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Bitch
„Grace, bitte löse jetzt die Gleichung!“, rief Fr. Krappmann ziemlich plötzlich und ziemlich laut durch die Totenstille des Klassenzimmers. Angegruselt starrten die Schülerinnen und Schüler der Klasse 7 B auf die allmählich hervortretenden, seltsam geschwungenen Blutadern an den Stirnschläfen ihrer Mathematiklehrerin. Das 17-jährige („aber bald 18-jährige!“) Mädchen, das so unsanft von der Lehrerin mit dem Namen Grace angesprochen und zur Lösung der Gleichung aufgefordert worden war, stand vor der Tafel und blickte, nachdenklich wippend, auf die mathematischen Schriftzeichen. Den wahrscheinlich etwas zu dünnen Körper hatte Grace in eine schwer nachzuahmende Ballett–Pose einrasten lassen, die dürren Schenkel maximal durchgedrückt, wie zu einem X übereinander gekreuzt, bei ausgesprochen stark seitlich abgesenktem Becken. Das strenge Wort der Lehrerin war zur Gänze an ihr abgeprallt: unaufspürbar tief in geistiger Konzentration versunken winkte Grace mit einer Geste ihres rechten kleinen Fingers und ihres rechten Ringfingers das strenge Wort der Lehrerin von sich fort. Die Finger der Schülerin war mit fürstlich großen Ringen verziert, durch welche winzige Kettchen gezogen waren, die wiederum an den aufwändig perforierten Fingernägeln hernieder klickerten, und in den restlichen drei Fingern hielt Grace das beinahe unbenutzte Stück Tafelkreide, mit dessen rechteckiger Längsfläche sie immer wieder bedächtig auf ihre fülligen, leicht geöffneten Lippen tippte. Der Lippenstift des Mädchens (ein raffiniert leuchtendes, metallisches Indigo) hinterließ bei jedem Tippen eine geflockte Spur und erschien auf der ansonsten strahlend weißen Kreide wie das Blut einer Außerirdischen. Unter den etwas reiferen Jungen der Klasse 7 B war ein gebanntes Starren auf dieses verschmierte Stück Kreide zu beobachten, die Schülerinnen hingegen feixten still. Unter den Mädchen gönnte man diese Niederlage der sonst so unverletzlichen Grace. Nur eine Schülerin empfand Mitgefühl: und das war die beste Freundin von Grace. Die Gleichung war nämlich durchaus schwer zu lösen, und die beste Freundin, obwohl sie in der ersten Reihe saß, hatte keine Chance, ihrer Freundin Grace eine Hilfe zu sein und ihr die Lösungsformel (welche man durchaus auswendig kennen muß) zuzuflüstern. Grace starrte mit einem allmählich ansteigenden Ausdruck verzweifelten Entsetzens auf die Zeichen der mathematischen Gleichung, die Fr. Krappmann mit nervös gezerrter Schrift schon vor Minuten auf die Tafel geschrieben hatte.
„Grace!“, schrie Fr. Krappmann erneut, scharf und viel zu laut.
Und Grace, als sei sie von diesem kurzen und heftigen Schrei der Lehrerin wahrhaftig geohrfeigt worden, warf ihren ganzen Kopf mit einer heftigen Drehung nach rechts, so daß sämtliche Zöpfchen ihrer Frisur, diesem Wurf nach rechts folgend, in eine reich und schön anzusehende, gleichmäßig und fächerartig bewegte Entfaltung gelangten. Die Glasperlchen, die irgendjemand in offenbar stundenlanger Handarbeit in wirklich jeden einzelnen Zopf hineingeflochten haben muß, klipperten zierlich. Zöpfchen für Zöpfchen kam, ganz der Reihe nach, in einer anmutig wirkenden Zusammenkunft auf der linken Gesichtshälfte zum Liegen, und dann folgte ein spannender Moment der Erstarrung in diesem Nach-Rechts-Geworfen-Sein. Eine Pause entstand, aus der Grace, als käme sie wirklich nur ganz allmählich wieder zu sich, in ihre ursprüngliche Position zurück glitt mit einer Langsamkeit, die jeder geohrfeigten Diva zur Ehre gereicht hätte. Ja, Grace hielt sich sogar die linke Wange und blickte, wie ein in die Enge getriebenes, schönes Raubtier durch die nun etwas größer geratenden Freiräume zwischen den ungleichmäßiger herbeirutschenden, neu sich zusammenfindenden Bündelstränge ihrer Zöpfe.
Grace blickte in das zu Stein erstarrte Gesicht der Lehrerin, und der feuchte Blick aus den samtbraunen Augen des Mädchens trug in sich die ganze Bedeutung des Ekels vor der Gewalt, die ihr soeben („und auch sonst!“) widerfahren war, die Wut eines ganzen, aus Kränkungen bestehenden Lebens, die Unmöglichkeit, dem anderen Geschlecht all das Geschehene auch nur annähernd verzeihen zu können, die Rachlust sämtlicher tragischen Frauengestalten der Weltliteratur und so weiter. Allein - da war auch das schmerzende Schuldbewusstsein einer zu früh zur Frau Gewordenen, die verlorene Unschuld, hergeschenkt, wehte zart durch diesen Blick wie der milchig durchsichtige Geist der Weißen Dame. Ratlosigkeit! Angesichts der immer wieder sich manifestierenden Unfähigkeit, ein gutes Mädchen zu sein, die Sehnsucht nach dem guten Leben, all das in einem Blick aus diesen Mädchenaugen, deren Lider mehr Farbe trugen, als alle Mädchen dieser Schule jemals benutzt hatten.
Und dann geschah es: Fr. Krappmanns Nase begann zu bluten.
Die Lehrerin merkte es sogleich, griff mit ihren Fingern an die Oberlippe, blickte überdrüssig auf den ovalen, hellroten Fleck und schnaubte ärgerlich, lief dann zum Lehrerpult und suchte in ihrer unelegant großen Tasche vergeblich nach dem Taschentuch. Schließlich lief sie (was selbst Grace ein Anheben der Augenbraue abnötigte), ohne ein einziges Wort aus der Klasse und ließ die Türe unsanft hinter sich zudonnern. Unter allen Schülern setzte sogleich ein Murmeln ein, Grace drehte sich zu ihrer besten Freundin und begann heftig zu gestikulieren.
Die beste Freundin von Grace saß zwar in der ersten Reihe und hatte alles genau beobachten können. Aber sie war tief im Gedanken: ah, sie liebte es. Diese Dramatik, mit der Grace ihren Kopf zur Seite geworfen hatte, die Schönheit dabei, die nicht zu bändigende Energie, die Kraft, die ganze Selbstverständlichkeit dahinter, die Vitalität, die Choreographie. Die beste Freundin liebte Grace für ihren superdünnen Körper, für ihren „No-Titties“-Look (was bedeutete, daß sie sich mit Klebeband den Busen in Richtung Rücken abzukleben verstand, wann immer es ihr in den Kram passte), sie liebte die herrliche Haut von Grace, makellos glatt und von einem wahrhaftigen Lüster war diese Haut und so herrlich bitterschokoladen-tieftiefbraun. Niemand konnte sich dieser Haut entziehen, und alles an Grace war total abgefahren und so weiblich, dachte die beste Freundin. Trotzdem konnte Grace aber auch stundenlang lachen, stundenlang weinen, wie ein Mädchen halt, sie war toll. Die Frisur und alles. Diese Zöpfe! Das unbezahlbare, französische Make–Up! Alles! Grace hatte immer Geld, dachte die beste Freundin von Grace. In die Eisdiele lud Grace ihre beste Freundin andauernd zum Caramel Macchiato ein, und dann pfiff Grace vom Tisch aus den rotblonden Jungs hinterher, die wurden dann knallrot und wussten nicht ein noch aus, das war so lustig! und dann lachte Grace und die beste Freundin lachte mit. Grace hatte Courage. Couragiert war sie im Umgang mit den Jungs, sie konnte sich sogar prügeln. Grace prügelte sich mit einem Golfball, den sie in eine übrig gebliebene Socke tat und zuknotete, denn nirgendwo sei geschrieben, daß eine Socke und ein Golfball als Waffe anzusehen seien. Grace hatte beides immer in ihrer Handtasche, einfach cool. „Es ist der gleiche Golfball, aber schon die vierte Socke, okay? Okay!“, erklärte Grace ihrer besten Freundin einmal. Apropos Jungs: da gab es ja den Andreas, ja? Der hübscheste Kerl von allen, ja? Mit dem hatte Grace eine „On-Off-Beziehung“; so nennt man es, wenn man sich trennt und doch wieder nicht und dann wieder doch und … naja, alles eben. Grace war alles: sie war crazy, sie war sexy, sie war cool. Und die beste Freundin? Nun ja. Die beste Freundin war keineswegs sexy und keineswegs cool und keineswegs crazy und …
„Bitch!“, zischte es plötzlich durch die Gedanken der besten Freundin von Grace. „Hör auf mit Träumen, Du Bitch! Wach auf, schnell! Wie geht das mit der Rechnung hier! Bevor die Alte wieder kommt! Oh my god …!“ Grace winkte ihrer besten Freundin zu, die allmählich aus ihren Gedanken auftauchte und ungläubig aufblickte.
„Meinst Du mich?“
„Ja, Bitch! Hilf mir, ich versteh diese Scheiße nicht. Mitternachtsgleichung? Gott! Was muß ich machen?“
Die beste Freundin von Grace richtete sich auf und schaute ungläubig in Grace´s Gesicht.
„Hast Du mich gerade „Bitch“ genannt?“
Ein kleines Raunen ging durch die Klasse; manche begannen herzhaft zu lachen, auch Andreas, der ja zur Zeit nicht mit Grace zusammen war, verzog sein puppenartiges Gesicht zu einer smart wirkenden Überraschungsmimik. Manche klatschten verhaltenen Applaus.
Grace stöhnte auf. „Oh bitte, ich nenn jeden Bitch. Ich sag sogar zu meiner Mutter Bitch. Bitch.“
„Sag meinen Namen!“, fauchte die beste Freundin von Grace. Und mit einer unwirschen Bewegung des Kopfes, die man von der besten Freundin von Grace gar nicht erwartet hätte, erhob sich das pummelige Mädchen mit den kurzen, ungepflegten Haaren und begann, den Tonfall von Grace bemerkenswert gut nachahmend, mehrmals mit einer schnippischen Geste ihrer kleinen, rundlichen Patschhand (als zupfe sie jemandem einen dargebotenen Geldschein aus der Hand) in Richtung Grace zu gestikulieren und schimpfte laut: „Ich hab einen Namen, okay?
Sag meinen Namen!“
Grace war baff. Wir alles waren baff. Dieser kleine, irrelevante, nach Pubertät müffelnden Dickwanst bestand darauf, mit Namen angesprochen zu werden! Ha! Grace tat, was sie immer tat, wenn sie überrascht war: sie hob beide Hände, spreizte die Hände so weit es ihr überhaupt nur möglich war (schon meinte man, eine Fledermaus zu sehen, die dazu ansetzte, sich in die Lüfte zu erheben), dann öffnete Grace den Mund, man sah ihre ebenmäßig samtene, kugelige Zunge, die in einer makellosen Einkränzung weißer Zähne wie das Fleisch einer rosafarbenen Muschel ruhte – und mit der Mimik abgrundtiefer Empörung starrte sie bewegungslos in das Gesicht ihrer besten Freundin, die (wie gesagt) aufgestanden war, die Beckenkippung von Grace ohne Rücksicht auf Verluste oder herausragende Röllchen in allem nachahmte, obgleich ihr das mit ihren vielen Kilos kaum gelang. Und wir alle ahnten es sogleich: was im Scherze mit einem zu unsanft gesetzten Wort begonnen und sich versehentlich zu einer Komplikation verknotet hatte, würde nun in einem echten Krieg enden.
Die beste Freundin krakelte: „Ausgerechnet Du nennst mich Bitch? Also! Dann hilf Dir selber. Okay? Was gehen mich Deine Rechnungen an!“
Seltsamerweise begriffen diesmal selbst die Jungs den Ernst der Lage. Andreas (der hübschste Kerl von allen, ja?) hörte, wie sein Fuckbuddy namens Buddy ihm zuflüsterte:
„Hey bro!“ –
„Was, bro?“ –
„Eine von den Schlampen muss den Puff jetzt räumen, oder, bro?“ –
„Ja, Mann. Sonst fließt Blut, bro.“
Buddy blickte mit seinen kleinen, grünlichen Augen ins Leere, dachte einen Moment lang nach und sagte:
„Die Krappmann, ja? Die hat ja schon geblutet UND ist gegangen, so …"
(er sprach das „so“ mit englischem Akzent aus, „sou“ …).
Daraufhin kicherten Andreas und Buddy auf, als seien sie keine Jugendlichen, sondern Kinder, schnippsten sich gegenseitig die Basecaps von den Köpfen, deren Haar identisch rotblond war (als seien Andreas und Buddy tatsächlich die Kinder ein und desselben Elternpaares und nicht nur bros); man kämpfte also noch ein wenig miteinander herum, dann beruhigten sich die bros zufrieden seufzend wieder, und mit aneinander gelehnten, muskulösen Schultern schauten Andreas und sein Fuckbuddy namens Buddy zu den voreinander aufgebauten Freundinnen: endlich war mal was los in der Klasse 7 B.
Die beste Freundin von Grace hob den rechten Unterarm in die Höhe und machte mit gestrecktem Zeigefinger eine Schlangenlinien-Geste, beginnend auf der Höhe von Graces´ Stirn und etwa in Schoßhöhe endend, also wolle sie ihr bedeuten: „Guck Dich mal an!“. Ein erstauntes Raunen ging durch alle Reihen; Grace hob gleich beide Augenbrauen und blickte kurz und ernst drein. Durch die Schlangenliniengeste war die Lage selbst für Grace schwierig geworden, sie musste sich wehren. Die beste Freundin von Grace hatte sich nämlich mit der Schlangenliniengeste einen entscheidenden Vorteil verschafft, und Grace musste einen Gegenschlag ausführen, sonst würde ihre beste Freundin womöglich weitermachen mit einer Reihe verächtlicher Grimassen, um Grace ins Lächerliche zu ziehen. Die beste Freundin allerdings hatte Grace bereits mit der nächsten, noch machtvolleren Geste konfrontiert: mit der Streckfaust!
Hierzu eine Erklärung: die Streckfaust ist eine Geste, die aufgrund der ihr innewohnenden Gewalt eigentlich nur unter besonders erfahrenen Huren zulässig ist. Sie funktioniert so: man ballt die auf Brusthöhe gehobene Hand bei gebeugtem Ellenbogen gewissermaßen zu einer Art Faust, jedoch mit (auf die Handfläche hernieder geklappten) Fingern, die hierbei gestreckt zu sein haben, als hielte man mit ihnen ein flaches Sachet fest oder als ginge es gar nicht anders, weil z.B. die zu langen Fingernägel es nicht zulassen, eine echte Faust mit gekrümmten Fingern zu ballen. Das Wichtigste an der Streckfaust war der Daumen: lag der Daumen nämlich an der Faust, so verursachte die ganze Geste lediglich geringen Respekt beim Gegner – also mußte der Daumen unbedingt im rechten Winkel aus der Faust herausragen, und je schmerzhafter die Ausrenkung des großen Daumengelenks für den Betrachtenden aussah, und je obszöner ein künstlicher Daumennagel sich von der Daumenspitze im Bogen durch die Luft wölbte, desto größer war das Dominium, das sich eine Hure mit dieser Geste sichern konnte, und desto gewaltiger war die Macht der Hure, die mit der Streckfaust durchzuregieren verstand.
Zwar hatte sich die beste Freundin von Grace in ihrem ganzen Leben noch nie auch nur einen einzigen Fingernagel aufkleben lassen (das war ja entsetzlich teuer!), aber sie lieferte dennoch diese Geste. Grace war jetzt in den ernstesten Schwierigkeiten: denn die Streckfaust ist keineswegs leicht zu toppen! Vor allem dann nicht, wenn eine mit dem Kopf ausgeführte Indische Seitwärts-Welle mit im Spiel war. Und genau das tat die beste Freundin von Grace und konnte das auch noch ziemlich gut! Sie musste es heimlich geübt haben! Scheiße!
Grace ahnte, daß sie es hier mit einer Gegnerin zu tun bekommen hatte, deren Bemerkenswertigkeit nicht so einfach beiseite gewischt werden konnte wie das Gebrüll à la Krappmann. Wie auf ein Stichwort verwandelte sich jetzt das (von einer noch nie in solcher Intensität erlittenen Überraschung) zur Gänze aufgerissene Gesicht von Grace in einen Ausdruck von Angewidertheit aufgrund des offenbaren Verrates ihrer besten Freundin an deren Mädchen-Freundschaft, die einmal schön und edel gewesen war, durchmischt von jener scharfen, stillen Form des Ekels, von dem ganzen Schmerz, von der Unmenge an Enttäuschung durchflutet und in denkbar alle Verachtung gleichsam gehüllt; als eine Bombe aus tödlichem Gift feuerte Grace all dieses nun undosiert in das mit einem Male erschrockene Gesicht ihrer einstmaligen besten Freundin ab - und es saß. Tränen sammelten sich in den Augen des dicken Mädchens, die gekränkt und trotzig unter Schluchzen forderte:
„Sag meinen Namen!“
Gewiß, es war Grace immer klar gewesen, daß sie auch von ihrer besten Freundin niemals etwas Köstlicheres als Undank hatte erwarten dürfen. So war es seither IMMER gewesen. Warum nur? Warum hatte Grace in ihrer kleinen besten Ex-Freundin jemals mehr gesehen als das? Was hatte Grace erwartet? Was! Was denn!!! Grace schürzte ihre farbigen Lippen in vollständiger Breite auf und gab allen Gesten ihrer Brust, ihrer Ellenbögen, ihres Kinns, ihres Gesichts und ihrer sämtlichen anderen Körperteile freie Bahn: diese eine, diese zeitlose Wahrheit von der Unmöglichkeit, auch nur einem einzigen Menschen auf dieser Welt jemals trauen zu können, das! Das sollte ihre angeblich beste Freundin nun in reiner, in unverhülltester Form erblicken. Und es durchfuhr Grace auf das Hemmungsloseste, der gesamte Körper von Grace bäumte sich auf, das Nicken, das sich in alle Gliedermaßen übersetzte, schien nur noch dieses Eine ausdrücken zu wollen: „Bitch!“
Gewiß, auch der besten Freundin von Grace war immer klar gewesen, daß der Gedanke an das Geld-Machen, der eiskalte Kampf um die Jungs, das Leben als Underdog überhaupt! nicht spurlos an Grace vorbeigegangen war. Aber daß es einmal in einer derartigen Verwüstung ihrer beider Seelen enden würde! Kein Platz mehr für Frieden! Kein Platz mehr für einen Caramel Macchiato! Beide waren viel zu weit gegangen, sie beiden merkten es. Aber nun war zu spät, der Krieg war bereits im vollen Gange. Okay.
Von wem nur hatte sich die beste Freundin von Grace dieses heftige Arsenal an Posen abgeschaut und alles? Grace wurde vor aller Leute Augen mit ihren eigenen ureigensten Waffen geschlagen. Andreas sprach aus, was alle dachten:
„Die hat es sich das alles heimlich abgeguckt, bro. Und jetzt, wo Grace Breitseite zeigt, wird sie von ihrer beste Freundin trocken fertiggefickt, bro.“ -
Buddy blickte mit seinen kleinen, grünlichen Augen ins Leere, dachte einen Moment lang nach und sagte:
„Das macht man doch auch so, oder? Bro?“ –
„Ja, Mann“, sagte Andreas und rieb seinem Fuckbuddy namens Buddy anerkennend über den Oberschenkel, als sei es der Rücken einer dänischen Dogge.
Kurz: die Situation war ungemütlich für Grace. Selbst für jemanden wie sie war jetzt die Zeit gekommen, die Schäden klein zu halten, sonst würde ihre beste Freundin von damals die Gunst der Stunde nutzen und den ganzen Laden übernehmen. Dieser Tapir von einem Andreas grinste schon! Und mit einem fauchenden Knallen schnappte Grace ihre beiden gespreizten Hände zusammen, mit einer blitzartigen Bewegung, die mit bloßen Auge nicht zu beobachten war, und die Fäuste gelangten geballt in die Hüften von Grace, der ganze Körper geriet in die würdevolle Positur einer Großhure, die sich unfreiwillig dazu gezwungen sieht, mit einer emporgekommenen Nutte zanken zu müssen. Grace streckte den Hintern aus ihrem Rückgrad, als sei sie bereits mit Bademantel, Plüschpantoffeln, Lockenwicklern und mehreren Fuchsschwanzfellen als Schlüsselanhänger bewaffnet auf die Straße gelaufen, um sich persönlich bei den zusammengetrommelten Schlampen über eine Begebenheit zu empören, die sich unerhörterweise und (was das Verstörendste war) ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis, aber dennoch in ihrer Nachbarschaft (also in ihrem Revier!) ereignet hatte. Grace blickte genau so durch den Raum, mit dem Gesichtsausdruck überdrüssiger Ratlosigkeit, als ärgere sie sich über eine skandalöse Unverschämtheit, über die sie nun unbequemerweise, aber auch unausweichlicherweise sich hinwegzusetzen genötigt sah. Genau so blickte sie nun um sich: als suche sie, gefasst auf die Gewissheit des Im-Stich-Gelassen-Werdens, aber gewissermaßen doch hoffend und entlang eines fiktiven Horizontes nach Hilfe forschend; wie ein Kriegsgeneral, der nach Verstärkungstrupps umherblickt, aber auch nicht zu verzweifelt erscheinen darf, damit die Moral der bereits kämpfenden Armee nicht unnötig sänke.
Und dann kam das Halbfinale. Das Mädchen, mit dem Grace einmal befreundet gewesen war, machte den Anfang: sie schürzte die Lippen und saugte (für alle deutlich sichtbar) an ihren Zahnzwischenräumen, als habe sie soeben noch an einer weichen Mahlzeit zu kauen gehabt. Mit dieser geringschätzenden Geste blickte sie auf ihre Fußspitzen und schüttelte diese abwechsend, als läge eine grobe Schicht von Staub oder Erde darauf. Und in eben diesem Moment, als sie den Kopf heben wollte, um sich wieder der Kontrahentin zu widmen: in genau diesem Moment schnalzte Grace deutlich, scharf und laut mit dem bereits lange zuvor aufgebauten Unterdruck in ihrer Mundhöhle und einem Zungenschlag, der kurz und überraschend die feuchte Unterseite ihrer Zunge bloßlegte: mit einem knallenden Geräusch, als seien zwei harte Holzklötze gegeneinander gestoßen worden. Die beste Freundin von Grace schaute erschrocken drein: mit dem Zungenschnalzer hatte sie nicht gerechnet, das war neu. Grace spitzte siegesgewiß die Lippen, schnippste ihrer einstmaligen Freundin mit den Fingern ins Gesicht, warf den Kopf zur Seite, als wolle sie sagen: „Tja!“ und schaute mit einem leichten Kopfschütteln über die Köpfe der Schülerinnen und Schüler der Klasse 7 B hinweg, wobei sie tief aufatmete und als sei hiermit festgestellt: „Ach. Du kleine Wahnsinnige. Ich bin ´ne Nummer zu groß für Dich.“ Aus den in die Hüften gestemmten Fäusten ragten die dadurch noch länger, noch professioneller aussehenden Fingernägel wie die verrenkten Krallen eines Werwolfes, und alle Goldkettchen glitzerten leise. Grace war hervorragend. Aufrichtiger Applaus brandete plötzlich auf unter allen Schülerinnen und Schülern der Klasse 7 B.
Nun musste eine Entscheidung kommen: es war das Finale.
Das Mädchen, von dem wir wussten, daß sie einmal mit Grace befreundet gewesen war, hatte nur noch eine absolut letzte Chance, das Ruder an sich zu reißen, und Grace stand verdammt gut da, okay? Okay. Die ehemalige Freundin wagte alles und brüllte:
„Hey Grace! Keine Notfall-Situation wird jemals ernst genug sein, um die Gelegenheit zu verschieben, eine Bitch beim Namen zu nennen. Okay? Okay! Und wenn Du´s nicht magst, wie die Dinge nun mal sind, ja? … Dann … Dann …..“
Sie wurde plötzlich ruhig und atmete heftig.
Grace grinste gefährlich. „Ja! Was denn? Was ist denn, wenn ich´s nicht mag, wie die Dinge nun mal sind, ha? Warum bist Du ruhig geworden? Red doch! Sag alles!“
„Dann fick DICH! Bitch!“, brüllte die gewesene beste Freundin in Richtung Tafel. Das letzte Wort hatte sie mit einem „A“ anstatt mit einem „I“ ausgesprochen, sie schrie „Batch“ anstatt „Bitch“ und warf ihren winzigen Kopf in Richtung Grace, wie eine tiefe Verbeugung; und als lege sie es darauf an, mit dieser heftigen Krümmung ihres ganzen kleinen Körpers, bei der sie mit dem Gesicht fast die Fläche des Schüler-Pultes berührte, den eigenen Kopf (von der Wirbelsäule abgetrennt) auf sie abzufeuern wie ein Projektil, wie eine Kanonenkugel.
Und als sie sich wieder aufrichtete, da tat sie dies nicht einfach so, sondern sie bewegte ihre leicht gebeugten Arm über Stirn und Kopf, als wolle sie das Haar einer prachtvollen Langhaar-Frisur auf´s Hinterhaupt, auf ihren Rücken zurückwerfen. Das Ganze mit Schnipsen, okay? Und Kopf-zur-Seite-Nicken, OHNE Anschauen, dafür aber mit Indischer Welle, spitzen Lippen, danach Zahnzwischenräume, Zungenschnalzer am Ende, beide Streckfäuste! Volltreffer.
Das war zu perfekt: Grace mußte es zugeben. Und tatsächlich knurrte sie mit seltsam veränderter Stimme folgende Worte:
„Bitte hilf mir, diese Gleichung zu lösen, Sina.“
Grace hatte sich ergeben. Sie hatte den Namen ihrer besten Freundin ausgesprochen: sie hatte „Sina“ gesagt anstatt „Bitch“.
„Geht doch!“, schrie Sina mit ihrer letzten Kraft und machte eine obszöne Rapper-Geste. Sie hatte gesiegt! Der Krieg war zu Ende.
Und dann ging es los: aus den Mündern der gesamten Klasse erhob sich ein Siegesschrei, der lauter nie gebrüllt wurde, seit es Kriege unter den Menschen gibt und Sieger. Ein Donnern erhob sich, ein Poltern der Tische, alle Beine trampelten, die Wände erzitterten, Sina hob ihre gedrungenen Ärmchen.
Die Jungs im Chor gröhlten. Andreas und sein Fuckbuddy mit Namen Buddy kamen mit hochroten Köpfen herbeigerannt und hoben den vor Anstrengung zitternden Körper unserer Sina an ihren dicklichen Schenkeln in die Höhe, trugen sie als eine Göttin umher, alles stand und lachte, klatschte. Sina sah herab auf das Gewirr der Arme, der Köpfe: sie erlebte es als Traum, sie konnte es nicht fassen, es flog Papier, es flog Kreide, es flogen die nassen Schwämme und klatschten gegen die Fenster, es flogen die Basecaps aller Jungs, und alles spritzte, alles donnerte immer wieder auf und ab, das Geschrei wurde wie ein einziges, sehr lautes Summen, man hörte keine einzelnen Geräusche mehr, es war nur noch ein laut durchgehaltenes „JA!“, auf und nieder, wie ein Erdbeben. Sina wurde umhergetragen, alles versuchte, sie auch einen Moment tragen zu dürfen, die Mädchen schrien vor Vergnügen. Ein Triumphzug, den prachtvoller kein Kaiser je erhalten hatte. „Sina! Sina! Sina“, funkelte es wie Glockengeläut durch den Lärm, immer wieder, minutenlang. Alles stand auf den Stühlen, auf den Tischen, es flogen Mäppchen umher, eine Orgie der Freude, und über allem schwebte sie, Sina, inmitten ihres größten Triumphes, ich werde das niemals vergessen. Es war der Rausch vom Sieg. Und als habe die Siegesgöttin namens Nike aus dem fernen Samothrake ihren bequemen Pariser Sockel verlassen und als sei sie, auf Kopf und Arme pfeifend, herbeigeflogen und als sei sie selbst, von allen unbemerkt über den hochroten Köpfen der Jungs und den jubelnden Armen der Mädchen flatternd im Raume verweilt, um den Heilskranz vom Siege für unsere Triumphatrix namens Sina zu stiften, wirbelten plötzlich sogar Federn, glitzernd, strahlend, durch die Luft. Andreas und sein Fuckbuddy namens Buddy hatten nämlich die Kissen aus der Puppenecke aufgerissen und die Federn über Sina´s zerzaustes, halbnasses Köpfchen verstreut.
Ein Klassenfest!
Und Grace? Nach ihr sah niemand. Sie hätte sich ebenso in Luft auflösen können, keineswegs hätte das jemand bemerkt. Grace schaute zu und konnte nicht umhin, ihre Niederlage einzugestehen. Sina hatte gut gekämpft, okay? Unfair, aber gut. Okay? Okay! Kurz - nur ganz kurz, blitzte aus dem dunklen und edel geschwungenen Schatten ihres überirdisch schönen Gesichts das Feuer der Anerkennung in Richtung Sina. Die Schlampe war jetzt bereit für die Straße, soviel stand fest. Und Grace fühlte ein wenig Stolz für ihre kleine Schülerin, die sich ganz offenbar und hiermit einen Namen gemacht hatte.
Man setzte Sina vorsichtig wieder zurück auf den Boden. Ihr winziges, eigentlich gar nicht so hässliche Gesicht war eingekränzt von Daunenfedern, sie war zum Verlieben schön davon, und ihre Augen leuchteten wie die Sterne, feucht und fein und beige. Allen Schülerinnen und Schülern der Klasse 7 B kam es so vor, als sei Sina während ihres Triumphes um Zentimeter gewachsen. Zufriedenes Murmeln drang aus allen Gesichtern, die sich wie zum Schmuck rund um unsere kleine, große Sina rankten, während sie, die Siegerin, würdevoll auf Grace, die Besiegte, zuging, um deren Huldigung zu empfangen.
Und Grace tat, was getan werden musste; sie sagte:
„Okay. Du kannst Du meinetwegen arbeiten.“
Dann ließ sie ein echtes Lächeln sehen und sagte: „1 zu 0 für Dich, Sina. Okay?“
Jetzt waren sie keine Freundinnen mehr; jetzt waren sie Schwestern. Grace öffnete die dürren Ärmchen und umarmte Sina herzlich, um ihr den obligatorischen Schmatzer der Schwesterlichkeit auf ihre kleine, ein wenig nasse Querfurche über der Stirn zu erteilen. Dann wischte sie ihr, ohne das Gesicht auch nur versehentlich mit den Fingernägeln zu berühren, die winzigen Tränen der Erleichterung nach all der überstandenen Not mit gekonnten Gesten aus dem Gesicht.
Plötzlich stand Fr. Krappmann neben den sich umarmenden Schwestern und blickte mit einem seltsamen Lächeln auf das Paar. An die Lehrerin hatte nun wirklich gar keiner mehr gedacht. Gott weiß, was sie durch die hauchdünnen Wände des Klassenzimmers alles mitgehört hatte. Auf jeden Fall hielt sie sich das Geschirrtücher aus der Teeküche gleich neben dem Klassenzimmer an die Nase. Und ganz offensichtlich hatte Fr. Krappmann keine Kraft mehr, sich über die Verwüstungen in ihrem Klassenzimmers aufzuregen, denn sie sagte einfach nur: „Mein Nasenbluten beruhigt sich nicht, Kinder. Hinfort mit euch. Ihr könnt alle nach Hause gehen jetzt. Grace, schreiben Sie die Gleichung ab, ich will die Lösung nächste Woche sehen, okay? Okay! Ihr Rabauken!“
Unsere Schwestern Sina und Grace aber nutzten den Rest des Tages für Sina´s allererste Maniküre.
Sina war nämlich jetzt wer.
H.Z.
12/2017