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Bishop
Ein neuer Morgen in der Stadt ohne Namen. Chili kennt den Geschmack von Abgasen, Lösungsmitteldämpfen und heißem Kunststoff, der um diese Zeit in der Luft liegt. Ein Hauch von Ozean, als sie am Fischmarkt vorbeifährt. Warme Abluft aus einem U-Bahn-Schacht.
Es gibt Fahrer, die nie ohne Maske auf Tour gehen. Wierzbowski hat ihr letzten Monat für eine Woche seine geliehen, eine schwarze Neoterik mit aufgemalten Haifischzähnen, aber Chili ist nicht damit klargekommen. Zuviel Widerstand beim Atmen, dazu das widerliche Aroma des Filterschaums – nach einem Tag damit auf Tour lag die Maske für den Rest der Woche in Chilis Spind.
Chili fließt mit dem restlichen Morgenverkehr eine Anhöhe hinauf. Ihre Oberschenkel brennen noch von den Anstrengungen des Vortags, als ihr Puls langsam ansteigt und die Wärme in ihren Körper zurückkehrt. Auf der Kuppe angekommen strahlt ihr das erste Licht des Tages ins Gesicht und wird von den Gläsern ihrer Schutzbrille zurückgeworfen. Vor ihr gräbt die Straße eine sechsspurige Schlucht durch die Stadt, genau auf die Morgensonne zu, die den Smog über dem Häusermeer erstrahlen lässt wie geschmolzenes Kupfer.
Eine hoffnungslose Romantikerin hatte Wanda sie genannt, ihre ewig zynische Mitbewohnerin aus dem Container. Chili muss grinsen, hier auf der Anhöhe, die Stadt unter sich wie ein Feldherr das Schlachtfeld. Natürlich hatte Wanda Recht, auf ihre Art hat Wanda immer Recht. „Bin ich eben 'ne Romantikerin!“ – zu aufregend ist dieser Anblick, als dass er sich je abnützen könnte.
Der höchste Punkt ist überwunden. Chili tritt nochmals kräftig in die Pedale, das Fahrrad beschleunigt, und beginnt, nach unten zu stürzen. Erst als sie so schnell ist, wie die Autos neben ihr, betätigt Chili vorsichtig die Wirbelstrombremse um die Talfahrt kontrolliert zu halten. Zwischen ihren Beinen, im Verbundrahmen des Fahrrads, laden sich die Akkus mit der rückgewonnenen Bremsenergie wieder auf.
Ihre roten Haare flattern noch immer im Fahrtwind, doch der kurze Moment der Schwerelosigkeit ist vorbei – der PDA am Träger der Kuriertasche meldet sich.
„Chili, Nummer sechsundzwanzig!“ seitlich in das Mikrofon gebrüllt.
„Sechsundzwanzig auf dem Weg in den vierten Sektor?“ Was da aus dem Ohrhörer im rechten Ohr kommt, ist keine Frage, vielmehr eine Feststellung. Trip weiß immer, wo sich seine Fahrer befinden.
„Was gibt's, Trip?“ – „Newton Ecke Vierzehnte bei Dr. Clement – eine Lieferung an Chugai Pharmaceutical im vierten Sektor.“
„Wir fahren für Chugai?“ die Verwunderung in Chilis Stimme ist echt.
„Auftraggeber ist TransMed. Ihr Wagen im Vierten hat eine Panne, und sie haben sonst niemand in der Nähe.“
TransMed also – Kurierfahrten für den Großteil der Pharma-Unternehmen in der Gegend und Rettungsdienst für die Krankenhäuser, mit denen es Verträge gibt. Chili hatte das erste und bisher einzige mal bei Bishops Unfall, letztes Jahr, mit TransMed zu tun. Mit zitternden Beinen war sie durch den Kreis der Schaulustigen gebrochen, fast über Bishops Fahrrad gefallen, vorwärtsgestolpert, bis jemand sie zurückhielt. Ob man ihn noch retten könne, war Chilis erste Frage gewesen. „Sein Herz auf jeden Fall.“ hatte der Notarzt geantwortet, bevor sich die Heckklappe des Krankenwagens hinter Bishops leblosen Körper schloss. Chili hatte Bishop nie wieder gesehen. Der Krankenwagen, der ihn wegbrachte, war von TransMed gewesen.
„Was ist jetzt, nimmst du den Auftrag?“ holt Trips Stimme sie aus ihren Erinnerungen.
„Natürlich, Trip!“ – eine reine Formsache – Chili lehnt nie einen Auftrag ab.
Für den PDA gäbe es Navigationshilfen, die ihr den kürzesten Weg zur Newton Street in Sekundenbruchteilen zeigen könnten, Straßensperren und Staus berücksichtigt. Doch mit zwei Jahren Kurierpraxis hat Chili große Teile der umliegenden Sektoren im Kopf und kommt mit einer herkömmlichen Karte als Gedächtnisstütze aus – weitaus billiger, als die Navigationsdaten, die sich der PDA per Uplink von einem der antennenbewehrten Luftschiffe über der Stadt holen würde.
Richtung Newton – nach rechts von der großen Straße runter. Eine langgezogene Linkskurve entlang, unter der sechsspurigen Straße durch – die Beleuchtung von Chilis Rad geht in der Unterführung von selbst wieder an – und raus und auf die Neunundzwanzigste. Die Ampel 50 Meter voraus schaltet auf Rot. Von rechts kommt eine einzelne Limousine auf die Kreuzung zu – eine von der teuren Sorte. Chili verlangsamt nicht, fährt mit konstanten 20 Meilen auf die Kreuzung zu. „Bishop-Manöver“ hat irgendein Arschloch diese Technik letztes Jahr getauft.
Bremsen greifen innerhalb von Millisekunden, als das Aufprallschutzsystem der Limousine das Fahrrad erfasst, der Fahrer wird unsanft in den Sicherheitsgurt gedrückt. Der Wagen kommt knapp einen Meter vor Chili zum Stillstand. Mit hochrotem Kopf hupt der Fahrer und zetert unhörbar hinter der getönten Lexanverglasung der Limousine. Chili macht sich die Mühe, und grinst zurück in ein immer kleiner werdendes Gesicht, in dem sich ein riesiger Mund geräuschlos öffnet und schließt – fast wie bei einem richtig fetten Goldfisch denkt Chili noch, dann sind ihre Gedanken schon wieder woanders.
Keine zehn Minuten später kommt sie in der Newton Street Ecke Vierzehnte an, sperrt das Fahrrad an eine Straßenlaterne und kontrolliert die Adresse auf Trips Memo am PDA. „Tropenmedizinisches Institut Prof. Clement“ auf der Messingtafel über dem schwarzen Auge der Türkamera, „Tropenmedizinisches Institut Prof. Clement“ auch von der körperlosen Stimme aus der Gegensprechanlage.
„Kurierdienst“ – Chili hält ihre ID vor das Auge. Zweimaliges Knacken, als die Eingangstür entriegelt. Aufzug in das vierte Stockwerk, einer von tausenden, oder Millionen, hier in der Stadt ohne Namen.
„Hallo Doc!“ – Die junge Dame am Empfang blickt böse über teuer aussehende Brillengläser hinweg Richtung Chili – sie weiß, dass das Mädchen mit der neongelben Kuriertasche sie nicht wirklich für eine Ärztin hält.
„Ich bin hier wegen der TransMed – Lieferung.“ fügt Chili hinzu, bevor die Stille unangenehm wird.
Für eine Zehntelsekunde umspielt ein schnippisches Lächeln die Mundwinkel der Empfangsdame, kurz genug, dass Chili sich nicht sicher sein kann, ob sie sich getäuscht hat, ob die geschminkten Lippen hinter der Theke nicht doch die ganze Zeit über ihren reservierten Ausdruck beibehalten haben.
„Es tut mir leid, ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“
„Der Kurier von TransMed – er hatte eine Panne. Ich soll statt ihm eine Lieferung zu Chugai Pharma bringen.“
„Das muss ein Missverständnis sein.“ nochmal dieser schnippische Gesichtsausdruck, diesmal ist Chili sich sicher, „Von TransMed war eben schon jemand hier für Chugai, aber eine Panne gab es keine.“
„Einen schönen Tag noch!“ ruft ihr die Empfangsdame hinterher. „Schlampe“ zischt Chili zwischen zusammengepressten Lippen, leise genug um nicht dem Ruf ihres Kurierdienstes zu schaden.
Auf dem Weg nach unten ruft sie Trip an: „Toter Auftrag bei Clement in der Newton, ich mach weiter mit dem Rest.“
„Okay, verstanden. Sorry wegen dem Umweg!“ die Antwort im rechten Ohr.
Wieder auf das Fahrrad, und auf Richtung vierter Sektor. Vorbei an spiegelverglasten Bürogebäuden, über die betonierte Fläche des hundertdreißigsten Parks, und eintauchen in den inzwischen angeschwollenen Morgenverkehr. Wie immer um diese Zeit sind die Straßen hoffnungslos überlastet, und der Geruch von heißen Abgasen überdeckt alles andere. Aus der Thermik der engen Straßenschlucht fallen Rußflocken wie Schnee und setzen sich in Chilis Haar. Kein großer Unterschied zu echtem Schnee, und genauso schwer wieder aus Kleidung und Haaren zu bekommen.
Chili fährt kurz an den Straßenrand – ein kurzer Kontrollblick auf die Karte bestätigt ihr, dass sie die nächste Querstraße rechts rein muss.
Blaulicht in einiger Entfernung lässt Chili fast wieder umkehren. Was sie davon abhält, ist ein quergestellter TransMed-Wagen die Front eingedrückt und die Windschutzscheibe geborsten. Daneben, alleingelassen von den beiden Streifenpolizisten im Hintergrund, steht ein pickelgesichtiger Junge in TransMed-Uniform, bleich und sichtlich desorientiert. Wird sich nicht gut auf sein Arbeitszeugnis auswirken, dieser Unfall.
Chili wirft einen Blick nach oben, um sicherzustellen, dass keines der Luftschiffe mit seinen tausend Augen in Sichtweite hängt. Flächendeckende Abdeckung innerhalb von drei Jahren hatte der Stadtrat versprochen, aber noch ist es nicht so weit, noch kann man das eine oder andere auch ungesehen erledigen.
„Hi, ich bin hier, wegen der Lieferung an Chugai!“ probiert Chili auf gut Glück.
Die Miene des TransMed-Kuriers bleibt unverändert apathisch: „Das Paket sollte schon vor einer halben Stunde angekommen sein…“
„Schon okay, ich erledige das!“ fällt Chili ihm ins Wort. „Wo ist das Paket?“
Chili verschwindet, das unerwartet schwere Päckchen in der Kuriertasche, vom Unfallort, ohne dass einer der Polizisten Notiz von ihr nimmt. Sie lässt den verwirrten TransMed-Jungen zurück, bevor diesem auch nur der Gedanke daran kommt, die Kurierin nach einer Übernahmebestätigung zu fragen.
Chili ruft Trip an, dass sie heute früher Schluss macht, und beginnt, die restlichen Lieferungen auszufahren. Die ganze Zeit über glaubt sie, das Chugai-Paket durch den Kunststoff der Kuriertasche hindurch zu spüren. Wahrscheinlich befindet sich darin einer dieser Klimakonserver, die mit einer geringen Menge Stickstoff alles mögliche für Stunden nahe am absoluten Nullpunkt halten. Bestimmt sogar. TransMed kutschiert ja exklusive alle möglichen Arten von Biomasse durch die unwissende Stadt.
„Sein Herz auf jeden Fall!“ hatte der Notarzt gesagt, damals, bevor der Regen den dunklen Fleck aus dem Asphalt gewaschen hat.
Bishops Herz. Sie fühlt es schlagen, durch den Klimakonserver hindurch, wie es an den Trägern der Kuriertasche zerrt, ihren Brustkorb in Schwingung versetzt. Ihr eigenes Herz nimmt den Rhythmus auf, schlägt mit Bishops Herz vereint den Takt, den ihre Beine an das Fahrrad weitergeben.
Ein freier Nachmittag liegt vor ihr, endlos, gleich dem Ozean, der sich vor ihr ausbreitet. Das Fahrrad liegt hinter ihr, unabgesperrt, auf Pier sieben des alten Hafens. Unten schlagen kleine Wellen im Rhythmus von Bishops Herz ans Ufer. Der Ölfilm auf dem Wasser spiegelt irisierend den Himmel wieder, der von der Nachmittagssonne in flüssiges Platin getaucht wird.
Chili spürt die Nähe von Bishop fast körperlich, als sie das pulsierende Paket aus der Kuriertasche nimmt. Eine Seebestattung – auf eine traurige Art schön, so von dieser Welt zu gehen.
Mit aller Kraft schleudert sie das Paket auf den Horizont zu. Tränen stehen ihr in den Augen, fast schuldbewusst schluchzt sie kurz. „Bin ich eben 'ne Romantikerin!“ – Wanda behält wie immer Recht.