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Bis es zu spät ist
Ein kurzer Blick nach oben genügte ihr, um ungefähr zu wissen wie viele Stiegen es noch waren. Seufzend ging sie weiter. In dem Treppenhaus roch es nach Kotze. Nur stoßartig atmete sie ein um möglichst wenig von der grauenerregenden Luft ein zu atmen.
Wie lange hatte sie das schon geplant? Sicher eine Ewigkeit. Sie hatte es bis hier her geschafft und nun würde sie es auch zu Ende bringen. Sie würde keinen Rückzieher mehr machen. Das hatte sie schon oft genug gemacht.
Ungefähr bei der Hälfte angelangt, sah sie sein Gesicht vor sich. Wie er sie abschätzend ansah, als ob sie etwas Minderwertiges wäre.
Er.
Er war der Grund weswegen sie das Ganze machte. Seinetwegen quälte sie sich jetzt diese elendslange Treppe hoch. Vielleicht würde es ihm später zu denken geben. Nein, es würde ihm sicher zu denken geben.
Dann kamen die Erinnerungen wieder hoch. Erinnerung welche sie fertig machten, sie gleichzeitig aber auch anspornten diese Treppe so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Wenn sie erst oben angelangt war, würde alles besser werden.
„Warum, Chris? Warum tust du mir das an?“ Verzweifelt schloss sich ihre Hand um seinen Unterarm und mit Tränen in den Augen sah sie ihn an. „Ich liebe dich doch!“
Er schüttelte ihre Hände nur verärgert ab und blickte auf sie herab.
„Ich habe jemand Besseres gefunden. Finde dich damit ab. Ich liebe Nadine.“ Nadine. Ihre Schwester.
„Du wirst mir das nicht noch einmal antun, du Dreckskerl!“, flüsterte sie hasserfüllt, den Blick starr auf die Stufen gerichtet, und beschleunigte ihre Schritte.
Warum hatte es genau ihre Schwester sein müssen? Hätte es nicht irgendeine andere Schlampe auch getan?
Nein. Es musste ihre Schwester sein, die blonde, witzige Nadine. Wie sie diese blöde Kuh hasste. Sie hatte ihr das Einzige genommen, was ihr wichtig war. Das Einzige. Und das würde sie ihr nie verzeihen können.
Natürlich hatten sie auch schöne Zeiten gehabt. Sehr schöne sogar.
Ihre liebste Erinnerung war an den Tag, an dem sie sich kennen gelernt hatten. Es war ein Samstag und die Sonne schien. Der rote Bikini von ihr war neu gewesen…
Wütend verdrängte sie die Erinnerung wieder. Das war jetzt unwichtig. Sie musste sich auf das Jetzt konzentrieren. Nur dann würde sie durchhalten können.
Nicht noch einmal würde sie es bis hier her schaffen, und nun, da das Ziel schon fast erreicht war, würde sie keinen Rückzieher mehr machen. Nein, er sollte nicht schon wieder über sie triumphieren. Das würde sie nicht noch einmal überstehen.
Mit einem heftigen Ruck riss sie die Tür zur Dachterrasse auf. Wind peitschte ihr entgegen, doch sie schritt entschlossen hinaus. Über die ganzen Hochhäuser hinweg konnte sie das Meer sehen. Sie hatte das Meer schon immer geliebt. Am Strand in der Sonne zu liegen und einfach nichts tun. Wie schön war es gewesen. Der Anblick, der sich ihr bot, wäre auch schön gewesen, wenn das Meer nicht das Grau des Himmels widergespiegelt hätte.
Denn so spiegelte es genau ihre Gefühle wieder. Das Gefühl der Traurigkeit, als er sie verlassen hatte und das Gefühl der Aussichtslosigkeit, das sie hier her geführt hatte.
Plötzlich war sie sich unsicher in ihrer Entscheidung. Wollte sie es wirklich?
„Reiß dich zusammen! Natürlich willst du das. Du bist nur deswegen hier her gekommen. Willst du jetzt wirklich einen Rückzieher machen?“, fuhr sie sich selbst an um sich Mut zu machen.
Langsam ging sie Richtung Geländer. Weit unter sich sah sie die Hauptstraße auf der mehrere Autos fuhren.
„Eve, bitte! Tu es nicht!“
Die Stimme die sie hinter sich vernahm kannte sie nur all zu gut. Was wollte er hier, verdammt? Das war nicht geplant.
Sie drehte sich um und sah, wie er sich die Haare aus dem Gesicht strich. So wie er es schon immer gemacht hatte…
„Woher wusstest du, wo ich war?“
Mit ihren eisblauen Augen sah sie ihn eindringlich an. Ihm lief ein Schauer über den Rücken, wandte sich aber nicht ab.
„Eve, ich bitte dich, das tut jetzt nichts zur Sache. Tu es nicht! Du wirst es bereuen!“
„Woher?“
Ertappt sah er auf seine Füße und spielte mit dem Zipp seiner Jacke herum.
„Ich habe gesehen, wie du in das Haus gegangen bist. Du… du sahst so komisch aus. Dein Gesicht war verzerrt und dein Blick war so traurig und voller… Hass. Ich wollte zu dir gehen und mit dir reden. Nadine hat mir gesagt, dass du so melancholisch warst seit… Naja, du weißt schon. Und da dachte ich, dass…“
Ohne ein weiteres Wort stieg sie über die Brüstung. Der Wind wehte ihr ihren Schal ins Gesicht. Verärgert riss sie ihn mit einer Hand runter und lies ihn fallen, während sich die Andere immer noch fest um das Geländer schloss.
Sanft wurde der Schal vom Wind davon getragen. Nichts wünschte sie sich lieber, als auch einfach so davon fliegen zu können.
„Eve… ich weiß, dass ich dich verletzt habe und es tut mir auch unendlich leid. Aber an Gefühlen kann man doch nichts ändern! Du wirst dich auch wieder neu verlieben.“
„Nein. Ich gehöre zu dir. Und wenn das nicht geht, will ich zu niemanden gehören.“
Vorsichtig lehnte sie sich vor um wieder auf die Straße zu schauen. Die Geräusche des täglichen Lebens konnte sie hier oben nicht mehr hören. Dafür war das Ganze zu weit unten.
„Ich bitte dich Eve. Mach es nicht. Du willst das doch gar nicht.“
„Natürlich will ich es. Würde ich sonst hier stehen?“
„Ich bin mir sicher, dass du es nicht willst. Es wäre ein Fehler, und das weißt du auch.“ Nun klang seine Stimme fast schon flehend. „Vielleicht liebe ich dich nicht mehr, aber ich will dich trotzdem nicht verlieren!“
Sie schwieg. Ganz leicht nahm sie den Geruch seines After Shaves wahr. Sie liebte den Geruch. Als sie frisch verliebt waren hatte sie sich in einem Geschäft sogar ein Probefläschchen geholt, damit sie immer daran riechen konnte, wenn sie wollte.
Das Fläschchen stand immer noch in ihrem Zimmer auf dem Schminktisch. Dort wo es nun schon seit zwei Jahren stand.
Zwei Jahre. Zwei wundervolle Jahre waren es. Wie oft waren sie in einen Park gegangen und hatten dort ein Picknick veranstaltet. Wie oft hatten sie sich gestritten und wieder versöhnt. Wie oft hatten sie am Strand den Sonnenuntergang genossen.
Laut schluchzte sie auf. Nein, eigentlich wollte sie nicht, dass es so endete.
Behutsam stieg sie wieder über das Geländer und lies sich in seine Arme fallen.
Sie würde von neu anfangen, ohne ihn, und sie würde wieder eine schöne Zeit haben. Nur diesmal für immer.