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Bis sich was ändert ...
Zwischen leeren Chipstüten, getragenen Unterhosen, Synthesizern und Glockenspielen, zwischen Schallplatten und Notenständern, an meinem Klavier saß ich klimpernd.
Anstelle von Noten verwendete ich das Plattencover: Sie in lässiger Pose vor einem Abgrund, übersät mit Fettflecken und Paprikapulver. Ihre Songs handelten von Nichts, Planeten und Sehnsucht, und auf dem Bild trug sie ein T-Shirt mit Sternennebel, unter dem sich zwei Wölbungen abzeichneten. Es reichte, um sie zur großen Liebe meines Lebens zu erklären.
Weniger romantisch veranlagt war meine kleine Schwester. Mit dreizehn hatten sie und ihr Tennisschläger sich bereits einige Pokale und Medaillen erknüppelt, ihre milchgesichtigen Gegner mit wohl angeschnitten Bällen alt aussehen gelassen. Das einzig Sinnliche an ihr war ihre Leidenschaft für Schmetterlinge, die sie im Durchbohren und lepidopterologischen Beschriften der fangfrischen Falter, dem Aufspreizen ihrer schillernden Flügel befriedigte.
Einmal saßen wir zusammen in der Küche und spielten Schach. Im Gegensatz zu ihr verstand ich nicht viel Sizilianisch, Königsindisch oder Damengambit. Ich wollte einfach Zeit mit ihr verbringen, Chips essen und warten, bis sich meine Seite des Feldes leerte.
„Heute Nacht war Mama wieder mit einem Stift am Fenster“, sagte ich und zog e4.
„Naja, sie hat einfach ein Problem mit positiven Lebensveränderungen“, antwortete Enya ruhig und schob ihren Bauern nach c6.
Ich schaute sie über das Brett hinweg an. „Was hat das denn bitte damit zu tun?“
„Sie hat Lungenkrebs, Jon, schon vergessen? – und spiel bitte nicht wieder so schneckenhaft, ja?“
Langsam wanderte meine Hand in die Chipstüte. „Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, sagte ich und rückte einen Bauern auf d4, „sie kann doch immernoch etwas ändern. Mit dem Rauchen hat sie doch auch schon aufgehört und ...“
„ ... und schlafwandelt seitdem jede zweite Nacht mit einem Stift in der Hand, Jon“, führte sie meinen Satz fort und zog nach d5, „manchmal wünschte ich wirklich, ich könnte so naiv sein wie du ...“ Ich zuckte mit den Schultern und setzte meinen Springer auf c3, mürrisch schlug sie auf e4. „Du hast es immer noch nicht kapiert, oder?“
„Nein.“
„Ach, Jon! Wenn Birgit aufhört mit dem Rauchen und dann mit einem schmalen zigarettenförmigen Gegenstand am Fenster steht ...“
„Hör auf Mama Birgit zu nennen, okay?“, schnauzte ich sie an. „Dann mach du gefälligst deinen Zug“, blaffte sie zurück.
Schweigend spielten wir:
Ich, Springer e4. Springer f6. Dame e2. Springer d7. Springer d6. Pause –
Enya riss das Brett vom Tisch und rannte in ihr Zimmer.
Meine Mutter kam nie früh nach Hause. Sie sagte immer, dass „der Laden“ ohne sie nicht laufe. Niemand jedoch wusste, weshalb sie "den Laden" überhaupt am Laufen hielt. Leidenschaft fürs Versicherungswesen: Nicht vorhanden. Zu jeder Gelegenheit sprach sie nur davon, lieber Biologin geworden zu sein. Damals in der Schule, der Nachwuchspreis für Naturwissenschaften, sie: nominiert. Doch dann der Rektor, einfach Hirnschlag, und die Preisverleihung? - verschoben. „Es war das Menetekel meiner beschissenen Jugend. Was hätte ich anderes machen sollen, als den Preis später abzulehnen? Die hatten mich doch warten lassen!“ - Das war ihre Meinung, doch im Gegensatz zu Mama schienen normale Leute zu wissen, worin ihr eigentliches Problem bestand: Nämlich darin, dass Frau Sanders unter keinen Umständen glücklich sein wollte.
Ich rückte ihr Plattencover auf einem Notenständer zurecht, dann spielte ich mit meiner Orgel einen manierierten Walzer. Mit schrägen Vocals erinnerte es ein bisschen an Devo - worauf ich natürlich stolz war. Ich hatte ihr viele Songs geschrieben. Über Sehnsucht, Planeten und Nichts. Als ich eine Pause einlegte, hörte ich im Flur das Rauschen der Dusche. Mein Vater war nach Hause gekommen. Er war Lehrer und ein sonderbarer Fall. Überall in der Wohnung hatte er Pornohefte versteckt und verbrachte, ein leidenschaftlicher Onanist, oft Stunden im Bad. Scheinbar schien nur ich es zu wissen. Wahrscheinlich brauchte es männliches Einfühlungsvermögen. Ganz früher einmal, hieß es, habe er Charisma besessen.
Ich kritzelte ein paar Noten und Textzeilen auf ein Papier und legte es auf einen Zettelhaufen. Dann ging ich in die Speisekammer, um Chips zu holen. Meine Mutter kaufte sie entgegen der Empfehlung von Herrn Dr. Fischer, der vor Arterienverkalkung und Herzinfarkt warnte, würde ich mich weiterhin ausschließlich von frittierten Kartoffelprodukten ernähren.
Ich riss gerade eine zweite Packung auf, als meine Mutter mit grünem Stirnband und Tennismontur an mir vorbeihuschte. Seit einem Vorfall in der Schulzeit hatte sie dem Sport für immer den Rücken gekehrt. „Ich gehe Joggen“, beantwortete sie meine nicht gestellte Frage. „Mit einem Tennisrock?“, wollte ich wissen, doch darauf antwortete sie nicht. „Dr. Fischer meint, ich soll es versuchen - also versuch ich’s. Keine Zeit, Jon!“, sagte sie und war aus der Tür.
Chips essend schlurfte ich ins Zimmer meiner Schwester, die auf ihrem Bett saß und in einem Kompendium über die Lagerung und Konservierung von Schmetterlingseiern blätterte. Als ich ihr erzählte, dass unsere Mutter Sport machte, legte sie das Buch beiseite und schaute mich fragend an.
Ziemlich genau ein halbes Jahr, nachdem meine Mutter Joggen gewesen war, ging mein Flug nach Neuseeland. Die Lokalpresse berichtete unlängst von anderen Themen, von Aliens, die Kontakt mit der NASA aufgenommen hatten, einem Kapitän, der den Lesern die letzten Geheimnisse der Tintenfischverarbeitung nahezubringen suchte und natürlich von lukrativen Heuschreckenplagen in Uganda. Indes hatten die Bauarbeiten zur Wiedererrichtung der Brücke begonnen, die zusammengestürzt war, als meine Mutter in Tennisbekleidung und grünem Stirnband darüberlief.
Kurz nach ihrem Tod begannen die Dinge sich zu ändern: Als ich den Hausmüll rausbrachte, ragte mir eine Brustwarze aus der Papiertonne entgegen und ich fand einen gewaltigen Haufen Pornokonfetti - Das Charisma meines Vaters war zurückgekehrt. Warum, wusste ich nicht genau, aber auch in mir hatte der Tod meiner Mutter den Wunsch nach Veränderung ausgelöst. Mit einem Jahresvorrat an Chipstüten baute ich einen Scheiterhaufen im Garten und ließ meine fettige Vergangenheit in grünlichen Flammen aufleuchten. Dann nahm ich ein Demotape auf und schickte es nach Oakland, übers Meer, zum Plattenlabel meiner großen Liebe. Nach ein paar Monaten bekam ich einen Brief und der war ein Flugticket.
Wie es aussah, sollte sich also doch noch alles zum Guten wenden - Nur für meine kleine Schwester nicht: Im Matchball der Tennis-Jugendmeisterschaften verfehlte sie den entscheidenden Ball um eine Stirnbandbreite. Was hätte sie also anderes machen sollen, als ihren Tennisschläger hinzuschmeißen und den Platz zu räumen? Den weißen Rock und ihr grünes Stirnband übrigens hat sie seitdem nicht mehr angerührt.