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Bitterkuss
In Seinen Adern fließt die kalte Unendlichkeit;
Brennende Glut in Seinem Herzen,
Gefühle, verwirrend wie das Mystische in Ihm,
Verboten.
Was ist Er, fragst du dich in bangende Stille gehüllt,
In erregender Furcht für das Unbekannte.
Feuer und Schatten, das ist er.
Die kalte Dezemberluft umspülte das Mädchen wie Eiswasser und verwandelte sich mit jedem Atemzug in winzigste Kristalle. Einige braune Strähnen hatten sich aus dem nachlässig gebundenem Seidenband in ihrem Nacken gelöst und tanzten wild im kühlen Wind der abendlichen Dämmerung, während sie den weißen Mantel fest und mit klammen Händen um ihren Oberkörper zog.
Die Kälte brachte Runas Zähne dazu, in einem gleichmäßigem, hastigem Rhythmus zu trommeln. Schon seit einer halben Stunde streifte sie durch die Straßen Vancouvers, die um diese Uhrzeit wie leer gefegt waren. Natürlich. Die meisten Leute saßen nun mit ihre Familie im Wohnzimmer vor dem knisternden Kamin und genossen die heimelige Wärme und die Vorfreude auf Heiligabend.
Runa legte einen Schritt zu. Der Weg von der Bibliothek zu ihrem Haus war weit und heute Abend hatte sie vor lauter Lernen ihren Bus ganz vergessen und schließlich verpasst.
Ein eisiges Kribbeln, das Runa über den ganzen Rücken fuhr und nichts mit der Kälte zu tun hatte, ließ sie aufhorchen. Sie fühlte sich beobachtet. Hellhörig beschleunigte sie -das hier war nicht gerade die beste Gegend, erst recht nicht für ein siebzehnjähriges Mädchen und zu dieser späten Stunde. Ängstlich presste sie ihre Tasche fest an ihre Brust. Ihr Pfefferspray hatte sie natürlich nicht dabei. Eilig überquerte Runa die menschenleere Kreuzung und bog um die nächste Straßenecke. Nur noch drei Blocks, dann war sie schon sicher zu Hause…
Plötzlich wurde sie am Ellbogen gepackt und herum gerissen. Runa wollte aufschreien, doch eine starke Hand hatte sich auf ihren Mund gelegt und erstickte jeden Hilferuf. Der Mann, dessen Gesicht von einer schwarzen Maske verdeckt wurde, drückte sie in den Schatten einer Hausmauer. „Halt die Klappe, oder ich bring dich um!“, knurrte er bemüht leise und dicht an ihrem Ohr. Eiskalter Stahl schmiegte sich schmerzhaft an Runas Taille; gerade mit so viel Kraft, dass das Messer ihre empfindliche Haut nicht durchstieß. Zitternd vor Angst wagte sie es nicht, auch nur zu atmen, während der Fremde ihre Tasche packte und wütend den Inhalt durchwühlte. Ungläubig zog er die 5$ heraus. „Ist das etwa alles?!“ Der Dieb fasste Runa heftig am Hals. „Ja“, würgte sie hervor, während stille Tränen in ihre Augenwinkel huschten. Wutentbrannt warf er die Tasche weg. „Bitte! Tun Sie mir nichts. Ich werde auch nicht zur Polizei gehen. Das schwöre ich!“, flehte Runa, als er sie eindringlich musterte. Anscheinend hatte er begriffen, dass es bei ihr nicht mehr Geld zu holen gab, doch dann griff er plötzlich nach den Knöpfen ihres Mantel. Runa zuckte panisch zusammen, als sie begriff, was der lüsterne Blick des Fremden zu bedeuten hatte. Wild versuchte sie, den groben Männerkörper von sich zu stoßen und begann zur kreischen, so laut sie nur konnte.
Ihre eigene Stimme hallte in ihrem Kopf nach, als der grelle Schmerz in ihrer Seite alles um sie herum verblassen ließ. Ein dunkler Schleier legte sich um ihre Sinne. Das letzte was sie spürte, irgendwo in ihrem Unterbewusstsein, war eine kalte Hand, die sanft ihren schwachen Körper stützte.
Er kannte seine Aufgabe ganz genau. Schon seit Jahrtausenden folgte er dem Ruf des Leids und der Angst, um sie, die Sterbenden, auf die nächste Ebene zu begleiten. Dabei zeigte er keinerlei Mitgefühl, denn Gefühle waren ihm nicht erlaubt. Niemals und unter keinen Umständen.
Und doch, zum ersten Mal in seinem langen Leben, rührte ihn der Anblick dieses armen Mädchens, welches brutal im hilflosen Kampf gegen diesen miesen kleinen Dieb niedergestochen worden war. Er konnte das schwache Schlagen ihres Herzens spüren, dass schon sehr bald zum vollkommenen Stillstand kommen sollte. Ihr Atem war flach und kaum noch vernehmlich.
Azrael schaute tief in ihre dunklen Augen, deren Lider im Todeskampf wild flatterten. In ihnen lag eine grausame Verzweiflung und Leere, die er einfach nicht begreifen wollte. Und eine unerkannte Schönheit, die ihn nahezu überwältigte. Zum ersten Mal in seinem langen Leben fragte er sich, ob es richtig war, solch ein wundervolles Geschöpf sterben zu lassen.
Er zögerte, ihre Seele von ihrem Körper zu lösen. Warum? Noch nie hatte er so für einen Menschen empfunden. Noch nie hatte er überhaupt etwas empfunden. Und dieses Gefühl überwältigte ihn unvorhergesehen und mit einer Intensität, die kaum begreiflich war. Dann traf er eine Entscheidung. Sie war naiv und egoistisch. Und gefährlich. Doch konnte er einfach nicht anders handeln. Er konnte es nicht.
Runa fühlte eine weiche, kühle Hand sanft über ihre Wange streifen. Mit letzter Kraft versuchte sie, die Augen zu öffnen. Sie konnte einen Mann wahrnehmen, doch nur verschwommen. Eine dunkle, fast schwarze Aura schien ihn zu umgeben,
wie ein düsteres Netz aus Unheil. Und doch hatte sie keine Angst davor, sich von ihm tragen zu lassen; in seinen Armen zu sterben.
Wie lautet dein Name? Die tiefe, kalte Stimme schien direkt in ihrem Kopf zu erklingen. „Runa“, stammelte sie schwach und zittrig. Grausame Kälte durchdrang ihren ganzen Körper, den sie jedoch kaum noch spüren konnte. Ich möchte dir ein Geschenk machen, Runa. Er beugte sich zu ihr herab und gab ihr einen sanften Kuss. Seine Lippen waren eiskalt und doch voll Leidenschaft, die Runa bewusst erschreckte. Mit einem letzten Flackern ihrer Lider fiel sie in schwarze Unendlichkeit.
*
Myriam stieg verschlafen die Treppe hinauf. Ihre Tochter hatte sie gestern Abend gar nicht mehr heimkommen hören. Sie musste wohl schon tief und fest geschlafen haben, denn Runa warf normalerweise die Haustür extra laut in die Angeln, um ihre Ankunft zu verkünden. Es war nicht selten, dass ihre introvertierte Tochter erst spät aus der Bibliothek zurückkehrte, wo sie ihre meiste Freizeit verbrachte.
Vorsichtig klopfte Myriam an Runas Zimmertür und öffnete sie einen Spalt breit. „Runa? Bist du…Oh mein Gott!“ Panisch stürzte Myriam zu ihrer Tochter, die mit geschlossenen Augen und flachem Atem bewegungslos auf ihrem Bett lag. Die Matratze und sämtliche Bezüge waren blutdurchdräng. „Oh mein Gott! Schau mich an, Liebes!“ Die blanke Todesangst um ihre Tochter, welche in ihrem eigenen Blut schwamm, verzerrte ihr Gesicht, als sie Runa an den Schultern packte und heftig rüttelte. Sie musste aufwachen! Einfach aufwachen!
Runas Augenlider flatterten. „Ich kann nichts sehen, Mama“, flüsterte sie mit schwachem Zittern in der Stimme. „Ich kann nichts sehen.“
„Schscht. Sei ganz ruhig, meine Kleine. Alles wird wieder gut!“ Unter wilden Tränen wiegte die Mutter ihre Tochter sanft hin und her.
*
„Was ist mit meiner Tochter, Doktor?“ Myriam musste das heftige Schluchzen, dass sich ihre Kehle hinauf drängte, hinunter schlucken. Sie konnte den Blick nicht von dem Mädchen abwenden, das halb tot hinter der Glasscheibe auf der Intensivstation lag. „Ich möchte Sie nicht belügen, Miss Watson. Ich habe keine Ahnung. Ich habe bereits weitere Fachärzte zu Rate gezogen, doch noch haben wir keinerlei Anzeichen auf eine Krankheit oder gar einer Verletzung bei ihrer Tochter entdeckt. Inzwischen sind wir zu der Annahme gekommen, dass es sich unmöglich um das Blut Ihrer Tochter handeln konnte.“
Ungläubig starrte Myriam dem Doktor in seine wässrig blauen Augen, die von glänzenden Gläsern verdeckt wurden. „Wessen Blut denn sonst? Meine Tochter bringt nie Freunde mit nach Hause. Da war niemand sonst in dem Zimmer.“ Myriam konnte die wiederaufsteigenden Tränen nicht zurückhalten. Das Beruhigungsmittel, dass man ihr injiziert hatte, zeigte kaum Wirkung. Der Doktor reichte ihr ein Taschentuch. „Und was ist mit der plötzlichen Blindheit?“
„Das wissen wir noch nicht genau, doch wir vermuten, dass es eine Schockreaktion ist.“
„Aber auf was?“
„Das weiß nur Ihre Tochter, aber sie möchte nicht mit uns sprechen.“
„Sie wird doch wieder sehen können, oder?“ Myriams Stimme war ein kraftloses Flüstern.
„Das wissen wir nicht.“
*
Nach drei Tagen hatte man ihre Tochter entlassen. Niemand konnte Myriam sagen, was ihr fehlte, woher diese plötzliche Blindheit herrührte oder was mit Runa gerade geschah. Zwei Wochen lang lag sie nur kraftlos auf ihrem neu gekauftem Bett und starrte mit leerem Blick in ihre eigene Dunkelheit, die sie möglicherweise für den Rest ihres Lebens umgeben sollte.
Und Myriam musste erschreckende Veränderungen an ihrer Tochter feststellen. Äußerliche Veränderungen, die eigentlich unmöglich waren. Doch sie wusste nicht, wie sie es ihrer Tochter beibringen sollte und schwieg eisern darüber, während sie sich jede Nacht in den Schlaf weinte und um ihr einziges Kind bangte.
Runa hatte schreckliche Angst. Ab morgen sollte sie wieder in die Schule gehen. Jeder wusste, was mit ihr geschehen war. Aber warum? Sie würde nie wieder sehen könnten. Da konnte sie sich die Schule und den Trubel wirklich sparen. Ihr ganzes Leben war zu Ende, noch bevor es richtig angefangen hatte.
Runa hatte kaum Erinnerungen an den Abend vor zwei Wochen. Nur eine Stimme hallte immer wieder in ihren Gedanken nach: Ich möchte dir ein Geschenk machen, Runa. Welches? Musste sie für den Rest ihres nun sinnlosen Lebens durch ewige Dunkelheit gehen? Sollte dies das große Geschenk sein? Da hätte sie den Tod vorgezogen.
Als Runa die Tränen kaum noch zurückhalten konnte stand sie vom Sofa auf. „Ich gehe schlafen“, sagte sie kühl und abweisend zu ihrer Mutter. „Natürlich, Schätzchen. Soll ich dir helfen?“
„Nein, danke. Ich schaff das schon alleine.“
Runa suchte sich den Weg in ihr Zimmer. Mit ausgebreiteten Armen ließ sie ihre Finger über die Wände gleiten. Dann warf sie sich verzweifelt auf ihr Bett; ihr ganzer Körper schüttelte sich unter den stummen Schluchzern. Die Farbe ihrer Zimmerwände! Sie konnte sich kaum noch an sie erinnern.
Runa schlug die Augen auf. Alles um sie herum war hell: die weißen Wände des Raumes, das Sofa, auf dem sie lag. Nur das dunkle, samtblaue Kleid, das sie trug, bildete einen starken Kontrast zu der Helligkeit, die ihr ungewohnt in den Augen schmerzte. Der fließende Stoff hüllte ihren Körper in wohlige Wärme. Träumte sie etwa? Ja, das musste es sein.
„Wie geht es dir, Runa?“ Runa richtete sich auf und wandte sich dem Mann zu, der aus der gleißenden Helligkeit hervor tat. Wie der Schatten des Lichts näherte er sich ihr, düster, bedrohlich und doch wirkte er eine seltsame Anziehung auf Runa aus. Sein mittelkurzes Haar trug die Farbe der Nacht und in seinen Augen wirbelte der Sturm der Gezeiten: das Blau und Grau seiner Iris verwebten sich auf seltsame Weise ineinander und bildeten einen unglaublichen Strudel, welcher stetig in Bewegung blieb.
„Was hast du mit mir gemacht?“, fragte sie ihn, den sie als den Mann erkannte, der ihr beigestanden hatte; in den eigentlich letzten Sekunden ihres Lebens. „Ich habe dein Leben bewahrt.“
„Aber zu welchem Preis?“
„Zu dem, den du allein wählst, Runa.“ Das Mädchen schüttelte verwirrt den Kopf. Dabei fiel ihr eine lange, blutrote Strähne über die Schulter. Überrascht ließ sie sie durch zwei Finger gleiten. „Das Leben hat einen großen Preis, Runa. Veränderung.“ Sie war sich nicht sicher, von was er sprach. „Ich habe dir ein neues Leben geschenkt. Aber nur du allein kannst entscheiden, ob du mein Geschenk auch annehmen möchtest.“ Runa schaute ihm fest in die Augen. „Wer bist du?“
„Nein, Runa. Die Frage lautet: Wer bist du? Du hast dich selbst nie gefunden. Und ich möchte dir die Möglichkeit bieten, genau dies zu tun. Finde dich selbst. Du hast 24 Stunden. Und dann entscheide dich: für dieses neue Leben oder für eine Ewigkeit, die weit über den Tod hinaus reicht.“ Wie ein scheues Reh zog sich der Schatten wieder in sein Licht zurück. „Eine Ewigkeit mit mir.“
Keuchend schlug Runa die Augen auf. Grelles Licht blendete sie, welches sie schon so lange nicht mehr erblickt hatte: Sonnenlicht. Es strahlte mit aller Kraft zu ihrem Fenster herein. Aufgeregt sprang sie vom Bett auf. Aber, das war doch unmöglich, oder? Sie konnte wieder sehen: die orangefarbenen Tapeten ihres jugendlich eingerichteten Zimmers, ihren dunklen Schreibtisch und die wunderschönen Bäume außerhalb des Fensters, die in dem kahlen Braun des Winters erglühten. Mein Name ist Azrael! Wie ein sanftes Säuseln des Windes erklang seine Stimme. Und mit einem erschütternden Schlag kam die Erinnerung an den Traum zurück und drängte sich in ihr Bewusstsein. Verunsichert machte Runa einige Schritte auf den Spiegel zu, der an ihrem Kleiderschrank befestigt war. Mit offenem Mund starrte sie auf die Fremde im Spiegelbild.
Ihr Gesicht war das selbe geblieben, doch hatte sich ihre jugendliche, pickelübersäte Haut in ein weiches, perfektes, porzellanartiges Gewebe verwandelt, das ihren Körper und ihr Gesicht wie ein seidenes Netz einhüllte. Ihr Haar war innerhalb dieser zwei Wochen um mindestens eineinhalb Meter gewachsen und hing in langen, aalglatten, blutroten Strähnen bis zu ihrem Po. Und ihre dunkelbraunen Augen leuchteten im Licht der Sonne wie zwei dunkle Granate, die man unter Sonnenschein hielt. Sprachlos ließ Runa ihre Finger zögerlich über dieses wunderschöne Gesicht streichen.
„Runa, du bist schon…wach.“ Ihre Mutter betrat überrumpelt das Zimmer. Langsam wandte Runa ihre Aufmerksamkeit Myriam zu. „Oh mein Gott“, flüsterte diese mit bebender Stimme. „Du kannst wieder sehen, nicht wahr?“
„Wie lange schon?“ Reumütig wich Myriam ihrem Blick aus. „Schon die ganzen zwei Wochen. Du hast dich nach und nach, aber rasend schnell verändert.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte, ohne dich nicht noch mehr zu verängstigen.“ So froh, ihre Mutter endlich wieder sehen zu können, nahm Runa Myriam fest in den Arm. „Ist schon gut, Mama. Ich verstehe das.“
Als Runa an diesem Morgen das Haus verließ, um den Weg zur Schule zu bestreiten, hatte sich alles für sie verändert. Nicht nur ihr Äußeres. Auch ihre Wahrnehmung. Alles leuchtete in den schönsten und prächtigsten Farben. Innig bewunderte Runa, wie sich ihre Atemluft in winzigste Kristalle verwandelte, auf deren Oberfläche sich das Sonnenlicht brach, während sich der kühle Winterwind in ihrem neuen Haar verfing und seine Strähnen wild und funkelnd in der Luft tänzeln ließ. Genießerisch drehte sich Runa um ihre eigene Achse, wobei sich ihre langen Strähnen wie ein feuerroter Mantel um ihren Körper legten. In diesem Moment spürte sie den Fluss des Lebens tief in sich wie nie zuvor.
Runa nahm nicht den üblichen Weg zur Schule, sondern schlenderte durch die kleinen Seitengässchen mit ihren kleinen Geschäften. Sie wusste, sie würde zu spät zur Schule kommen, doch das war nicht von Belangen für sie. Nicht heute. Als sie an einem Sekondhandladen vorbeikam, blieb sie stehen. In dem Schaufenster hing ein Kleid. Es war schlicht, weiß und wirkte wie ein historisches Filmkostüm, aber es war wunderschön und hatte etwas Unnahbares und Träumerisches an sich. Mit einem Lächeln betrat Runa den Laden.
*
Als sie ihr Klassenzimmer betrat verstummte jegliches Stimmengewirr. Jeder Blick ruhte nur ungläubig auf Runa, die mit ihrem weißen Kleid und den blutroten, polangen Haaren ihren Platz aufsuchte, während sie ein schüchternes „Entschuldigen Sie bitte die Verspätung“ hervorbrachte. Mr. Smith, ihr Geschichtslehrer, starrte sie verwirrt an. „Sind Sie eine neue Schülerin?“ Beinahe hätte Runa aufgelacht, doch sie konnte es ihrem Lehrer nicht verdenken. „Runa Watson. Ich bin seit einem halben Jahr in ihrem Unterricht.“
„Oh, natürlich. Bitte verzeihen Sie mir, aber Sie haben sich sehr…äh…verändert.“ Mit einem Lächeln nahm Runa die Entschuldigung an. Früher war sie noch nie aufgefallen. Immer war sie einfach von allen übersehen worden, doch heute stach sie aus der Menge heraus, mehr noch als ein kunterbunter Vogel. Es dauerte eine Zeit lang, bis der Lehrer seinen Faden wieder gefunden hatte. Doch die anderen Schüler starrten sie weiterhin wie gebannt und völlig unscheniert an. Noch nie war Runa so sehr im Mittelpunkt gestanden.
Der Zustand änderte sich nicht im Geringsten . Den ganzen Vormittag stand Runa im Mittelpunkt aller Blicke. Schüler wandten sich verwundert auf den Gängen nach ihr um und Lehrer gerieten ins Stocken, wenn ihr Scharfblick auf sie viel. Runa ignorierte die Aufmerksamkeit so gut wie irgend möglich, doch es viel ihr schwer zu übersehen, dass auch Corey O’Brien jede Sekunde nutze, um sie zu betrachten. Der Junge, in den sie schon seit der achten Klasse verliebt war. In der Pause kam er zu ihr und lehnte sich mit den Ellbogen auf ihrem Tisch ab. „Hey.“ Ein süßes Lächeln zierte sein hübsches Gesicht. „Hallo“, erwiderte Runa. „Ich wollte fragen, ob du vielleicht Lust hättest, heute Nachmittag etwas zu unternehmen. Mit mir.“ Ihr Herz machte einen freudigen Luftsprung. „Nun ja, eigentlich wollte ich etwas im Internet recherchieren.“
„Kein Problem. Du kannst doch meinen Computer benutzen.“
„Wirklich?“
„Klar. Also dann bei mir um drei Uhr.“
*
Nie hätte Runa zu träumen gewagt, einmal im Zimmer von Corey zu stehen, während er seinen Computer für sie einschaltete. Doch ein kleines Bisschen war sie enttäuscht. Sie hatte nicht erwartet, dass Coreys Zimmer so…normal jungenhaft eingerichtet war, mit Postern von Fußballspielern und dreckiger Wäsche in der Ecke. Sie hatte ihn immer für etwas…Besonderes gehalten. Doch sie versuchte dieses Gefühl zurückzudrängen. Das war lächerlich. Man konnte einen Menschen nicht nach dem Zustand seines Zimmers beurteilen. „Nach was soll ich denn suchen?“ Runa riss sich aus ihren Gedanken. „Azrael.“ Mit flinken Fingern huschte Corey über die Tastatur. „Für was brauchst du das?“
„Ähm, für ein Referat.“ Er klickte gleich den ersten Bericht mit der Maus an und begann, laut vorzulesen: „Azrael. Der Name Azrael, vom arabischen Izrail, bezeichnet in der islamischen Traditionsliteratur den mālik al-maut, den Engel des Todes. Der Geschichte nach ist es diesem Wesen, welches weder Gut noch Böse ist, verboten, jegliche Art von Gefühlen zu empfinden und ist auf ewige Einsamkeit verdammt. Außerdem besitzt Azrael als einziger die Macht über die Unsterblichkeit.“ Erschöpft von diesen Informationen setzte sich Runa auf das Bett neben dem Schreibtisch. Konnte sie dem wirklich glauben? War Azrael wirklich der Engel des Todes und hatte er ihr das Leben geschenkt? „Ist alles in Ordnung mit dir, Runa?“ Sie riss sich wieder aus ihren wirren Gedanken. „Ja klar.“
„Wir könnten doch ein Stück spazieren gehen, wenn du Lust hast.“ Runa lächelte. „Das wäre schön.“
Die Temperatur war stark gesunken. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und verbreitete ein mysteriöses Leuchten, als sie wieder vor Coreys Wohnung standen. Runa hatte bisher nur wenig über sich erzählt -Corey dafür seine ganze Lebensgeschichte. Runa wusste nun, dass er auf ein Sportstipendium hoffte und sie fragte sich, wie sie nur denken konnte, dass Corey etwas Besonderes war, ganz anders als andere Jungen. „Runa?“ Seine direkte Anrede riss sie aus ihren Gedanken. „Ja?“ Er sah ihr tief in die Augen. „Dieser Tag war wunderschön. Vielleicht könnten wir das wiederholen.“ Noch bevor sie über diese indirekte Frage nachdenken konnte, beugte er sich überraschend vor und küsste sie. Der Kuss sprach von einer warmen Sanftheit, wo sie doch eigentlich eiskalte Leidenschaft spüren wollte. „Corey.“ Sie wich seinen Lippen aus. „Warum wolltest du mit mir ausgehen?“ Er zögerte nicht, bevor er antwortete: „Weil du wunderschön bist, Runa.“ Sie sah ihn an und beobachtete, wie er das Spiel der Dämmerung in dem Glanz ihrer Augen betrachtete. Er konnte nicht hinter diese schöne Fassade blicken. „Warum ist dir das nicht früher aufgefallen? Warum jetzt?“ Überrascht über diese Frage zog er die Augenbrauen zusammen. „Sieh dich doch mal an. Du hast dich verändert.“ Plötzlich wusste Runa ganz genau, was sie wirklich wollte. „Ja, du hast Recht.“ Sie wich vor seinem erstaunten Blick zurück. „Aber das ist nicht dein Verdienst“, sagte sie. Dann drehte sich Runa um und lief los. „Runa!“ Sie blieb nicht stehen. Sie rannte durch die Dunkelheit, nur ihr schneeweißes Kleid leuchtete in der trüben Dämmerung, während ihre blutroten Strähnen um ihren Körper tanzten. Ihr Atem wandelte sich in helle Nebelschwaden, während sie keuchend begriff, was ewige Einsamkeit zu bedeuten hatte. Azrael ist ein Wesen, zu ewiger Einsamkeit verdammt. Es war dieses Gefühl der Leere, dass ihren Geist schon immer gefüllt hatte. Und es war genau dieses eine Gefühl, welches sie beide verband.
Als Runa den großen Stadtpark erreicht hatte, hatte sich die Dämmerung bereits in düstere Finsternis verwandelt. Der volle Mond verzauberte die Stadt und warf sein silbernes Licht auf den Schnee, der die Wiesen und Bäume unter sich begrub. Der Wald lag wie ein verwunschenes Märchenland da. Runa rannte tief in ihn hinein, bis sie endlich stehen blieb. Sie zitterte am ganzen Körper.
Ein dunkler Schatten trat hinter den alten, hohen Bäumen hervor. Er wirkte bedrohlich und düster, doch Runa empfand keine Angst. Nur erregende Furcht vor dem mysteriösem Unbekanntem, das ihn einhüllte und von dem sie sich so sehr angezogen fühlte. Azrael trat dicht vor sie.
„Ich weiß, wer du bist.“ Azrael sah fest in ihre Augen; er blickte hinter diese schöne Fassade, die er ihr zum Geschenk gemacht hatte und ließ sich nicht von der heuchlerischen Schönheit irritieren. „Warum hast du mir das Leben geschenkt?“ Azrael zögerte, bevor er antwortete: „Als ich dich zum ersten Mal gesehen hatte, hatte ich diese unglaubliche Schönheit in dir erkannt. Aber du nicht. Dein ganzes Leben warst du auf der Suche nach dir selbst und hast dich dabei immer mehr verloren. Ich wollte nicht, dass du auf diese Weise stirbst.“ Zögerlich hob er seine Hand und strich sanft mit seinen kalten Fingern über ihre Wange. Runa konnte die Einsamkeit in dieser einen sanften Berührung fühlen. Seine und auch ihre eigene. „Dir gefällt dieses Leben“, stellte er fest mit einem leichten Lächeln, doch seine Stimme verriet unterdrückten Schmerz. „Ja“, antwortete Runa selbstbewusst. Mit einem resigniertem Ausdruck senkte er seine Hand wieder und wollte vor dem Mädchen zurückweichen, doch Runa packte ihn fest am Handgelenk und hielt ihn so zurück. Überrascht blickte er auf. „Du warst der Einzige, der mich in meinem früheren Zustand je als schön angesehen hat. Du warst der Einzige, der mich je wirklich wahrgenommen hat. Und du würdest die ewige Einsamkeit vorziehen, als mich unglücklich zu sehen.“ Runa legte eine Hand an seine starke Brust. Sie spürte keinen Herzschlag. „Ich habe mich gefunden. Dank dir. Und ich habe mich entschieden. Ich möchte bei dir bleiben. Für immer.“
„Es gibt kein Zurück.“
„Ich weiß“, flüsterte Runa. Sie zitterte am ganzen Körper. Dann beugte sich Azrael zu ihr hinab und zog sie in seinen ewigen Schatten, der sie für immer verschlingen sollte. Sein Kuss war das letzte, das sie auf ihren Lippen spürte; eiskalt und voller Leidenschaft.
*
Myriam stand im kalten Morgenwind. Er brannte sich in ihre Haut und in ihre klammen Hände, deren Finger sich um die einzelne rote Rose schlangen. Warum konnte sie nicht weinen? Vielleicht, weil ihre Tochter noch nie so friedlich ausgesehen hatte. Ihre blasse Haut hob sich wie der hellleuchtende Schnee von dem dunklen Sarg ab und ihr blutrotes Haar leuchtete auf dem weißen Kleid. Wie eine wunderschöne, schlafende Puppe lag sie in ihrem letztem, unsterblichem Bett aus Eis und Kälte.
Eine einzelne Träne berührte Myriams Wange, als sie die Rose ihrer einzigen Tochter auf die letzte Reise mitgab. Dann wandte sie ihrer Vergangenheit auf ewig den Rücken zu und kehrte zurück nach Hause.