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Bis ich schlafe
Klick. Der Minutenzeiger springt weiter. 19:47. Wie gebannt starre ich die Uhr an. Wieder klick. Ich atme aus. Die Zeit dehnt sich auf zähe, unerträgliche Weise. Ich versuche, das Gewicht meines schlaffen Körpers auf dem Krankenhausbett zu verlagern und ihn aus der Position zu rücken, in der ich schon seit Stunden verharre. So verbringe ich die letzten Stunden des Tages: Zur Uhr sehen, mich auf dem Bett herumwinden und über meine Schwäche fluchen, wieder zur Uhr blicken, das Sonnenlicht beobachten wie es langsam verblasst, abwarten. Denn sie kommt nachts.
Wenn ich schlafe, flüstert sie in mein Ohr. Bisher jede Nacht, seit es passiert ist. Nur tagsüber kann ich atmen, wenn die Ärzte ihre Tests machen, sie meinen noch immer steifen Körper langsam wieder zur Bewegung zwingen und ich immer weiter heile. Danach liege ich in der Stille, allein, gebrochen, taub, abwägend, bis es wieder Nacht wird. Auch sie wartet währenddessen – das weiß ich genau. Geduldig und lauernd. Bis ich wieder schlafe.
Es würde nicht mehr lange dauern, haben die Ärzte gesagt, bis sie mich entlassen und ich ein neues Leben beginnen könne. Als wäre das eine Option. Denn sie lässt mich nicht.
Wieder linse ich hinunter auf das freie Stück meiner Hand, das nicht mit Verbänden umhüllt wurde. Die frisch nachwachsende Haut zieht eine glänzende Schicht über die verwundeten Stellen und steht in irritierendem Kontrast zu dem Rest meiner grob wirkenden Männerhand.
Mit gemischten Gefühlen sitze ich nun jede einzelne Stunde ab. Angst vor dem, was mich wohl diesmal erwartet, brodelt in mir und lässt mich immer zittriger werden, verworren mit Vorfreude, dass ich sie endlich wiedersehen kann. Jeder Blick auf die Uhr frustriert mich mehr, bis ich mit all meiner zurückgewonnenen Kraft den erstbesten Gegenstand von dem kleinen Tisch neben mir dagegen werfe und ihr stetiges Ticken mit einem zufriedenstellenden Knall endet. Doch während ich einfach nur daliege, in diesem sterilen Raum, pocht selbst die Stille in meinen Ohren immer lauter.
Wo sich jede Sekunde vorher unendlich gezogen hat, stelle ich nun erschrocken fest, wie spät es geworden ist, als sich die automatischen Rollladen schlagartig aus ihrer Verankerung lösen und den Raum in die Dunkelheit der Nacht hüllen. Die Tür öffnet sich einen Spalt, eine Schwester wünscht mir erschöpft einen angenehmen Schlaf und die Beleuchtung wechselt in den Nachtmodus. Das diffuse Licht erhellt nur die Geräte, deren Schläuche unter meiner Bettdecke verschwinden. Vom Bett erkenne ich lediglich schemenhafte Umrisse. Also liege ich ganz still da, begleitet von meinem Atem, bis meine Lider immer schwerer werden und ich nach einem letzten Wimpernschlag einschlafe. Doch ist der eine Moment gekommen und die verriegelte Tür zu meinen Träumen öffnet sich, hinter der sie bereits auf mich wartet, zweifle ich jedes Mal erneut, ob ich sie nicht noch ein bisschen länger verschließen sollte.
~
Auch in dem Traum liege ich noch im Krankenhausbett, der Atem ruhig, doch den unbeweglichen Körper angespannt. Abwartend. Fast denke ich, dass sie heute nicht kommen wird, doch weiß nicht, ob mich das bedrücken oder erleichtern soll. Es vergeht immer mehr Zeit. Worauf wartet sie? Es scheint wohl die erste Nacht ohne sie zu werden und langsam drifte ich tiefer ab zu anderen Träumen. Doch schlagartig komme ich zurück und halte den Atem an, denn es beginnt.
Erst ist es mehr wie ein Gefühl, dass da noch jemand anders ist, den ich nicht sehen kann. Aber ich spüre ihre Anwesenheit. Dann ein stetiges Ein- und Ausatmen, langsam, bedächtig, ganz nah an meinem Ohr. Als wolle sie nicht zu hastig erscheinen, um mich nicht aufzuwecken. In dem Traum suche ich mit den Augen den Raum ab, doch kann nichts erkennen. Mein Blick bleibt an der Wanduhr hängen. Sie ist kaputt und ich runzle die Stirn. Ein Ton mischt sich unter den Atem, schwillt an zu einem Wort, das ich nicht verstehen kann. Doch es ist mein Name, den sie flüstert. Lockend, beinahe schmeichelnd wispert sie ihn mir ins Ohr. Sie fühlt sich so nah an, so vertraut, und ich will dahinschmelzen, ganz nah bei ihr liegen, bis sich unser beider Atem vermischt. Aber ich zwinge mich, es nicht zu tun, denn ich weiß, weshalb sie hier ist jede Nacht. Sie manipuliert mich. Sie will, dass ich nachgebe, ihr verfalle.
Und ich büße für das, was ich ihr angetan habe.
„Ich vermisse dich“, haucht sie plötzlich in mein Ohr und ich zucke zusammen. Beinahe meine ich die Wärme zu spüren, die mir dabei über die Haut fährt.
„Ich bin ganz allein. Ist dir das egal?“
Mir läuft ein Schauer über den Rücken und ich balle meine Hände zu Fäusten, um sie nicht in die Richtung ihrer Stimme zu strecken.
„Ich weiß“, antworte ich bestimmt, doch fahre sanft fort. „Wie könnte es mir egal sein“, sage ich flüsternd, den Blick starr zur Decke gerichtet. Es ist nur ein Traum, sage ich mir jede Nacht, doch es fällt mir immer schwerer, daran zu glauben. Es fühlt sich so echt an.
„Wirklich?“, fragt sie unschuldig.
Ich ahne, worauf sie hinauswill und konzentriere mich statt einer Antwort auf ihren sanften Atem. Er streichelt liebevoll über meine Lippen und droht mich einzulullen. Als sie merkt, dass ich nicht antworte, spricht sie weiter. Sagt genau die Worte, die mir ein Messer in mein Herz rammen sollen.
„Liebst du mich noch?“
Ich schließe die Augen und presse die Lider so fest aufeinander, dass ich tanzende, bunte Lichter sehe. Fast glaube ich, blind zu werden, so fest vibrieren sie gegen meine Augen. Aber es hilft nichts, ich kann die Antwort einfach nicht zurückhalten.
„Du weißt, wie sehr ich dich geliebt habe und immer noch mit jeder verdammten Faser liebe.“ Ich versuche zu schlucken, doch mein Mund ist staubtrocken. „Warum fragst du mich das jedes verfluchte Mal, obwohl du es weißt …“
Die Pause, die folgt, treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Jedes Mal stelle ich diese Frage, ich kann es einfach nicht aufhalten, und jedes Mal kenne ich ihre Antwort, denn wegen ihr fürchte ich die Nächte. In meinen Träumen kann ich sie wieder bei mir haben, ihre Stimme endlich wieder hören. Aber ich spüre ihren Hass. Wie sie wartet, bis ich träume und verwundbar bin, schwach werde. Sie weiß, ich liebe sie noch nach all dem, was geschehen ist. Trotz dem, was ich getan habe. Weiß genau, dass ich ihr nicht ewig widerstehen kann und sie mich irgendwann zu packen kriegt.
Ein Summen setzt ein. Es ist ganz zart und zerbrechlich und umschmeichelt mich. Ich atme ihre Stimme ein, obwohl sich mein Körper zusammenzieht, denn ich weiß, was folgen wird.
Als sie antwortet, ziehen ihre Worte einen Schraubstock um mein wild pochendes Herz.
„Weil du mich hast sterben lassen“, singt sie. Ein kindliches Kichern mischt sich unter ihre Stimme. Es reißt meine Seele in Fetzen.
„Hast mich zurückgelassen, allein. Du hast mich ersticken, brennen lassen.“
Ein Schluchzen quillt aus meinem Mund. In dem Traum bin ihr ausgeliefert. Unbeweglich, meine Gliedmaßen wie Blei, ich kann mich nicht wehren.
„Bitte, denk das nicht von mir. Wie kannst du das sagen …“
„Du bist schuld“, wispert sie in mein Ohr.
Heißer Schweiß brennt auf meiner kalten Haut.
„Ich konnte dich nicht retten“, krächze ich mit rauer Stimme.
Doch sie ist erbarmungslos. Ihre Stimme wird drängender, ungeduldiger.
„Du bist schuld.“
Die tanzenden Lichter hinter meinen geschlossenen Lidern weichen etwas anderem. Wieder sehe ich die Flammen vor mir. Ich renne die Treppe hoch, dahin, wo der Rauch am dichtesten ist. Ich reiße die Tür auf und eine Mauer aus unerträglicher Hitze und Qualm schießt mir entgegen. Schützend lege ich meinen Arm über die Augen, versuche, irgendetwas zu erkennen. Kann endlich schemenhaft eine kauernde Gestalt ausmachen und mache einen Schritt vorwärts. Doch der Rauch ist zu dicht. Die Hitze zerreißt meine Lungen. Sehe ihr Gesicht, vor Angst verzerrt, sie schreit nach mir. Schreit durch die brüllenden Flammen meinen Namen.
Etwas in mir bricht. „Ich weiß“, würge ich wimmernd hervor.
„Aber du bedauerst nicht“, spricht sie eindringlich weiter. Ihre Stimme wird lauter und mit ihr das stetige Summen, das ganz tief in meinem Schädel pocht. Sie zeigt mir die Bilder immer wieder, zwingt mich, die Szene weiter mitanzusehen.
Es ist, als stünde ich wieder in dem Haus. In unserem Heim, in dem wir eine Familie gründen wollten. Wo wir glücklich sein würden. Wie es brennt.
„Ich bedauere, doch ich bedauere wirklich. Es tut mir so leid“, weine ich verzweifelt. Die Flammen wüten noch immer vor meinen Augen, schreien mich anklagend an, doch ich kann nicht wegsehen.
„Nein!! Du bereust nicht!“, wiederholt sie. Das Kreischen ihrer Stimme schmerzt in meinen Ohren. Mein Körper liegt regungslos da, während ich mich innerlich winde, in meiner Vorstellung verkrampfe, bis ich zur Unkenntlichkeit entstellt bin.
„Ich konnte dich nicht retten …“, presse ich hervor. Es ist nur ein Traum, wiederhole ich wie ein stetiges Mantra, doch es dringt nicht mehr bis in meinen Verstand.
Ich sehe ihr Gesicht vor mir, wie es sich in Entsetzen wandelt, als ich mich für mein eigenes Leben entscheide. Und sie zurücklasse.
„DU BEREUST NICHT!“, schreit sie und der Druck in meinem Kopf bringt ihn beinahe zum Platzen. Ich versuche, mich zu wehren, gegen die Schuld, die mich fast zerbersten lässt. Schreie gegen den Schmerz an, bis es schließlich aus mir herausbricht.
„DOCH ICH BEREUE!! ICH BEREUE ES JEDEN VERDAMMTEN TAG!!“
Ich reiße die Augen auf, das Gesicht zu einer rotzverschmierten Maske verzerrt und schreie in den menschenleeren Raum.
Stille. Es ist nur ein Traum.
Der einzige Klang ist das Sirren der Geräte, die an mich gebunden sind. An den Rest meines Körpers, den ich aus den Flammen retten konnte. Es ist nur ein Traum, sage ich mir wieder.
Aber ich höre sie nicht mehr. Ich spüre sie nicht mehr. Wo ist sie … Ich bekomme Panik. Bitte, lass sie nicht weg sein, bitte, ich kann sie nicht verlieren, wimmere ich vor mich hin. Ich brauche dich. Vor blinder Wut über meinen bewegungsunfähigen Körper winde ich mich frustriert.
Plötzlich ein Flüstern und ich höre schlagartig auf. Es ist so leise, dass ich es nicht verstehen kann. Ich lausche. Dann erkenne ich die Worte. Ein einziger Satz.
„Dann komm zu mir.“
Das Gesicht vor Tränen und Rotz verschmiert, sickern die Worte in meinen Verstand.
„Danke“, keuche ich. „Danke, ich liebe dich so sehr“, sprudelt es tief aus mir hervor. Für einen Moment liege ich still da und lasse die Tränen ungehindert über mein Gesicht laufen. Das Gefühl der Reue zieht meine Seele immer mehr zusammen.
„Aber wie soll ich das machen, ich verstehe nicht …“
Finger streicheln mir langsam über die Wange, runter zu meinem Arm und greifen nach meiner Hand. Das Gefühl ihrer tröstenden Berührung lässt mich erschaudern und kittet meine zerrissene Seele. Die Tränen laufen nun stetig hinab durch die vor Erschöpfung geschlossenen Lider. Ich bereue … In weiter Ferne spüre ich, wie sie etwas in meine offene Handfläche legt und augenblicklich beginnt ein Schmerz sich von meinen Fingerspitzen auszubreiten. Langsam, aber gezielt frisst er sich seinen Weg qualvoll hinauf bis zur Brust. Ein nicht enden wollender Strom aus unerträglicher Pein richtet über mich, bis ich stöhne vor Hass und Wut auf mich selbst. So bekomme ich nun endlich, was ich verdiene, denke ich im Delirium, als ich zerfressen werde von züngelnden Qualen, sich mein Leid nun in meinem Körper verbeißt und ihn sich unkontrolliert schütteln lässt. Doch es ist richtig, er ist gut, dieser unerträgliche Schmerz, den ich nicht anders verdient habe. In weiter Ferne bemerke ich, wie der tröstende Druck ihrer Finger plötzlich nachlässt und ich hebe durch das stechende Orange meiner inneren Hölle die Augenlider. Sehe ein letztes Mal ihr wunderschönes Gesicht, für immer in den Verstand eingebrannt. Strecke mit all der verbliebenen Kraft die Fingerspitzen in ihre Richtung, doch bewege sie keinen Millimeter. Die Schwaden der Reue lassen mich husten, drängen sich unnachgiebig in meinen Rachen und das Atmen fällt mir schwerer mit jeder Sekunde. Keuchend verlangen meine Lungen nach Luft, verkrampfen, doch der pechschwarze Rauch, der in meiner eigens erschaffenen Finsternis wabert, dringt tief ein. Ein letzter Moment bevor ich das Bewusstsein und mich in der Wand aus Schwärze verliere – ihr Lächeln, wie es sich für immer von mir entfernt.
~
„Danke sehr.“ Die Nachtschwester lächelt der jungen Frau im Zimmer 210 zu und stellt das Wasserglas auf dem schmalen Tisch neben dem Bett ab. Auf dem Weg zurück zum Empfangstresen wirft sie erneut einen prüfenden Blick auf den Pieper an ihrem Hosenbund, doch offenbar hat kein weiterer Patient ihre Hilfe angefordert. Mit einem Seufzer lässt sie sich auf den Bürostuhl hinter dem Tresen fallen und linst zu dem Papierstapel vor sich. Ihre Hand greift zu dem Stift in ihrem Kittel, als ihr einfällt, dass sie einen Flur bei ihrem Kontrollgang vergessen hat. Erneut steht sie auf und geht zurück.
Den Gang ablaufend hält sie plötzlich in der Bewegung inne und rümpft irritiert die Nase. Dieser Gestank, wie … verbrannte Haare! Blitzschnell reißt sie das Notfalltelefon aus ihrer Tasche und ans Ohr. Nach einem hastig in den Hörer gebellten Satz rennt sie dem Geruch entgegen. Die Gummisohlen ihrer Schuhe schlittern quietschend über den Boden und bleiben vor einer der Türen stehen. Nach einer abwägenden Sekunde reißt die Schwester die Klinke herunter und stürmt in den Raum. Der Rauch und der Geruch versengter Haut lassen sie würgen, als sie sich in der diffusen Beleuchtung und dem dunklen Qualm zurechtzufinden versucht und mit einem Klick die Rollladen öffnet. Mit einem Stottern setzen sie sich in Bewegung und die Schwester reißt das Fenster auf. Ein rascher Blick zur Sprinkleranlage – sie war ausgeschaltet worden. Als sich der Dunst lichtet, entfährt ihr ein entsetztes Keuchen und sie bewegt sich intuitiv auf den regungslosen Mann zu. Die bereits verheilenden Wunden sind erneut aufgerissen, die Verbände pechschwarz verglüht. Eine Brandspur zieht sich über seine Brust und den Arm hinab. Mit einem Blick erkennt sie ein abgebranntes Streichholz in der offenen Handfläche. Sein Zeigefinger deutet auf etwas hinter ihr und instinktiv dreht sie sich in dieselbe Richtung. Unter Schock sinkt sie zu Boden, die Hand wimmernd vor den Mund gelegt, das grauenvolle Ding anstarrend, welches dort in der Ecke hockt. Die bis auf das Fleisch verbrannte Frau wiegt sich langsam vor und zurück. Ihre Augen starren mit einem irren Lächeln in das fassungslose Gesicht der Schwester. Einen Satz murmelnd, sie wiederholt ihn immer und immer wieder.
„Du hast mich brennen lassen.“