Blätter
Sie ging. Endlich. Ich wollte nicht, dass sie kam, denn jedes mal am Ende der Besucherzeit ging die Freiheit mit ihr. Jetzt war ich allein. Erleichtert schloss ich für einen kurzen Moment meine Augen. Entfloh der Realität. Als ich sie öffnete, traf sie mich hart wie ein Faustschlag. Ich konnte meiner kleinen grauen Zelle nicht entkommen, nicht jetzt und nicht in 20 Jahren. Ich vermisste mein Haus so sehr. Doch sie hatten es mir genommen. Ich hatte nichts mehr. Sie hatten mir nämlich alles genommen. Und zur Krönung hatten sie mich am Schluss auch noch meiner Freiheit beraubt. Doch das gehörte der Vergangenheit an.
Die Zeit aber war mir sowieso völlig gleichgültig geworden. Weder die Gegenwart noch meine Zukunft waren es meiner Meinung nach wert, beachtet zu werden. Ich wusste nicht wie viel Uhr, welcher Wochentag, welcher Monat oder welche Jahreszeit es war. Das alles war mir inzwischen egal. Es spielte schlichtweg keine Rolle mehr. Spielte überhaupt noch irgendetwas eine Rolle? Ich konnte es nicht genau sagen. Aber eher nicht, dachte ich.
Tausendmal schon hatte ich ihr gesagt, dass sie das nicht tun musste, mich zu besuchen. Sie tat es trotzdem. Aus Loyalität, Freundschaft und Mitleid. Ich konnte sie ja irgendwie verstehen.
Plötzlich sah ich es. Sie hatte mir etwas mitgebracht. Unabsichtlich. Purer Zufall!
Etwas, das mir früher nichts bedeutet hätte, das niemandem etwas bedeuteten würde. Was andere als Dreck bezeichnen würden, hatte sie mir dagelassen.
Es war wundervoll. Unschuldig, unscheinbar, nichts besonderes, leicht zu übersehen. Doch ich hatte es entdeckt. Gerede eben.
Zufall. Oder Schicksal. Eins von beidem.
Ein Zeichen der Jahreszeit.
Ich hob es auf und drehte es in meinen Händen. Es sah fröhlich, lustig und… schön aus. Jetzt hatte ich wieder etwas. Zwar unbedeutend, aber besser als nichts. Sie hatte es mir unwissend geschenkt. Das beste Geschenk seit langem … oder überhaupt das schönste?
Es erfüllte die Zelle mit Leben. Bald würden es sterben - aber noch lebte es!
Auf einmal fühlte ich etwas, das ich schon vor langer Zeit verloren geglaubt hatte. Ein Gefühl, das mich euphorisierte, hoch hob und wegtrug. Weg von meinem Elend, meinem Alltag, von der Realität.
Hoffnung keimte in mir auf.
Hoffnung darauf, hier eines Tages rauszukommen. Hoffnung auf Freiheit. Hoffnung auf Gerechtigkeit.
Und das alles dank ihr! Das rote Blatt leuchtete in meiner Hand. Seine Unterseite fühlte sich leicht rau an, jede einzelne Ader spürte ich. Beinahe sogar das Leben, das durch diese hindurch floss. Wahrscheinlich waren es an der Unterseite ihrer Schuhsohle kleben geblieben. Hier in meinem grauen Reich hatte es sich gelöst.
Purer Zufall. Oder Schicksal. Eins von beidem. Vielleicht auch beides zusammen.
In diesem Augenblick war ich ihr dankbarer als jemals zuvor für ihr Kommen. Das nächste Mal würde ich sie bitten, mir etwas zu schenken. Eine Pflanze und wenn es auch nur Löwenzahn war. Diese Grau saugte das Leben aus mir heraus, schneller als ich schauen konnte. Ich wollte es zurück haben! Mein Leben. Jetzt, gleich, … bald. Ich hatte mich diesem falschen Urteil gebeugt, hatte es nicht verhindern können. Das akzeptierte ich nicht länger. Das konnte ich nicht länger akzeptieren! Von diesen Eintagsfliegen durfte ich mich doch nicht grundlos wegsperren lassen! Nur Lügen. Alles Lügen, falsche Zeugenaussagen und Vermutungen! Wo war Iustitia in dem Moment, in dem ich sie brauchte?
Doch dieses Blatt sagte sehr wohl etwas aus. Es zeigte mir, dass man etwas so Wundervolles wie das Leben nicht aufgeben durfte. Niemals. Denn das Leben ist leuchtend rot wie das Blatt in meiner Hand, aber doch noch so viel mehr. So unendlich viel mehr! Es ist Spaß und Arbeit, Stress und Erholung, Liebe und Hass, Freundschaft, Vertrauen, Glück, Genuss!
Ja, man musste es genießen, nicht verfluchen. Das Leben des Blattes war so gut wie vorbei, seine Zeit war abgelaufen. Aber meine nicht! Ich hatte noch Zeit. Genug, um Finja wiederzusehen. Genug, um all meine Freunde tausend mal zu sehen. Vielleicht so gar genug, um hier irgendwie raus zukommen. Und eventuell genug, um mich an den Eintagsfliegen zu rächen….
Das alles verstand ich jetzt endlich - es war Herbst.