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Blüemlisalp
Die Turmuhr schlug zehnmal, als er wie aus einem tiefen Schlaf erwachte. Wo war er die ganze Zeit? Er blickte auf das Papier, das er in den vergangenen Stunden mit Buntstiften bearbeitet hatte: Es zeigte zwei junge Frauen, die eine blond, die andere mit dunklen Haaren. Sie standen auf dem Scheitel eines Gebirgspfades, über ihnen nur der Himmel und in einiger Entfernung die schneebedeckten Gipfel hoher Berge. Die Blonde winkte dem Betrachter zu. Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck tiefer, inniger Sehnsucht.
Er wusste alles sofort. Er wollte den Blick der jungen Frau aus seinen Augen schaffen und drehte das Bild auf die Rückseite. Doch auch aus dem leeren Papier verfolgte ihn das Nachbild der winkenden Frau. Er zog er die Schublade auf, sie verkantete sich. Fluchend warf er den Bogen in die schmale Spalte und verschloss die Lade mit einem lauten Poltern. Alles Weitere nahm er nur noch gedämpft wahr: Das Klirren des in die Ecke geworfenen Schubladenschlüssels, das Klicken des Lichtschalters, die ins Schloss fallende Tür.
In der Dunkelheit der Kammer, wo er sich aufs Bett geworfen hatte, konnte er keine Ruhe finden. Eine Flut von Bildern strömte durch sein Gehirn. Er spürte den Druck unermesslicher Wassermassen, dem er sich entgegenstemmte. Doch kein Damm dieser Welt konnte ihm standhalten. Alles, was nun kam, zog wie ein Film an ihm vorüber: Der majestätische Anblick von Eiger und Jungfrau, als die beiden Wanderer morgens die Jugendherberge verließen. Der schmale, kühn in den Berg gehauene Klettersteig, den sie am Nachmittag erstiegen. Die Alphütte, die, eingerahmt von gletscherbedeckten Bergen, in fast unwirklicher Schönheit vor ihnen lag. In der schummrigen Hüttenschänke stießen sie abends auf die beiden Schweizerinnen. Er sah das Lächeln der Blonden, als sie ihn nach seinem Namen fragte, ihren Blick, der weit hinabreichte, fast bis zu seinem Seelengrund. Er fühlte ihre Füße, die sich vorsichtig, dann mutiger an seine heranpirschten. „Gute Nacht“, sagte sie zu ihm, so sanft, dass es ihm noch lange in den Ohren klang. Wie ein Ende hatte es sich nicht angehört. Er sah den Frühstücksraum, in dem sie sich am nächsten Morgen begegneten, nur sie beide, als hätte es einer so arrangiert. Er hörte die Fragen, die sie ihm mit entwaffnender Selbstverständlichkeit stellte: Wie das nun mit ihnen weitergehe? Ob er mit seinem Freund oder mit ihr weiterwandern werde? Ein paar Worte nur, im schweren Schweizerdeutsch vorgebracht - wer wusste, ob im Ernst oder nur im Spiel? Er jedoch spürte in ihnen gleich eine schicksalhafte Schwere, der er nicht gewachsen war. Er fühlte wieder seine steif gewordene Zunge, die sich nicht vom Rachen lösen wollte. Schließlich seine feige Antwort: von ihren Wanderzielen, die völlig entgegengesetzt seien; vom Freund, den er nicht enttäuschen könne, da ihre Wanderung erst begonnen habe. Schon war die Antwort aus ihm heraus, unwiederbringlich wie ein Geschoss, das den Gewehrlauf verlassen hatte. Er wusste, dass nun alles verloren war, zwischen ihnen, für ihn selbst. Die plötzliche Erkenntnis, dass er ein Gefangener seiner schwächlichen Seele war, jetzt, in Zukunft, für alle Zeit. Nie mehr würde er ein glückliches Leben führen können. Ein tiefer, unüberwindbarer Graben lag zwischen ihm und dieser Welt. Ihr stummes, gütiges Nicken, mit dem sie seine Antwort wie einen Richterspruch entgegennahm. Ihr trauriger Blick, so unerträglich, dass er ihm nur noch ausweichen konnte.
Dann der Abschied, den er wie ein zum Tode Verurteilter hinnahm. Ein letztes Aufbäumen gegen seinen Kleinmut: Sie waren ein kurzes Stück des langen Wegs ins Tal hinabgegangen, da drehte er sich noch einmal zu ihr um. Dort stand sie neben ihrer Freundin auf dem Bergkamm und winkte ihm, wie beim Abschied vom Bahngleis, wenn der Zug langsam aus dem Bahnhof rollt. Er ruderte mit seinem Arm ein paarmal hin und her, er fühlte sich schwer und schlaff an, wie an einem fremden Faden gezogen. Die Freunde gingen weiter das Tal hinunter, dann drehte er sich doch noch einmal um. Dort oben stand sie noch immer und winkte ihm zu.
„Du hättest mit ihr gehen sollen“, sagte Tom. Seine Worte wirkten sachlich und wie selbstverständlich. „Ich wollte dich aber nicht alleinlassen“, antwortete er kleinlaut. Abrupt hielt Tom inne, drehte sich zu ihm um und blickte ihn scharf an: „Da täusch dich mal nicht. Mit mir hat das zuallerletzt zu tun!“ Er fühlte, wie es ihm einen Stich ins Herz versetzte und seine Knie für einen Augenblick weich wurden. Schweigend gingen sie weiter und erreichten gegen Mittag Kandersteg. Zum ersten Mal seit langem sagte Tom wieder etwas: „Es ist wohl besser, wir brechen hier unsere Tour ab.“
Er konnte die Scham kaum ertragen und nickte nur stumm. Tom stieg in den Zug, er selbst ging den Wanderweg alleine weiter, ohne Karte, ohne Ziel. Er sah schneebedeckte Gipfel über grünen Tälern, aber kein Gefühl drang zu ihm. Am Abend fand er schließlich eine abgelegene Hütte mit einem Einzelzimmer. Seine Beine und sein Kopf waren schwer, er ging früh schlafen. Da entdeckte er in seinem Waschbeutel etwas, das nicht dorthin gehörte. Er hatte noch die Zahnbürste im Mund, als er den zusammengefalteten gelben Zettel aufmachte. Er las in weicher Frauenhandschrift ihren Namen und eine Telefonnummer. Die Frage, wie sie das Papier am Morgen in den Waschbeutel geschmuggelt hatte, kam ihm erst später. Zu sehr war er von dem Willen dieser Frau beeindruckt, von ihrem festen Willen, mit ihm zusammen zu sein. Ausgerechnet mit ihm! Er konnte nicht einschlafen, bis zum frühen Morgen lag er mit jagenden Gedanken in dem schmalen Bett. Weiter irrte er ziellos durch das Gebirge. Mitten am Tag, auf einer Bank oder einer Quelle, wo er kurz Rast machte, fielen ihm die Augen zu. Dann sah er die wieder vor sich, die Silhouette der winkenden Schweizerin.
Nach einer Woche konnte er seine Gefühlsverwirrung nicht mehr ertragen und stieg hinunter ins Tal. In einer Herberge kramte er den gelben Zettel aus seinem Waschbeutel und rief sie an. Sie meldete sich gleich mit ihrem Namen. Sein Herz pochte, seine Finger verkrampften sich. Er fühlte wieder, wie seine Zunge schwer wie ein Eisenklöppel am Gaumen hing. Er legte auf und versuchte es später noch einmal, nachdem er in der Schänke ein Bier in sich hineingestürzt hatte. Diesmal bewegte sich der Klöppel. Er sagte: „Ich bin’s.“ Sie wusste gleich, wer am Telefon war, alles wusste sie. Sie verabredeten sich am Zürcher Bahnhof, wo er auf der Rückreise umsteigen musste.
Er traf schon eine Dreiviertelstunde vorher ein. Die Räder des bremsenden Zugs quietschten. Er schob sich durch das Gedränge an den Waggontüren und den Menschenmengen am Bahngleis. Von der Decke der Bahnhofshalle empfing ihn eine riesige Engelsfigur mit goldenen Flügeln. Er studierte ihren massigen, erdrückenden Frauenkörper ohne Gesicht in leuchtendem Blau, darüber ein knallbuntes Kleid, über der rechten Brust das rote Schweizerkreuz und über der linken ein rosa Herz in einem weißen Herzen. Im Nordtrakt fand er gegenüber dem Reisezentrum den vereinbarten Treffpunkt. In der Masse eleganter Frauen und geschäftsmäßig gekleideter Männer kam er sich verloren, ja lächerlich vor. Er betrachtete sich in einem Spiegel vor einem Kleidergeschäft: In den kurzen Hosen, dem verschwitzten T-Shirt und dem Armeerucksack auf dem Rücken wirkte er in dieser Umgebung fast noch fremdartiger als die Nana-Figur. Schlimmer noch, mit seinen ungewaschenen, fransigen Haaren und den Ringen unter den Augen sah er aus wie einer, der unter der Brücke schlief. Oder vielmehr nicht geschlafen hatte. Aber noch mehr als die äußerliche stand ihm die innere Not ins Gesicht geschrieben. So konnte er vielleicht noch vor Wanderern auf verlassenen Gebirgspfaden auftreten, aber vor niemandem in der Zivilisation. Und schon gar nicht vor ihr. Er musste eine Toilette finden, sich umziehen und waschen.
Die würfelförmige Uhr in der Bahnhofshalle sagte ihm, dass er gerade noch zwanzig Minuten hatte. Die Frau am Servicepoint half ihm unwillig weiter. Er arbeitete sich durch die Mengen entgegenströmender Passanten und fand die Bahnhofstoilette in der hintersten Ecke, vor ihr eine lange Schlange. Er stürzte hinaus ins helle Licht des Bahnhofsvorplatzes. Seine Augen suchten die Häuserzeilen der Bahnhofstraße nach einem Café oder einem Kleiderladen ab. Aber sie fanden nur exklusive Schmuck- und Uhrengeschäfte, Boutiquen von Modedesignern, Luxushotels. Die Zeiger der Uhr in der Bahnhofsfassade unter der Schweizer Flagge rückten auf elf Uhr. Schon jetzt, wurde ihm bewusst, würde er spät zu kommen. Und immer noch trug er diese schmuddeligen Kleider.
Dann die plötzliche Erkenntnis: er hatte es vergeigt, verhunzt, wie immer. Als er in die weißen Wolken über dem Bahnhofsdach blickte, sah er dort wieder ihr Bild. Sie winkte ihm aus großer Entfernung zu. So würde er sie in Erinnerung bewahren, nur so. Zu mehr reichte es nicht bei ihm.