Was ist neu

Blätter

Mitglied
Beitritt
09.01.2016
Beiträge
4

Blätter

Sie ging. Endlich. Ich wollte nicht, dass sie kam, denn jedes mal am Ende der Besucherzeit ging die Freiheit mit ihr. Jetzt war ich allein. Erleichtert schloss ich für einen kurzen Moment meine Augen. Entfloh der Realität. Als ich sie öffnete, traf sie mich hart wie ein Faustschlag. Ich konnte meiner kleinen grauen Zelle nicht entkommen, nicht jetzt und nicht in 20 Jahren. Ich vermisste mein Haus so sehr. Doch sie hatten es mir genommen. Ich hatte nichts mehr. Sie hatten mir nämlich alles genommen. Und zur Krönung hatten sie mich am Schluss auch noch meiner Freiheit beraubt. Doch das gehörte der Vergangenheit an.
Die Zeit aber war mir sowieso völlig gleichgültig geworden. Weder die Gegenwart noch meine Zukunft waren es meiner Meinung nach wert, beachtet zu werden. Ich wusste nicht wie viel Uhr, welcher Wochentag, welcher Monat oder welche Jahreszeit es war. Das alles war mir inzwischen egal. Es spielte schlichtweg keine Rolle mehr. Spielte überhaupt noch irgendetwas eine Rolle? Ich konnte es nicht genau sagen. Aber eher nicht, dachte ich.

Tausendmal schon hatte ich ihr gesagt, dass sie das nicht tun musste, mich zu besuchen. Sie tat es trotzdem. Aus Loyalität, Freundschaft und Mitleid. Ich konnte sie ja irgendwie verstehen.

Plötzlich sah ich es. Sie hatte mir etwas mitgebracht. Unabsichtlich. Purer Zufall!
Etwas, das mir früher nichts bedeutet hätte, das niemandem etwas bedeuteten würde. Was andere als Dreck bezeichnen würden, hatte sie mir dagelassen.
Es war wundervoll. Unschuldig, unscheinbar, nichts besonderes, leicht zu übersehen. Doch ich hatte es entdeckt. Gerede eben.
Zufall. Oder Schicksal. Eins von beidem.
Ein Zeichen der Jahreszeit.
Ich hob es auf und drehte es in meinen Händen. Es sah fröhlich, lustig und… schön aus. Jetzt hatte ich wieder etwas. Zwar unbedeutend, aber besser als nichts. Sie hatte es mir unwissend geschenkt. Das beste Geschenk seit langem … oder überhaupt das schönste?
Es erfüllte die Zelle mit Leben. Bald würden es sterben - aber noch lebte es!
Auf einmal fühlte ich etwas, das ich schon vor langer Zeit verloren geglaubt hatte. Ein Gefühl, das mich euphorisierte, hoch hob und wegtrug. Weg von meinem Elend, meinem Alltag, von der Realität.
Hoffnung keimte in mir auf.
Hoffnung darauf, hier eines Tages rauszukommen. Hoffnung auf Freiheit. Hoffnung auf Gerechtigkeit.
Und das alles dank ihr! Das rote Blatt leuchtete in meiner Hand. Seine Unterseite fühlte sich leicht rau an, jede einzelne Ader spürte ich. Beinahe sogar das Leben, das durch diese hindurch floss. Wahrscheinlich waren es an der Unterseite ihrer Schuhsohle kleben geblieben. Hier in meinem grauen Reich hatte es sich gelöst.
Purer Zufall. Oder Schicksal. Eins von beidem. Vielleicht auch beides zusammen.
In diesem Augenblick war ich ihr dankbarer als jemals zuvor für ihr Kommen. Das nächste Mal würde ich sie bitten, mir etwas zu schenken. Eine Pflanze und wenn es auch nur Löwenzahn war. Diese Grau saugte das Leben aus mir heraus, schneller als ich schauen konnte. Ich wollte es zurück haben! Mein Leben. Jetzt, gleich, … bald. Ich hatte mich diesem falschen Urteil gebeugt, hatte es nicht verhindern können. Das akzeptierte ich nicht länger. Das konnte ich nicht länger akzeptieren! Von diesen Eintagsfliegen durfte ich mich doch nicht grundlos wegsperren lassen! Nur Lügen. Alles Lügen, falsche Zeugenaussagen und Vermutungen! Wo war Iustitia in dem Moment, in dem ich sie brauchte?
Doch dieses Blatt sagte sehr wohl etwas aus. Es zeigte mir, dass man etwas so Wundervolles wie das Leben nicht aufgeben durfte. Niemals. Denn das Leben ist leuchtend rot wie das Blatt in meiner Hand, aber doch noch so viel mehr. So unendlich viel mehr! Es ist Spaß und Arbeit, Stress und Erholung, Liebe und Hass, Freundschaft, Vertrauen, Glück, Genuss!
Ja, man musste es genießen, nicht verfluchen. Das Leben des Blattes war so gut wie vorbei, seine Zeit war abgelaufen. Aber meine nicht! Ich hatte noch Zeit. Genug, um Finja wiederzusehen. Genug, um all meine Freunde tausend mal zu sehen. Vielleicht so gar genug, um hier irgendwie raus zukommen. Und eventuell genug, um mich an den Eintagsfliegen zu rächen….
Das alles verstand ich jetzt endlich - es war Herbst.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hej Leonie18,

Sie ging. Endlich. Ich wollte nicht, dass sie kam, denn jedes mal am Ende der Besucherzeit ging die Freiheit mit ihr.
Es wäre weniger um die Ecke gedacht, wenn sie sagen würde:
"Ich wollte nicht, dass sie ging, denn jedes Mal ... "

Entfloh der Realität.
Wie?
Wohin?
Weil das doch unheimlich viel über einen Menschen aussagt, würde das Deine Figur an der Stelle so viel plastischer machen.

Sie hatten mir nämlich alles genommen.
Was könnte das Wichtiges sein, wenn es nicht namentlich erwähnt und das Haus an erster Stelle genannt wird.

Aber eher nicht, dachte ich.
Aber der Einstieg sagt das Gegenteil. Der sagt, dass Deiner Figur ihr Freiheitsentzug schmerzlich bewusst ist.

ausendmal schon hatte ich ihr gesagt, dass sie das nicht tun musste, mich zu besuchen.
Einfacher wäre: Tausendmal schon hatte ich ihr gesagt, dass sie mich nicht besuchen müsse.

Was andere als Dreck bezeichnen würden, hatte sie mir dagelassen.
Aus der Überschrift und den Drehen in den Händen schließe ich: Ein Blatt?
Wer bezeichnet das als Dreck?
Und warum im Titel die Mehrzahl? Oder dreht sie mehrere Blätter als "es" in ihren Händen?

leicht zu übersehen.
Deine Figur scheint sich über ihre Situation nicht im Klaren zu sein. Niemand "übersieht" ein Blatt, es ist ja nicht unsichtbar. Allerdings kann ein einzelnes Blatt schon untergehen, wenn es mit hunderten anderer auf dem Bürgersteig liegt und da würde es ja auch wenig Sinn haben, jedes einzelne würdigen zu wollen.

Zufall. Oder Schicksal. Eins von beidem.
Dazu fehlt mir die Information, was genau Deine Figur entdeckt zu haben meint.

Beinahe sogar das Leben, das durch diese hindurch floss.
Ohen Baum oder Strauch nicht mehr so ganz, fürchte ich.

Wahrscheinlich waren es an der Unterseite ihrer Schuhsohle kleben geblieben.
Hattest Du zu Beginn mal mehrere Blätter? Das würde die Überschrift erklären.

Es ist Spaß und Arbeit, Stress und Erholung, Liebe und Hass, Freundschaft, Vertrauen, Glück, Genuss!
... Recht und Unrecht ... ;)

Genug, um Finja wiederzusehen.
Wer mag Finja sein?

es war Herbst.
Davon wird der Großteil Deiner Leser ausgehen, wenn ein Blatt unter einem Schuh klebt.

Die Idee, aus einem Herbstblatt Hoffnung zu schöpfen finde ich schön, aber als Symbol für einen Neubeginn eignet es sich in meinen Augen nur bedingt.
Als Symbol würde ich es eher mit einem baldigem Verfall u.ä. verbinden.
Auch ein paar Hintergründe zu erklären würde Deiner Geschichte gut tun.

Viel Spaß noch hier.

Gruß
Ane

 

Hallo Ane,
vielen Dank für deine Kritik. Ich werde mich bemühen, die Punkte, die du angesprochen hast, in meiner Geschichte zu ändern :)
... und Finja ist die Besucherin vom Anfang der Geschichte.
Vielleicht muss ich das verdeutlichen ;)
VG Leonie

 

Hej Leonie18,

es ist interessant, sich gleich nach den ersten Sätzen in einem Gefängnis zu befinden.

Ich wollte nicht, dass sie kam, denn jedes mal am Ende der Besucherzeit ging die Freiheit mit ihr. Jetzt war ich allein.

Hier suggerierst du mir, dass du es nicht nur nicht magst, wenn sie geht, du magst es auch nicht, dass sie da ist. Das ist okay; ich hätte es sehr gerne erfahren, wieso nicht.

Insgesamt deutest du allerlei an und lieferst mir keine Erklärungen? Dabei wäre das doch cool zu wissen, wieso sie im Gefängnis ist. Zumal sie ja auch anscheinend zu Unrecht im Gefängnis ist.

Stattdessen philosophiert sie über Freiheit, Leben, dies das. Kann man machen, aber aufgrund deiner Andeutungen, habe ich etwas anderes erwartet und als Rahmen zu deinen Gedanken, wäre es doch nett.

Dass du den Herbst zur Erneuerung wählst, finde ich ungewöhnlich, aber nicht 'schlimm', weil in der Natur ja ganz gewiss ist, dass der Baum des roten Blattes (sofern alles gutgeht;)) auf jeden Fall im Frühjahr wieder grüne Blätter tragen und einen 'Neuanfang' ankündigen wird. So bleibt ihr die Hoffnung und Vorfreude.

Freundlicher Gruß, Kanji

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Leonie18,

die Idee hinter deiner Kurzgeschichte finde ich sehr nett. Auch die Umsetzung gefällt mir über weite Strecken. Gerade der Stimmungswandel des Insassen ist dir gelungen.

"Jetzt hatte ich wieder etwas." -> Da drückst du mit einem simplen Satz ganz viel Gefühl aus. Schön!

Am Ende habe ich mich gefragt, warum du explizit erwähnt hast, "dass Herbst war"? Wolltest du damit zeigen, dass ihm/ihr die Zeit nun nicht mehr "gleichgültig" ist? Wenn ja, finde ich auch das schön.

Im ersten Absatz habe ich mich an der Passage gestört, in der erzählt wird, was ihm/ihr alles genommen wurde. In vier aufeinanderfolgenden Sätzen kommt jeweils "hatte" vor. Auch das doppelte "genommen" ist unschön. Vielleicht kannst du all die Informationen in einem Satz verarbeiten. Das würde den Lesefluss fördern.

"Blätter" klingt als Titel natürlich deutlich schöner als "Blatt", da es sich aber nur um ein einzelnes Blatt handelt (oder?), kann das zu Irritationen führen.


Am Ende deiner Geschichte habe ich mich über die "Rache an den Eintagsfliegen" gewundert. Für meinen Geschmack passt das nicht mit der Lebenslust zusammen, die er zuvor geschöpft hat. Ich sehe ihn nicht auf einem Rachefeldzug. Eher stelle ich mir vor, wie er/sie sich besonnen an den kleinen Geschenken des Lebens erfreut.
(An das Wiedersehen mit Finja und seinen Freunden könnte er/sie vielleicht auch in einem Satz denken.)

Vor "..." gehört ein Leerzeichen (und der vierte Punkt als abschließendes Satzzeichen (vorletzte Zeile) ist schlicht falsch).

Ich habe deine Geschichte gerne gelesen.


Liebe Grüße,
JackOve

 

Hallo Leonie18,

was ich noch hinzufügen möchte, nicht weil es mir besonders wichtig wäre, sondern weil es bislang noch nicht erwähnt wurde:
Ich vermisse ein wenig die typische Gefängnisatmosphäre in deiner Geschichte. Da gibt es keinen Justizbeamten, der ihn vom Besucherraum zurück zur Zelle führt (oder gibt es auch Gefängnisse, in denen man die Gefangenen in ihrer Zelle besuchen darf?), keine schwere Tür, die hinter ihm zufällt, kein dröhnendes Zuschieben des Riegels. Das einzubauen könnte auch mehr Handlung in deine Geschichte bringen, die ihr jetzt, finde ich, etwas fehlt.
Interessant finde ich, dass Kanji deinen Ich-Erzähler für eine Frau hält. Sobald ich "Gefängnis" dachte, dachte ich "Mann". Sagt wohl mehr über mich aus als über deine Geschichte. :shy:
Den ersten Satz würde ich aber tatsächlich in "Finja geht." ändern. Macht ihn stärker, meine ich.

Soweit mein Senf zu einer schon jetzt ganz guten Geschichte.
Viele Grüße
Ella Fitz

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom