Bittersüßes Erwachen
Seit langer Zeit gab es bei der Familie Maier wieder einmal ein Festessen. Ein Festessen, mit allen Schikanen wohlgemerkt, denn der Hans kehrte heute vom Krieg heim. Die gesammte Verwandtschaft wurde zusammengetrommelt und die Großmutter mühte sich in der Küche ab. Es war ein gemütlicher Sonntagnachmittag, draußen hörte man Vögel zwitschern und die Blätter der stolzen Kirschbäume begannen sich bereits gülden zu verfärben. Heiterkeit machte sich unter den Gästen breit und es wurde viel gelacht. Als dann auch noch der Andi den Schnaps aus dem Keller holte, wurde die Stimmung immer ausgelassener. Die kleinen Mädchen und Buben spielten Räuber und Gendarme, die Erwachsenen betranken sich und redeten über den Krieg und die Probleme die er so mit sich brachte. Vom Alkohol redselig geworden, verlor der Hans allmählich seine Scheu und erzählte von seinen blutigen Erfahrungen an der Front und seinem Glück als ihm ein Streifschuss einmal haarscharf verfehlte und ihm jedigliche eine dellengroße Schramme entlang der Wange eingebracht hatte. "Jo ma was eben nie, wanns soweit is... Wann ma sterbn muas!" lallte Hans vor sich hin. "Ich weiß sehr wohl wann ich sterben muss!", hörte man eine schüchterne Stimme wiedersprechen. Es war der grade mal 15 jährige Peter, der mit seinem schütterem Haar und seiner schlacksigen Figur etwas ungesund wirkte. "Ich weiß genau wann ich sterben werde", entgegnete er diesmal vernehmlicher. "Heute Nacht wirds nämlich sein". Daraufhin fing er lauthals zu lachen an und die Anderen stimmten mit ein und schimpften ihn glucksend einen Toren. Unter beladenen Tellern und schwerem Wein krochen die Stunden dahin und ehe man es sich versah war es für die Verwandten auch schon wieder an der Zeit sich zu verabschieden und den Heimweg anzutreten. Die Kinder wurden ins Bett geschickt und der Hans durfte bei den Maiers übernachten, da er noch keine Bleibe gefunden hatte.
Ein gedämpfter Hahnenschrei riss die kleine Annabel abrupt aus ihren Träumen. Sie schreckte aus ihrem Bett hoch und begutachtete nervös ihre Umgebung. Ihre Geschwister schliefen noch seelenruhig. Bedächtig schritt sie durchs Zimmer, warf sich rasch die Jacke ihrer Mutter über und verließ das Haus. Sie wollte sich mit Jakob, dem süßen Nachbarsjungen treffen solange noch alle schliefen. Ihre Brüder machten sich nämlich immer über ihn lustig und ihre Schwestern wollten sie ihm sreitig machen. Sie hatten ausgemacht sich bei Sonnenaufgang bei den Kirschbäumen zu treffen. Unter ihren herrlichen goldbraunen Blättern konnte sich bestimmt eine Romanze entwickeln. Voller angespannter Vorfreude machte sie sich auf den Weg. Nur war schon jemand dort.
"Jakob du bist ja schon da!", entfuhr es ihr. Doch es war nicht Jakob.
Es war Peter. Peter der mit weit aufgerissenen Augen und aschfahlem Gesicht an einem Ast baumelte. "Peter was machst du denn da!" rief Annabel verwundert. Doch Peter antwortete nicht. Sie näherte sich ihm ein paar Schritte und konnte sein von Krähenfüßen entstelltes Gesicht erkennen. Da hing er, ihr etwas eigentümlicher aber liebevoller großer Bruder, da hing er und würde nie wieder mit ihr reden können.
Sie dachte an Jakob und dass er sie stes vor ihren Brüdern verteidigte und ein Schrei zeriss die morgendliche Stille.