Akt.
~ TAKTISCHE PROJEKTION – STRATEGISCHE KI – AROTA-QUARANTÄNESYSTEM ~
> Sperrperimeter durchbrochen in Abschnitt 24287 und 73027
> Anzahl der enkommenen Feindkräfte wird auf ca. 90 Blumen und 150 Samen geschätzt
> Bisherige Verluste der INTEGRITÄT: 59 Schiffe, 113 Jagdschwärme, 401 Menschen, 458 KI-Systeme, 82 % Feuerkraft
> Ramscouts verfolgen durchgebrochene Feindkräfte (geschätzte Abfangrate: 65%)
Garbers Jäger schwebte antriebslos durch die feinen Schwaden ionisierten Staubes, welche die Schlacht hinterlassen hatte. Die kläglichen Überreste seines Schwarms umgaben ihn und ab und zu feuerte eine Drohne ihren Maser auf ein vorbeitrudelndes Trümmerstück ab. Zwei schwache Telemetriesignale begleiteten ihn.
Der Kampf war vorbei. Sie waren geschlagen, ausmanövriert und gedemütigt. Dass sie noch lebten war ein unwichtiges Detail. Tun konnten sie nichts mehr, nur noch hoffen, dass die INTEGRITÄT in diesem System noch über einen Tender verfügte, der sie abholen konnte.
++Empfange verstümmelten Fernlink von Igena. ++
Garber runzelte die Stirn. ++Ist eine Rekonstruktion möglich? ++
++Negativ. Signal wird bei der Ausstrahlung gestört. ++
Seltsam, dachte er. ++Ena, hier ist Garber. Empfängst du mich? ++
Die Antwort bestand aus Stille.
Dann ein aufbrüllender EMP, der seine verbliebenen Sensoren blendete. Das Bisschen Bandbreite, dass nach dem Tod der Cresto noch verblieben war, implodierte.
++Omega, hol mir die Telemetrie zurück! ++
++Telemetrieausfall ist nicht Folge des Strahlungsausbruchs. Beide Jagdschwärme mit sechsundachtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit zerstört. ++
Er fühlte, wie sich eine große Leere in ihm ausbreitete. Igena trieb jetzt atomisiert im Raum, es gab keinen Grund sich Illusionen zu machen. Sie hatten doch vorher schon gewusst, dass ein Überleben so gut wie ausgeschlossen war. Und jetzt, wie in einem Anfall nachträglicher Gründlichkeit, hatte sich das Schicksal daran erinnert.
++Kriegen wir eine Verbindung zur SKI? ++, fragte er lakonisch.
++Negativ. Es sind zu viele Relais zerstört wor… ++ Die CKI unterbrach sich. ++Diagnosefehler in den Selbstreparaturroutinen. Schubeinheit vier ist offline gegangen. ++
Garber versuchte seine Benommenheit abzuschütteln. ++Analyse? ++
++Analyse unvollständig. Unzureichende Daten. ++
Ein dunkler Verdacht rumorte in seinem Hinterkopf. Es würde erklären, wieso die Blüten sie am Leben gelassen hatten.
Ein Telemetriesignal erwachte flackernd wieder zum Leben. Für Sekundenbruchteile gab er sich einer irrationalen Hoffnung hin, dann registrierte er, dass es nicht Igena war. Irgendwie hatte der andere Jagdschwarm die Explosion überlebt und bewegte sich auf ihn zu.
Also doch zwei Überlebende, dachte Garber, aber es bedeutete ihm nichts.
Der andere Pilot machte sich nicht einmal die Mühe mit ihm zu sprechen, sondern ging gleich in den Angriff über, obwohl sich sein Schwarm in einem noch übleren Zustand befand. Maserfeuer schrammte über die Panzerung von Garbers Jägers und verdampfte mehrere Zentimeter davon, bevor er schwerfällig auswich. Neue Alarme gesellten sich zu seinen alten Problemen. Er befahl seine verbliebenen Kampfdrohnen in eine Defensivformation, gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass ihn der feindliche Schwarm mit einer Kamikazeattacke erwischte. D-Splitter zersiebten die feindlichen Drohnen.
++Scheiße! ++, brüllte Garber. ++Omega, gibt es Anzeichen für eine Kontamination an dem Kerl? ++
++Negativ. Keine Spuren von Transformation zu erkennen. Aber er hat seinen Hauptsensorcluster abgestoßen, möglicherweise war dieser infiziert. ++
Drei seiner Drohnen scherten aus der Formation aus und beschleunigten auf den angreifenden Jäger zu. Garber erstarrte. ++Warst du das? ++
++Negativ. Schwarminterface ist soeben offline gegangen. ++
Hilflos beobachtete er, wie der andere Jäger mit selbstmörderischen vierzig ge abdrehte. Sein Maser zerstörte eine der Drohnen, aber die anderen beiden bohrten sich in den Rumpf und pulverisierten den zweiten Überlebenden.
++Sämtliche Schubeinheiten sind offline gegangen. Analyse komplett: Schiff von einem Samen kontaminiert. ++
Das Innere System. Ein einziger blühender Garten. Eine Hölle aus barocker Schönheit.
Jeder Planet, jeder Asteroid, jedes noch so kleine Klümpchen Materie, alles stand in Blüte. Große und kleine Blumen überzogen die Oberflächen felsiger Monde, ihre Blätter bestanden aus Metall und Vulkangestein, durchsetzt mit funkelnden Mineralien. Kelchförmige Wirbel durchzogen die Atmosphäre des jupiterähnlichen Gasriesen, wurzelartige Ausläufer aus Diamantpolymer zogen sich zu seinen zwei Ringen aus milchigen Eisblumen. Unzählige Blüten und Samen sammelten sich in stabilen Orbits und Lagrange-Punkten, um von dort auf Reisen durch die Leere zu gehen.
Sie alle sonnten sich im Licht des trüben Zentralgestirns. Seitdem sie damit begonnen hatten, das System nach ihrem Bild umzugestalten, war Arota ein blindes Auge hinter einem Gasschleier geworden.
Natürlich hatten sie alle wenig mit den zerbrechlichen Pflanzen gemein, die der Mensch auf seinem Weg in die Leere zu so vielen Welten mitgebracht hatte. Die Wissenschaftler der INTEGRITÄT hatten wohlklingende Begriffe für diese Blüten gefunden. Sie nannten es ein stabiles selbstreplizierendes fraktales Nanosystem. Ein sich selbst erhaltendes mathematisches Muster, das sich im Kosmos ausbreitete.
Das war eine zutreffende Feststellung. Und trotzdem verstanden sie es nicht. DNS und Bewusstsein, Gesellschaft, Technik und Kultur, selbst der Mensch, waren nur gespeicherte Muster auf dem Medium der Realität. Der Mensch war bis jetzt recht erfolgreich darin, andere Muster nach seinem eigenen zu formen. Doch er hatte nie wirkliche Radikalität entwickelt. Es gab Muster, die neben sich kein anderes duldeten.
Ein einzelner Raumjäger trieb durch die Leere. Er hatte all seinen Treibstoff für einen einzigen intensiven Feuerstoß verwandt, der ihn auf eine lange Reise ins Innere des System schickte. Auch sein Äußeres hatte sich gewandelt. Knollenartige Auswüchse markierten die Stellen, an denen es mit den einstigen Drohnen seines Schwarms verschmolzen war. Halbgeöffnete Knospen überzogen den Rumpf. Auf den Befehl eines Menschen hörte das Schiff schon lange nicht mehr.
Garber schaukelte träge in seinem Haltenetz. Eine leuchtende Semi-VR nahm einen Großteil seines Kopfes ein. Sie zeigte eine schematische Darstellung des Jägers und alarmierend viel davon war rot gefärbt. Eben wieder durchdrang es einen weiteren physischen Firewall auf dem Weg nach Innen. Nicht mehr lange und der schützende Uterus, der ihn umsorgte, würde sich in einen Alptraum verwandeln. Und über die Röhren und Anschlüsse würde der Alptraum in ihn wandern.
++Wie lange noch? ++
++Bei gleichbleibender Infektionsrate wird das Lebenserhaltungssystem in fünf Stunden erreicht. Alle weiteren Vorgänge sind unbekannt. ++
++Es ist auch nur eine weitere Art zu sterben. ++
++Es sind keine Daten zu diesem Thema verfügbar. Alle weiteren Vorgänge sind unbekannt. ++
Alter Optimist, dachte Garber.
Merkwürdigerweise empfing er noch Sensordaten. Die CKI konnte nicht erklären, ob die Sensoren bisher nicht kontaminiert worden waren oder ob es den wachsenden Blumen gelang, die Bilder durch die Firewalls zu schleusen. Ihm war es egal. Die Alternative hätte darin bestanden, den Link zum Schiff zu trennen, aber wenn er schon über den Jordan schwimmen sollte, dann wollte er das zumindest mit offenen Augen tun.
Die CKI hatte berechnet, dass sein Kurs den dritten Planeten knapp verfehlen würde. Garber stürzte auf den blinden Stern zu.
~ ARCHIV – XENOLOGISCHES INSTITUT DER INTEGRITÄT (TERRA, SOLSYSTEM) ~
Rekonstruierte Memory-Daten aller auf New Texcoco (Arota III) eingesetzten Spähdrohnen:
Aufnahme der Nachtseite des Planeten aus dem Orbit gesehen. Die Lichter der Städte beginnen ein Muster zu bilden…
Fragment02
Aufnahme einer Autobahn. Die Karosserie eines Wagens verbiegt sich zu einer bauchigen Knospe. Auf halber Höhe ragt der Torso einer nackten Frau hinaus. Ihre Haut kräuselt sich, das rote Fleisch von Bauch und Arm windet sich zwischen die geschlossenen Blätter. Ihre Augen sind weit geöffnet und sie neigt den Kopf…
Fragment03
Luftaufnahme. Ein taumelnder Gleiter stürzt in das bizarre grün-silberne Konglomerat, das einmal ein Wolkenkratzer inmitten eines Parks gewesen war…
Fragment04
Aufnahme des Strategischen Bombardements. Am Horizont steigen Feuerbälle auf und lassen die transformierten Gebäude noch groteskere Schatten werfen…
* * *
Feine Linien begannen sich im sonst durchsichtigen geGel zu bilden. Sie entsprangen demselben Punkt an der Wand und wanden sich wie der Pinselstrich eines antiken Künstlers durch den Raum. Garber berührte vorsichtig den Versorgungsstrang an seinem Rücken und spürte, wie sich zuerst feine Reliefstrukturen auszuprägen begannen. Die Ranken des Gels gesellten sich zu den Haltenetzen und begannen ihn am ganzen Körper sanft zu kitzeln. Eine seltsame Wärme breitete sich entlang seines Rückgrats aus.
Pastellfarbene Bilder drängten in seine Wahrnehmung. Er sah bunte Wiesen und die Rosenbeete, vor denen er als Kind gespielt hatte. Dazu erklangen helle Glockentöne in einer scheinbar zufälligen Melodie.
Es ist wunderschön, sagte eine Stimme aber er konnte nicht erkennen, ob es seine eigene oder die seiner CKI war.
Als er doch noch einmal an sich herunterblickte, meinte er vage erkennen zu können, wie ein Kelch aus seiner Brust erblühte und feiner roter Blütenstaub aus der Öffnung stob.
Aber es tat nicht weh.
Von dem Planeten, der einst New Texcoco genannt worden war, erhoben sich pausenlos neue Blüten und Samen. Sie stiegen in einen äquatorialen Orbit und fädelten sich dann in die weite Spirale ein, die sich in der Arota-Sonne verlor. Allein mit ihrer Zahl hätten sie die Quarantäne in einer einzigen Welle durchbrechen können, aber das war nicht Zweck der Übung gewesen.
Aus dem ganzen System strömten Blumen zum blinden Stern, um sich in diesen eleganten Tanz einzureihen. Auch die neue Blüte sollte daran teilnehmen.
Schließlich durchstieß er den Dunstschleier abgestoßener Gase und erblickte den Stern in seiner ganzen Pracht. Ein gleißender Ball aus nuklearem Feuer, der sein ursprüngliches Gleichgewicht aus Chaos und Ordnung schon seit Jahrmilliarden bewahrte. Doch seine Korona wurde von etwas anderem kontrolliert. Kaum wahrnehmbare Linien, wie ein barockes Eisengitter, bildeten einen gigantischen Trichter, der die stellaren Energieströme zähmte und lenkte.
Auch eine Blüte konnte der Hitze einer Sonne in dieser Entfernung lange standhalten, aber das war auch gar nicht nötig. Am Ende des Trichters bündelten sich die kanalisierten Energien zu einem Strudel mit fraktal zerfasernden Rändern.
Hier zerriss das Muster der Realität. Hier stand ein Tor offen. Die Blüten stürzten sich hinein und er folgte ihnen.