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Bitte nicht verstören
Im Fahrstuhl war es stickig und still und es roch nach Schweiß. Als sie einstiegen, stand dort schon ein Mann, der das Paar ignorierte. Charles musterte ihn: In seinem Mundwinkel hing eine frische Zigarette, die nicht brannte. Und obwohl draußen die Hitze hartnäckig zwischen den Häuserfassaden klebte, trug der Mann eine schwere Lederjacke. Das war ein Kerl für grobe Taten, beschloss Charles. Das war einer, der in den Gassen lauerte und Touristen erleichterte.
Die roten Lichtpunkte der Etagenanzeige formten eine 1.
Charles trug ein knittriges Hemd voller kleiner Soßenspritzer und eine helle Stoffhose mit leeren Taschen. Er fühlte sich unvollständig und schlecht und dumm.
Denise hingegen hatte sich die Laune nicht verderben lassen. Jetzt sang sie. Laut und schräg. Der Fremde ignorierte das angetrunkene Mädchen, das sang, auch dann, als sie ihn von der Seite angrinste und viel zu laut sagte: «Erzähl mal was!»
«Lass doch den Mann in Ruhe», sagte Charles, als würde er ein ungezogenes Kind maßregeln. Behutsam zog er seine betrunkene Freundin näher zu sich. Doch der Fremde reagierte gar nicht, er wirkte geistig abwesend und schaute stumpf auf die Etagenanzeige mit ihrer Matrix aus roten LEDs. Langsam atmete er ein und aus; sein pfeifendes Ausatmen klang, als habe er Brandlöcher in der Lunge.
«Jetzt sag doch mal was – wie du heißt, zum Beispiel!»
Der Fremde atmete aus und drehte sich zur Seite, schaute die beiden kleinen Touristen an. Die platte Nase eines Straßenkämpfers dominierte ein Gesicht, das nach Gewalt aussah. Der Fremde hatte Erfahrung im Zerstören, hatte Lust auf Konflikte. Er schaute erst in ihre, dann in seine Augen. Bei Denise sah er harmlose Naivität; bei Charles sah er Furcht. Er zog die Zigarette aus dem Mundwinkel und sagte: «Antonio».
Charles lächelte nervös und nickte zaghaft.
«Was für ein beschissener Name», prustete Denise in die Enge der Kabine.
Antonio schaute sie an. Charles erstarrte. Denise lachte.
Die roten Punkte formten endlich eine 2.
Ping!
Der Fahrstuhl stoppte und die Türen glitten zur Seite.
«Komm jetzt», sagte Charles und fasste Denise an der Hand und zog sie aus der Kabine in den Hotelflur, in Sicherheit.
«Ciao, Antonio», rief Denise und winkte.
Die Fahrtstuhltüren zerquetschten ein düsteres Augenpaar.
Als Denise das große Fenster aufriss, strömte die warme Abendluft in das Zimmer und wehte kleine Staubflusen umher, die sanft auf den Teppich segelten. Charles musste gähnen, wollte aber nicht. Unten schlenderten auf der Straße zwei Pärchen entlang, die kichernd knutschten und stolperten. Aus der kleinen Kneipe von gegenüber schallte ein schrilles Lachen, wurde leiser und schlagartig lauter, weil eine Figur im knittrigen Anzug einen Witz gerissen hatte. Ihnen allen war das Schicksal von Charles und Denise egal. Die Nachtschwärmer feierten und tranken und lachten, als sei nichts gewesen.
«Striptease!», rief Denise und schob ihre Jeans langsam über ihren Hintern und ließ sie zu Boden rutschen. Mit dem Fuß stupste sie die Hose in die Ecke. Dann fiel sie um und lag giggelnd auf dem Teppich.
«Brauchst du Hilfe da unten?», fragte Charles, der auf der Bettkante saß.
«Nein, nein, nein, nein», sang sie und zog sich umständlich das Shirt über den Kopf, stand wieder auf und schleuderte es durchs Zimmer. «Ich steh schon wieder!»
Denise öffnete die Ösen ihres schwarzen BHs, ließ ihn von ihren Brüsten in ihre Hand rutschen. Das feine Stück Polyester warf sie in Charles’ Gesicht und verschwand ins Badezimmer. Er legte den BH sorgfältig auf den Nachttisch und schaltete den Fernseher ein, um sich abzulenken. Es liefen The Simpsons auf Italienisch, eine der frühen Folgen, in der Bart zum Ladendieb wird. Unweigerlich wanderten Charles’ Gedanken eine Stunde in die Vergangenheit: Sie hatten sich Calamari Fritti con Crema di Pomodoro geteilt und viel Weißwein getrunken, viel zu viel, viel zu gut. Angeheitert und satt waren sie eng umschlungen durch die Gassen getorkelt; dabei war Denise mit dem Absatz in einer Fuge im Boden hängen geblieben und gestolpert. Sie liebte ihre sündhaftteuren Pumps mit ihren hohen Absätzen. Sie sah in ihnen einfach hinreißend aus. Charles hatte ihren leichten Körper aufgefangen, wobei ihm klar geworden war, dass er längst die Orientierung verloren hatte. Alles sah gleich aus: gleich dunkel. Sie hätten ein Taxi nehmen sollen, sie hätten der süßen Trägheit nachgegeben müssen ... Charles lag auf dem Bett und sah vor sich die Klinge, die aufblitzte. Dann sah er die Eisenstange, die der andere Kerl in der Hand gehalten hatte. Zwei Gestalten hatten sich aus dem Schatten gelöst; Gestalten wie Antonio, lediglich von etwas schmalerer Statur. Sie hatten nervös gewirkt, aber zu allem bereit. Sie hatten ihr Geld gewollt und damit Charles’ geliebtes Portemonnaie. Und sie hatten es bekommen. Zwanzig Jahre hatte Charles es mit Fahrkarten aus allen möglichen Metropolen gefüttert, mit Visitenkarten und Quittungen, mit Briefmarken, Dollar-, Zloty- und alten Lire-Scheinen. Alles weg.
Weg, weg, weg.
Denise hatte gelacht, als sie wieder alleine in der Gasse standen. Alleine und erleichtert. Was hätten sie schon tun können?
Was hätte er tun sollen?
Was, was, was?
Denise öffnete den Verschluss ihrer schmalen Uhr und legte sie ans Waschbecken. Sie hatte nur ein paar lose Scheine hergeben müssen, nicht einmal ihre Halskette hatten die beiden Kerle bemerkt, und auch nicht die Uhr an ihrem Handgelenk. Sie schaute in den Spiegel und sah ihre erröteten Wangen, die sie mit kaltem Wasser benetzte. Ihr feuchtes Gesicht versenkte sie ins graue, raue Handtuch. Sie kehrte anschließend zurück ins Zimmer, wo Charles gedankenverloren auf dem Bett lag und in die Leere starrte. Sie wollte ihn aufmuntern. Schließlich waren sie im Urlaub.
«Mach dir keinen Kopf», sagte Denise und legte sich neben ihren Freund und schmiegte sich an ihn. Ihr Shirt lag zerknüllt in der Zimmerecke. Sie überlegte einen Moment, es aufzuheben und auf die Stuhllehne zu legen, blieb aber liegen, und drückte ihr Ohr auf Charles’ Brust. Sie lauschte seinem Herzschlag.
Ihre Kreditkarten lagen im Safe, ebenso ihre Pässe und die Leihkarte für die Bibliothek, die Charles aus Versehen mitgenommen hatte.
«Wir sollten Gras kaufen», sagte Denise. «So zur Entspannung.»
Charles lächelte endlich wieder. «Als ob du auch nur eine blasse Ahnung davon hättest», sagte er und richtete sich auf. «Wie willst du das denn anstellen?»
Denise überlegte kurz, grinste und sagte: «Steht bestimmt im Lonely Planet ...»
«Ich glaube allerdings kaum, dass Dealer Kreditkarten akzeptieren», sagte Charles und lehnte sich zu Denise rüber und küsste sie. Ihre betrunkenen Zungen verloren sich in ihren Mündern und ein kicherndes Treiben zwischen Körpern und Kissen zerwühlte die Bettlaken. Was hätte er schon tun sollen?
Da war vielleicht ein Klopfen. Durch das Fenster wehte ein kühler Luftzug; draußen lachte niemand mehr. Erneut klopfte es zaghaft an die Tür. Es war kurz nach Mitternacht. Vor der Zimmertür war tatsächlich jemand. Das Paar wartete ab, sie lagen still im Bett. Die Vorhänge flatterten im Wind. Ein erneutes Klopfen. Niemand sagte etwas. Wieder klopfte es, diesmal deutlich ungeduldiger. Sie waren wie gelähmt. Das Klopfen wollte nicht enden, es klang jetzt wie ein verrückter Specht, der gegen das dürre Holz hämmerte.
«Was soll das?», rief Charles schließlich, machte das Licht, das in den Augen wehtat. Er stand auf.
«Komm wieder ins Bett», flüsterte Denise. Charles schlüpfte in sein Hemd und suchte seine Unterhose und fand sie zwischen den Fusseln unter dem Bett. Draußen schob jemand eine Karte in den Schlitz; leise klickte das Schloss.
«Vielleicht nur eine übereifrige Putzfrau», sagte er zu Denise, die ihn zweifelnd ansah und die dünne Decke über ihren nackten Körper zog. Die Tür schwang langsam auf und eine Frau betrat das Zimmer.
«Buona sera!»
Charles erschrak. Er betrachtete die Fremde, die Anfang dreißig sein mochte. Ihr Gesicht war grell geschminkt – und all das: kurzer Rock, blond gefärbte Haare, High-Heels mit absurd hohen Absätzen. Dagegen waren Denise’ Absätze gar nichts. Die Gestalt im Türrahmen war eine groteske Erscheinung, fast unwirklich, und doch so, wie sich Charles eine Prostituierte vorstellte.
«Ich glaube, Sie sind hier falsch.»
«Das ist Zimmer zwei-null-sieben?», fragte die Fremde.
«Schon, aber –»
«Dann richtig», unterbrach sie und drängelte sich an Charles vorbei, der kurz und leise protestierte, bis er unterbrochen wurde: «Ich bin Nadia.»
Sie setzte sich auf einen Stuhl, dessen Existenz Charles erst in diesem Moment bewusst wurde. Nadia zog ihr dünnes Jäckchen aus und hängte es um die Stuhllehne.
«Was wollen Sie von uns?», fragte Denise.
«Ihr wollt Spaß, deshalb bin ich hier.» Es klang wie auswendig gelernt.
«Sie sind aber nicht von den Zeugen Jehovas, oder?»
Das verstand Nadia nicht. Ihre Fremdsprachenkenntnisse beschränkten sich auf das Nötigste. Sie zog sich unbeirrt ihre hochhackigen Schuhe aus. Ihre Füße waren ziemlich groß.
«Besuchen Sie immer einfach so fremde Leute?», fragte Charles. Nadia ignorierte seine Frage – vielleicht verstand sie ihn nicht, denn er redete recht undeutlich. Manchmal hielt man ihn deshalb für einen Holländer. Denise schaute ihren Freund an, doch er wusste auch nicht, was zu tun war. Sollte er sie rauswerfen, an den Armen packen und sie vor die Tür zerren, ihr eine scheuern, jetzt ausrasten und all die Frustration über seinen Verlust auslassen, an dieser fremden Person, die ihrem Zimmer war und auf diesem Stuhl saß und wartete, dass er sich entschied? Sollte er ihr eine knallen? Sollte er? Musste er?
«Was soll’s denn sein?», fragte Nadia, «Französisch? Griechisch?»
«Griechisch?», fragte Denise. Suflaki. Gyros. Bifteki. Kaum zu glauben, aber sie hatte tatsächlich schon wieder Hunger. «Kostet bestimmt extra», vermutete sie.
«Also dann Griechisch», übersetzte Nadia.
«Absolut nicht», sagte Charles und kratzte sich am Arm, wo ihn eine Mücke gestochen hatte. An seiner Fingerkuppen klebte Blut.
«Bevor Sie gehen, könnten Sie mir noch sagen, wo wir Gras kaufen können?», fragte Denise.
«Denise, nein!»
Nadia schaute das Mädchen im Bett fragend an.
«Marihuana. Pot. Haschisch. So was in der Art. Wissen Sie da Bescheid?»
«Sag du, okay?»
«Weißt du, wo wir Gras kaufen können?»
«Ich kann besorgen.»
«Siehst du, wie leicht das ging», sagte Denise triumphierend.
«Ich bin so ziemlich stolz auf dich», sagte Charles sarkastisch.
«Was kostet das denn?»
«Zwanzig pro Gramm.»
«Zwanzig? Das ist teuer», sagte Charles, obwohl er keine Ahnung hatte.
«Aber gut?», fragte Denise.
«Beste Qualität», behauptete Nadia, die ihren BH ablegte. Ihre Brüste schauten Charles an. Die Brustwarzen schielten etwas. Für ihn war das Entkleiden immer Teil des Vorspiels und Denise zog sich gern tanzend aus, sogar wenn sie nüchtern war. Charles schaute zu seiner Freundin, die lächelte; eine entzückende Röte dominierte ihr sanftes Gesicht. Dass sie unter der dünnen Decke nackt war, schien ihr nichts auszumachen. Er war total verliebt in sie. Dringend wollte er zurück ins Bett und sie verschlingen und sie lieben und ihre warme Haut auf seiner spüren. Er wollte endlich seine Ruhe haben und den Tag beenden, vergessen und ausschlafen, lange frühstücken und den Rest des Urlaubs genießen, so gut es eben ging.
Doch nun hockte da eine fast nackte Nutte in ihrem Zimmer, wie ein glitschiges Tier, das er nicht zertreten konnte, weil es sonst aufplatzen würde. Charles hatte mal einen Vogel mit dem Fahrrad überfahren. Da hatte er sich mehrfach übergeben müssen.
Er spürte eine kalte Wut in sich, fühlte sich zugleich aber nicht in der Lage, handgreiflich zu werden. Ihre Situation war absurd und ärgerlich. Irgendwie musste er diesen Eindringling loswerden. Und zwar schnell. Denn obwohl die Einrichtung des Zimmers nicht den Charakter seiner Bewohner widerspiegelte, war es doch ihr Zuhause, ihre temporäre Liebeshöhle, zu der nur sie Zugang hatten – und die Putzfrau, die hier nicht viel mehr tat, als die grauen, rauen Handtücher zu wechseln.
Nadia zog aus ihrer Handtasche ein Smartphone.
«Sie können sich mal wieder anziehen, das wird heute nichts mehr», sagte Charles und versuchte, möglichst autoritär zu klingen.
«Sag du», sagte Nadia. Sie hielt ihr Telefon ans Ohr und brabbelte harte Vokale und Konsonanten in das kleine Mikrofon. Es klang Russisch.
«Sie hat das neue iPhone», stellte Denise fest.
«Halb so toll, wie du jetzt denkst», sagte Charles.
«Zehn Minuten», versprach Nadia und ließ ihr iPhone wieder in ihrer Handtasche verschwinden.
«Hast du dafür eine Internet-Flatrate?»
«Nur telefonieren. Wollt ihr nun ficken, ja?»
«Lass mal gut sein», sagte Charles.
«Nicht ficken?»
«Nein, wir verzichten», sagte Charles. «Aber danke fürs Vorbeikommen». Er schob die Fremde zaghaft in Richtung Tür und ignorierte, dass sie nur noch mit einem knappen Tanga bekleidet war. «Einen schönen Abend noch.»
«Dann kostet zweihundert Euro», sagte Nadia und befreite sich aus Charles’ zaghaftem Griff.
«Würde zweihundert Euro kosten. Konjunktiv – gute Nacht.»
«Zweihundert Euro für Anfahrt.»
«Ach, komm, das ist doch unverschämt, was Sie hier abziehen!», fand Charles. «Kommen hier einfach rein und ... und ziehen sich aus! Dabei hat keiner von uns angerufen, bei Ihnen oder Ihrem Zuhälter oder bei wem auch immer ...»
«Doch, bei Franco.»
«Ich kenn doch gar keinen Franco! Und jetzt verschwinden Sie endlich, ich habe keinen Bock mehr auf den Scheiß!»
«Sag du. Zweihundert Euro, dann gehe ich.»
«Mir reicht das jetzt», sagte Charles und ging zu dem altmodischen Telefon, das auf dem Nachttisch stand, wo auch noch der schwarze BH von Denise lag. «Ich ruf die Rezeption an.»
Charles drückte die 0, schaute zu Nadia, die sich unbeeindruckt ihren Nägeln widmete. Dann schaute er zu Denise. Sie lächelte. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich eine dunkle Stimme meldete: «Ciao, hier ist Franco, was kann ich tun für dich?»
«Franco», wiederholte Charles und schaute zu Denise, die ihn gespannt ansah. Charles räusperte sich und sprach in den Hörer: «Hier ist Zimmer zweihundertsieben, zwei-null-sieben, wir haben hier ein kleines Problem.»
«Nadia etwa nicht gut?»
«Ach, Sie kennen sich also, na super! Was ist das hier – ein Puff?»
«No, no, kein Puff.»
«Sondern?»
«Hotel mit Extras.»
«Sehr geschmackvoll ...»
«Grazie», sagte Franco. Es klang aufrichtig.
«...»
«...»
«Das Problem ist, dass Nadia zweihundert Euro von uns haben will, obwohl wir gar kein Interesse an ihren ‹Extras› haben. Verstehen Sie? Ich bezahle nicht, auf keinen Fall!»
«Sie zahlen Preis, den Nadia sagt.»
«Spinnen Sie? Was sind Sie eigentlich für einer», sagte Charles und drehte sich zu seiner Freundin. «Die stecken hier alle unter einer Decke.»
«Wunderbar», sagte Denise; sie wollte eigentlich nur mit einem unter der Decke stecken.
Dann klopfte jemand an die Tür.
Nadia stand auf. Charles wollte sie am Öffnen hindern, doch er hatte längst die Kontrolle verloren. Noch immer hielt er den Hörer in der Hand. Die antrainierte Höflichkeit hinderte Charles daran, einfach aufzulegen, und das verdrehte Kabel reichte sowieso nur bis zum Bettpfosten. Schon hatte Nadia die Tür geöffnet. Herein kam eine kleine Frau mit schwarzen Haaren und knallrot bemalte Lippen. Ihre kurzen Beine waren von zerrissenen Nylonstrümpfen umhüllt. Sie trug ein schwarzes Latexkleid und schwarze Latexhandschuhe, die ihr bis zu den Ellenbogen reichten. Um den Hals schlang sich ein breites Lederhalsband mit D-Ringen, in die man Ketten einhängen konnte.
«Ich bin Lady Lydia», sagte Lady L. in erstaunlich gutem Deutsch.
Sie sah so aus, wie sich Charles eine Domina vorstellte. Eine teure Domina, die sich auf Nischen-Fetische spezialisiert hatte.
«Ich habe mein Spielzeug mitgebracht», sagte Lydia und zog einen kleinen Trolley-Koffer aus dem Flur in das Zimmer. Peitschen, Masken, Klemmen. «Seid ihr bereit für ein bisschen Schweinkram?»
«Oh nein», antwortete Denise.
Charles hielt den Telefonhörer in der Hand und starrte.
«Griechisch? Französisch? Tintenfisch?», fragte Lydia und hob ihre linke Hand, in der sie tatsächlich einen Tintenfisch hielt. Es war ein feuchtes Tier, das glänzte. Es tropfte ein bisschen auf den Teppich, was dem nicht weiter auffiel. Viele andere Flecken erzählten von den Missgeschicken und Tragödien, die sich in Zimmer 207 abgespielt hatten.
«Oh nein.»
«Sie sind hier alle falsch!», sagte Charles und legte den Hörer endlich auf den Nachttisch, neben das altmodische Telefon. Franco hatte längst aufgelegt. Charles suchte seine Hose, sah sie aber nirgends, vielleicht lag sie im Bad, vielleicht auf der Straße – in feuriger Leidenschaft zum Fenster hinausgeworfen. Diese Leidenschaft war längst verflogen und einer dumpfen Verzweiflung gewichen. Charles war fast soweit, die Damen einfach zu bezahlen, damit sie endlich verschwinden. Das ging aber nicht so einfach.
Dann klopfte es.
Oh nein. Klopf, klopf.
«Das gibt’s doch nicht!»
Wieder öffnete Nadia wie selbstverständlich die Tür. Dieses Mal stand im Rahmen keine absurd geschminkte Frau – sondern Antonio. Er sah noch grimmiger aus als im Fahrstuhl: Er würde süße Babys mit seinen bloßen Fäusten zerquetschen, würde putzigen Hundewelpen die Augäpfel ausreißen und kraftvoll zubeißen, sie genüsslich zwischen seinen mächtigen Kiefern zermahlen.
Und Charles hatte nicht einmal eine Hose an.
Antonio schloss die Tür. Zur Begrüßung küssten ihn Nadia und Lady Lydia auf die Wangen. Aus der Tasche seiner Lederjacke zog er einen kleinen Plastikbeutel, den er Nadia reichte.
«Gutes Zeug», sagte sie und schmiss den Beutel aufs Bett.
Antonio lehnte sich gegen die Tür und fingerte in der Innentasche nach etwas, das sich als Feuerzeug entpuppte. Charles war sich ziemlich sicher, dass dies ein Nichtraucherzimmer war.
«Sind dann vierhundertfünfzig Euro – und schon sind wir weg», sagte Nadia.
Das klang wie ein verheißungsvolles Versprechen; ein sehr teures Versprechen.
«Wieso denn jetzt vierhundertfünfzig?», fragte Charles.
«Ich zweihundert, sie zweihundert», erklärte Nadia und deutete auf Lady Lydia und ihren tropfenden Tintenfisch. «Und fünfzig für Marihuana. Zusammen: vierhundertfünfzig Euro.»
«Ohne Trinkgeld», ergänzte Lydia.
Denise zog die Decke näher zu sich; sie fühlte sich plötzlich nackt und hilflos. Antonio schaute sie an. Ein dezentes Lächeln umspielte seine Lippen. Irgendwo freuten sich zwei Gauner über ihre schnelle Beute.
«Ihr kriegt auch Quittung», sagte Nadia. Die kleine Lady Lydia nickte zustimmend.
«Nun», begann Charles ruhig, «da gibt es ein kleines Problem. Man hat uns nämlich tatsächlich überfallen und―»
«Schluss jetzt!», sagte Nadia mit einer Schärfe, die Charles verstummen ließ. Nadia schaute zu Antonio und nickte. Er verstand sofort. Darauf hatte er gewartet. Antonio trat zwei Schritte näher an das Bett und riss die dünne Decke von Denise’ nacktem Körper. Seine kräftigen Hände packten das zappelnde Fleisch.