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Bitte vergib mir

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07.11.2003
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Bitte vergib mir

Wie friedlich du schläfst, zusammengerollt wie ein Igel. Du musst in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen sein, denn deine Atemzüge sind gleichmässig und deine Lider bewegungslos. Deine entspannten Gesichtszüge sind die eines glücklichen, unbeschwerten Kindes. Aber die ausgetrocknete Tränenspur auf deiner Wange verrät mir, dass du dich in den Schlaf geweint hast.

Heute habe ich dir erneut Kummer bereitet. Es war Besuchsmorgen in der Schule und ich war nicht dabei. Ich hatte einfach nicht den Mut dazu. Wenn du nur nachfühlen könntest, wie es für mich ist, wenn ich mir die Vorwürfe der Lehrer über deine Schulleistungen anhören muss. Ich würde ihnen gerne erklären, wie gut du wirklich bist, wie sehr du dir Mühe gibst, wie viele Schwierigkeiten du in deinem kurzen Leben bereits bewältigt hast und wie sehr du leiden musstest. Aber meine Sprachkenntnisse reichen nicht aus. Während meiner Suche nach den richtigen Worten, würden die Lehrer die Stempelaufschrift „RUSSISCHE SCHLAMPE“ auf meiner Stirn lesen und sich angewidert von mir abwenden.

Sie können mir keinen Respekt entgegenbringen. Wie sollten sie auch. Schliesslich wissen sie nicht wie schwierig es für uns war in Russland, als dein Vater ins Gefängnis kam und ich alleine für uns sorgen musste. Du warst damals erst zwei Jahre alt. Deine Grossmutter hat sich liebevoll und fürsorglich um dich gekümmert, während ich unseren Lebensunterhalt als Verkäuferin verdiente.

Aber das Einkommen reichte nicht aus. Ich hörte von guten Möglichkeiten, in der Türkei Geld zu verdienen. Klar hätte ich dich bei deiner Grossmutter lassen können, wie du es gewünscht hattest. Aber ohne dich hätte ich mir mein Leben nicht vorstellen können. Du warst in der Zeit in Istanbul mein einziger Halt, als ich mich als Geliebte eines reichen Geschäftsmannes und Familienvaters, in eine Luxuswohnung einsperren liess. Dank dir habe ich seine Eifersucht und seine Schläge ertragen können und einen Weg gefunden, mit dir zu fliehen. Wie ging es dir, als du dich im Nebenzimmer verkrochen hast, während er mir Gewalt antat? Wie gross war deine Angst? Fühltest du dich klein und ohnmächtig, weil du mir nicht helfen konntest?

Zurück in Russland hielt unser Glück nicht lange an. Eine kriminelle Gruppe aus unserer Stadt versuchte uns zu erpressen und uns das in Istanbul so hart verdiente Geld wegzunehmen. Bevor der Druck und die Gefahr zu gross wurden, entschied ich mich, mit dir nach Europa auszureisen. Unser Geld reichte gerade aus, um den Flug zu bezahlen. „Gott schütze dich, kleiner Ivan!“ sagte deine Grossmutter unter Tränen und bedeckte dein Gesicht mit Küssen. Wir stiegen in unser Taxi und ich sah in deinen Augen die Vorahnung, dass du sie erst nach vielen Jahren wieder sehen wirst.

Vielleicht hältst du mich für egoistisch, dass ich dich mitgenommen habe. Wahrscheinlich verstehst du nicht, dass ich dir eine bessere Zukunft ermöglichen wollte. Vielleicht fühlst du deshalb nur noch Verachtung für mich.

Ich habe einen teuren Preis für ein besseres Leben bezahlt. Während du dich in verschiedenen Asylheimen mit aggressiven und von sinnlosen Kriegen traumatisierten Kindern herumschlagen musstest, suchte ich nach einem gemütlichen Zuhause und einem gesicherten Einkommen.

Der einfachste und am nächsten liegende Weg führte auch hier über die Männer. Anfangs suchte ich einen treusorgenden, lieben Ehemann für mich und einen Vater für dich. Sicherlich gibt es hier solche Männer, aber ich habe sie nie kennen gelernt.

Es war eine andere Sorte Mann, die sich vom Stempel auf meiner Stirn angezogen fühlte. Die Sorte, die materielle Geschenke macht und sich dadurch berechtigt fühlt, einen anderen Menschen besitzen, unterwerfen und demütigen zu dürfen. Es war einfach für mich, diese Männer zu finden. Sexy anziehen, in eine berühmt berüchtigte Bar sitzen, die Beine übereinander schlagen, lächeln und schon war ich umringt von Typen, deren einziges Ziel zu sein schien, mir einen Drink offerieren zu dürfen. Sie alle lockten mich mit ihrem angeblichen Reichtum, waren sehr freundlich und zuvorkommend und machten mir nette Komplimente. Zu Beginn war ich überrascht über ihre grosszügigen Geschenke für ein bisschen Zärtlichkeit. Doch mit der Zeit erkannte ich, dass ich nicht nur meinen Körper, sondern auch meine Seele verkauft habe.

Der Verlust meiner Selbstachtung war ein sehr hoher Preis und auch du hast die Achtung vor mir verloren. Der einzige wahre Freund war der Wodka. Er liess mich für eine Weile vergessen und erleichterte mein schweres Herz. Auch heute habe ich mir den Frust über meine Feigheit, wegen der ich mich nicht in deine Schule traute und die Angst vor dem Blick in deine enttäuschten Augen von der Seele gespült. Ich wartete bis ich sicher war, dass du schläfst, bevor ich mich auf den Weg nach Hause machte.

Meine Bekanntschaften waren oft ziemlich harmlos. Ein bisschen flirten, küssen, mich betatschen lassen. Meistens konnte ich mich sogar aus der Affäre ziehen, ohne mit ihnen zu schlafen. Ich habe mir nie erlaubt, in einem Kabarett zu arbeiten, wie viele meiner Freundinnen. So tief wollte ich nicht sinken, obwohl behauptet wurde, dass die Arbeit dort nicht so schlimm ist. Die hiesigen Männer pflegen anscheinend einen viel respektvolleren Umgang mit Prostituierten, als die Rohlinge in der Heimat. Meine „Freunde“ suchten mehr als nur Sex. Sie wollten spielen, verführen und fallen lassen und ich lernte die Spielregeln schnell.

Einige von ihnen hast du kennen gelernt. Anfangs benahmen sie sich wie väterliche Freunde, beschäftigten sich mit dir, erteilten dir gute Ratschläge, führten dich aus und kauften dir schöne Dinge. Kurz darauf waren sie weg, für immer verschwunden und ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dich mal anzurufen um zu fragen, wie es dir wohl geht. Du hast verstanden, dass du ihnen im Grunde egal bist. Auch du hast das Spiel schnell durchschaut.

Jetzt sitze ich an deinem Bett und betrachte dich im Schlaf, denn in wachem Zustand würdest du es nicht zulassen. Du bist inzwischen ein junger Mann geworden. Mit deiner Körpergrösse von 1.80 ragst du unter den anderen 13-jährigen heraus wie ein Riese. Sie bewundern dich für deine Ruhe und deine Stärke. Nur ich erahne, was in deinem Herzen vorgeht. Noch immer suchst du nach Gerechtigkeit in dieser Welt. Ich sehe die Verzweiflung in deinen Augen, immer wenn du mich anschreist und mir sagst, dass du nicht mehr mit mir zusammenleben willst. Du bist dann immer so weit von mir entfernt und doch so nah. Ich würde dich gerne wieder in meine Arme nehmen wie damals, als du noch ein kleiner Junge warst. Aber du erlaubst es mir nicht mehr, dich zu berühren.

Ich möchte mein Leben ändern, alles besser machen, damit du mich wieder gern haben kannst. Du wirst sehen, ich werde eine gute Arbeit finden und aufhören zu trinken. Ich werde eine Ausbildung machen und unseren Lebensunterhalt auf anständige Weise verdienen. Ab jetzt werde ich an jedem Besuchsmorgen in der Schule dabei sein und mich bemühen, deinen Lehrern einen guten Eindruck zu vermitteln. Gibst du mir noch eine letzte Chance? Ist es schon zu spät?

Dein schlafendes Gesicht bleibt ausdruckslos während ich dich in Gedanken anflehe. Ich schaue nach oben auf das Bild meiner Mutter über deinem Bett. Ihr liebevolles Gesicht verschwimmt langsam und verändert sich in das einer zornigen Madonna, die über mir thront und die Strenge und Bitterkeit in ihrem Blick treibt mir Tränen ins Gesicht.

 

Hallo Selena!
(und herzlich willkommen auf kurzgeschichten.de, neben Alkohol und Drogen das grösste Suchtmittel der Welt...)

Diese Geschichte hat mir irgendwie gefallen. Hinterlässt mich etwas traurig.
Ich konnte die Geschichte flüssig lesen. Spannend war sie von der Handlung her zwar nicht, aber ich finde den Erzählort und die Situation gut/passend ausgewählt.
Ach, so nebenbei, im zweiten Satz (Atemzüge) ist 'nen kleinen Tippfehler...
Zurück zur Geschichte: Sie lässt einem irgendwie auch anders über solche frühreifen, äusserlich u.U. gefühlskalten, (agressiven), grossen Ausländerbrocken denken... man hat Mitleid mit ihnen.
Die ganze Geschichte erschien mir extrem realistisch(das Kind das grösser wird und sich von der Mutter nicht mehr in die Arme nehmen lässt, zB.), kompliment!

Öh, basiert sie auf wahren Begebenheiten?

mfg Van

 

Hi Van
Ich freue mich, dass die Geschichte dir gefallen hat. Juhui!!! Danke, dass du sie so genau gelesen hast (der Tippfehler ist korrigiert) und dass du dir so viele Gedanken darüber gemacht hast. Ich wollte die Situation dieser Frauen aus einer etwas anderen Sicht beleuchten. Die Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten. Vieles wurde dazu erfunden, noch viel mehr weggelassen. Du hast recht, kurzgeschichten.de wird auch für mich mehr und mehr zur Sucht. Vor allem, wenn man so tolles Feedback bekommt, möchte man sich gleich an die Niederschrift der nächsten Geschichte machen.
Gute Nacht!
Selene

 

Hi Selene,

auch ich habe die Geschichte sehr gefesselt gelesen (lesen müssen :D). Hinterlässt irgendwie einen schalen Nachgeschmack im Mund, aber das ist nur ein gutes Zeichen und kein schlechtes.

Noch ein Tipp zum stilistischen: Am Anfang sind die Absätze zwar rar gesät, aber vorhanden. Am Schluss lässt das nach. Da ist ein einziger, riesiger Block... den solltest du auflockern, sonst ist er schwer zu lesen und lockt zum Überfliegen.

 

Hallo Selene,

Auch mir hat die Geschichte sehr gut gefallen. Nicht nur (wie schon erwähnt) Erzählort und die Situation sind gut ausgewählt. Die Thematik an sich finde ich faszinierend: Das Fremdwerden zwischen Mutter und Sohn während oder weil der Sohn älter und eigenständiger wird. Und zugleich das viele Unausgesprochene, all die Dinge über die man nicht sprechen kann. Die vielen eigenen Gefühle, die man sich in diesem "Gespräch" mit dem schlafenden Sohn im Prinzip ersteinmal selbst vor Augen führen muss.

Dieses Geflecht ist eingebunden in die Problematik eines Menschen, der in ein fremdes Land geht und dort überleben muss. Viele Dinge sind dabei, über die man sich - wenn man hier aufwächst - kaum eine Vorstellung machen kann.

Eigentlich könnte man meiner Meinung nach aus dieser Geschichte auch zwei oder drei Geschichten machen, in dem man sich jeweils auf eine Thematik konzentriert.

Einzig mir unverständlich ist: "...würden die Lehrer die Stempelaufschrift „RUSSISCHE SCHLAMPE“ auf meiner Stirn lesen und sich angewidert von mir abwenden..."

Ich hoffe, dass du dies nicht persönlich erlebt hast. Denn ich hoffe, dass solch ein übler Rassismus nicht an unseren Schulen herrscht.

Kann sein, dass ich einiges falsch interpretiert habe, aber das ist mein momentaner Eindruck. (Dewegen natürlich meine Frage: Liege ich richtig?)

Viele Grüße und noch viel Spaß beim weiteren Schreiben,
wünscht
Benjaminus

 

Hi vita! Hallo Benjaminus!

Ich freue mich, dass ihr die Geschichte gerne gelesen habt und danke euch für eure wohlwollenden Kommentare.

@vita
Die Geschichte ist jetzt neu überarbeitet. Ich habe einige zusätzliche Absätze eingefügt und die Abschnitte mit Leerzeilen klarer abgetrennt. Du hast recht, jetzt lässt sich die Geschichte einfacher lesen. DANKE!

@Benjaminus
Ich finde es grossartig wie viele Gedanken du dir gemacht hast und das meiste hast du goldrichtig interpretiert. Glücklicherweise habe ich jedoch an der Schule nie derartigen Rassismus kennengelernt. Das entspricht nicht der Realität bei uns. Im Gegenteil, ich wundere mich immer, wie gut unsere Lehrer mit der oft sehr schwierigen Multikulti-Situation an unserer Schule umgehen. Ein grosses Kompliment an die Lehrer!
Oftmals entspricht es der Wahrheit, dass man die Protagonistin nur wegen ihrer Herkunft abstempelt, das musste ich leider miterleben. Da die Protagonistin die Selbstachtung verloren hat, bildet sie sich aber auch oft nur ein, dass die Menschen Vorurteile haben. Sie denkt, dass die Menschen sie nicht respektieren können, weil sie selber glaubt, dass sie keinen Respekt verdient. So schickt sie sich mit ihren Schuldgefühlen selber in die grausamste Hölle.

Euch beiden wünsche ich einen wunderschönen Abend und vielleicht laufen wir uns hier bei kurzgeschichten.de bald wieder über den Weg.

Grüsse
Selene

 

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