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Bis Dienstag ist bezahlt
Der Mann und ich sind in Berlin. Wir sind nicht oft dort, weil wir eben auch sehr gerne nicht in Berlin sind.
Über ‚Airbnb‘ hat der Mann für unseren Hauptstadtaufenthalt eine Ferienwohnung gebucht. Das sei zwar nicht günstiger als ein Hotel, aber lustiger.
Aha.
Birgit Al-Hassan, unsere Gastgeberin, empfängt uns an der Wohnungstür.
Sie ist etwa in unserem Alter, aber schon erwachsen. Auch rein optisch ist sie mir zwei bis drei Köpfe überlegen.
Da Erwachsene lieber auf Augenhöhe verhandeln, wickelt sie die Details des Deals ausschließlich mit dem Mann ab. Ich bin spontan versucht, mir den Daumen in den Mund zu stecken, oder wenigstens die große Frau nach einem Keks zu fragen.
Birgits Instruktionen zur korrekten Handhabung unserer Bleibe münden in dem finalen Hinweis:
„Wenn jemand von den Nachbarn fragt wer du bist, dann bist du mein Cousin. Alles klar?“
„Alles klar!“
Gar nix ist klar, hä?
Birgit schmeißt sich einen Seesack auf den Rücken.
„Ich penn` solange bei meinem Mann, der wohnt ein paar Straßen weiter.“
Wieso? Was? Ich komm nicht mit. Lutsche jetzt Daumen.
„Logisch!“, lügt der Mann. „Von der mütterlichen oder väterlichen Seite?“
„Bitte?“
„Der Cousin? Von welcher Seite komm ich?“
„Ähhh …“. Birgit erscheint einen Moment unorganisiert.
„Ist egal, so genau wollen die das nicht wissen.“
„Aber ich! Es geht schließlich um mein Leben!“
Birgit lächelt unsicher. Der Mann legt nach.
„Ich müsste schon wissen, wer hier in den letzten Monaten alles gewohnt hat und in welchem Verwandtschaftsverhältnis ich zu diesen Personen stehe. Familie ist uns Leuten vom Dorf nämlich sehr wichtig.“
Birgit lächelt falsch. „Ihr kriegt das schon hin. Wenn was ist, meine Handynummer habt ihr ja.“
Damit ist die Cousine raus und wir haben 45 Quadratmeter Berlin exklusiv für uns.
Im Stil der Stadt gehalten, ist in der Wohnung noch nichts fertig. Viele schöne Ansätze aus verschiedenen Mieterepochen versichern sich gegenseitig den Charme der Wohnung auszumachen. Aber: Sie irren. Alle.
Ein Großteil der Wohnfläche fällt auf einen mehrere Kilometer langen Flur. Er verbindet Kreuzberg mit Mitte und Friedrichshain und verfügt über drei S-Bahn-Haltestellen.
Die übrigen Zimmer sind ebenfalls Flure, die entweder in einem weiteren Flur, oder schlauchartig vor einem Fenster enden.
Die Räume entsprechen dem sogenannten „Berliner Raumkonzept“. Also Länge plus Breite mal zwei ergibt die Höhe. Also ergibt sich bei vier Meter Länge und anderthalb Meter Breite, eine Deckenhöhe von elf Meter. Also im Prinzip steht die Wohnung hochkant.
„Schlafen wir in Birgits Bett, oder gibt`s einen Gästeflur?“, möchte der Mann wissen.
„Weiß nicht“, schnippe ich zurück. “Ist doch deine Verwandtschaft. Was soll das überhaupt?“
Der Mann setzt erst sich hin, dann sein Erklärbär-Gesicht auf. Er gibt mir Nachhilfe in Hauptstadtkunde:
„Birgit bessert sich ihr karges Oberstudienrat Gehalt offensichtlich mit gelegentlichen Untervermietungen auf.
Da sie über keine hierfür geeignete Immobilie verfügt, vermietet sie einfach die ihr zu Wohnzwecken überlassene, überwiegend selbst genutzte Miet-Butze. Selbige, in der wir uns just in diesem Moment befinden. Kannst du mir folgen, Engelchen?“
Ich nicke pflichtbewusst: „Nee!“
„Gut so. Im Weiteren ist es nämlich so, dass der Vermieter meiner Leih- und Mietcousine nicht im Geringsten mit Birgits Geschäftsmodell einverstanden wäre, wüsste er davon.
Zudem dürfen wir davon ausgehen, dass sich Birgits Steuererklärung über den Punkt Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung ausschweigt.“
„Um das Berliner Finanzamt mit nicht noch mehr unnötigen Rechnereien zu belasten, vermute ich.“
„Richtig“, nickt der Mann. „Aber natürlich spricht nichts gegen Verwandtenbesuch. Und was soll ich sagen: Hier sind wir!“
„Aha. Jedenfalls muss ich jetzt mal aufs Klo.“
Ich öffne also die Tür mit dem Hinweisschild „Nichtschwimmerbecken“ und blicke direkt in die Augen eines jungen Mannes. Er sitzt in der Wanne und freut sich offensichtlich mich zu sehen.
„Hey, ich bin Jolle!“, strahlt er mich an.
„Ähm … ich wollt nur mal kurz aufs äh … Sorry!“
„Ja mach ruhig. Ich guck auch nicht.“
Ich lächele Jolle an: „Klar, hab nur noch was aufm Herd. Moment. Bis gleich …“ ist das dümmste aber auch einzige, was mir einfällt, während ich rückwärts wieder aus der Tür stolpere.
Umgehend informiere ich den Mann, dass sich weitere Verwandtschaft im Bad befindet.
„Siri, wähle Cousine!“
Das Telefon macht wie ihm befohlen und wenige Augenblicke später erklärt uns Birgit den Sachverhalt:
„Jolle ist mein Mitbewohner. Der hat sein Zimmer ganz am Ende vom Flur. Bad, Küche und Wohnzimmer teilt ihr euch mit ihm. Stand aber auch so in der Anzeige.“
Ich schaue den Mann sehr wütend an.
„Ähm. Ehrlich gesagt dachte ich, Jolle wäre dein Kater. Und ‚Mitbewohner‘ so eine lustige Umschreibung. Verstehst du?“
„Nein!“ Birgit klingt jetzt noch erwachsener.
Auf unserem Weg zum Hotel versucht der Mann noch einmal sich zu erklären: „Jolle. Kein Mensch heißt Jolle. Ein Meerschweinchen. Vielleicht! Oder eben ein Kater … - Und man vermietet einfach keine Wohnung, wenn man noch einen nackten Jolle in der Wanne hat!“
„Ditte is Berlin, wa?“, sage ich fröhlich.
Ich bin entspannt. Der Mann hat ein sicheres Gespür dafür, wann das Eis dünn wird, und welche Sofortmaßnahmen zu ergreifen sind. Seine spontane Ansage „Dann eben Adlon!“ hat seine Wirkung bei mir jedenfalls nicht verfehlt.
Grundsätzlich ist es bei mir so, dass ich am liebsten zuhause schlafe. Das ziehe ich auch durch bis zu einer Entfernung von 550 Kilometern. Ich fahre dann abends einfach heim und reise bei mehrtägigen Aufenthalten eben morgens wieder an. Kein Ding.
Bei Verwandten oder Bekanntenbesuchen erhöht sich die Grenze auf 1200 Kilometer. Oberhalb dieser Grenze bevorzuge ich eine anonyme Unterbringung, also ein Hotel. Das ist kein Tick von mir, das ist eine ausgewachsene Psychose. Schon klar. Na und.
Eine Straßenecke entfernt vom Haus der Cousine bleiben wir gleichzeitig abrupt stehen. Wir schauen uns an. OK. Ich ergreife die Initiative und spreche den Mann an:
“Sie sind doch der Mann von Birgits Bruder. Also der Schwager der Cousine meines Mannes!“
Der offensichtlich obdachlose Herr starrt verständnislos aus seinem Schlafsack.
„Oder wie Max Goldt sagen würde“, ergänzt der Mann „Sie sind der schwule Schwippschwager aus der Schweiz!“
Der Angesprochene reagiert weiterhin eher spärlich. Aber wir lassen nicht locker.
Nachdem wir ihm den Wohnungsschlüssel ausgehändigt haben, natürlich inklusive der zugehörigen Auflagen und Instruktionen (Schwippschwager-Hausbewohner-Modell, Jolle füttern, Flur putzen), schiebt unser neuester Verwandter seine Habseligkeiten per Einkaufswagen in Richtung neuem Lebensabschnitt. Wenn auch nur einem kurzen Abschnitt. Aber bis Dienstag ist bezahlt.
Wir sind zufrieden mit uns. Berlin? Wir regeln das.
„Der berühmte Ausspruch ‚Ich hab noch einen Koffer in Berlin‘ wurde übrigens in den späten 90er Jahren des letzten Jahrtausends geprägt.“
Hauptstadtkunde Teil zwei. Der Mann ist in Form.
„Er fußt in der Tatsache, dass sich die Anzahl der in der Stadt vorhandenen Automobile, umgekehrt proportional – also eher ungünstig - zu der Fläche der Abstellmöglichkeiten entwickelt hat. Kurz gesagt: Wer mit dem Automobil nach Berlin reist, sollte darauf achten, dass sein mitgeführtes Reisegepäck derart ist, dass er es mühelos drei Stunden durch die Stadt schleppen kann. Denn dies wird er müssen!
Viele Reisende wussten allerdings nichts davon und mussten sich, da die Kräfte schwanden, unterwegs von ihrem Gepäck trennen. So kam es dann zu dem berühmten Satz. Der, so glaube ich, ja sogar besungen wurde.“
Manchmal zweifele ich ein bisschen an den historischen Ausführungen des Mannes. Aber eigentlich ist es mir auch egal.
Ich konzentriere mich aufs Schleppen.
Dabei hatten wir ja eigentlich Glück mit unserem Parkplatz. Nur wenige Stadtteile von unserer Ferienwohnung entfernt, fanden wir heute morgen ein geeignetes Plätzchen. Wir fahren also zwei Stationen mit der U-Bahn und steigen dann um in die S9.
Zu Fuß durchqueren wir zwanzig Minuten irgendeinen Park, dann einen anderen. Dann noch einen. Ab jetzt wird improvisiert, da der Akku des Navigationstelefons ausgestiegen ist. Wir laufen auf Sicht. Das Auto muß ganz in der Nähe sein.
Unterwegs begegnen wir noch weiterer Berliner Verwandtschaft:
Onkel Günther, den wir beim Flaschenpfandsammeln in Wilmersdorf treffen. Eine Gruppe Großneffen, die sich im Görlitzer Park ihr Taschengeld mit kleinen Geschäften aufbessert.
Einen Ableger des rumänischen Zweigs unserer Familie, der sich als Hartgeld-Mucker am Alex kulturell betätigt.
Alle zeigen durchweg Interesse an unserem Familien-WG-Modell: Einfach irgendwo im Haus klingeln, Verwandtschaftsgrad zu Birgit erläutern. Bis Dienstag ist bezahlt.
Gleich mehrere Cousinen treffen wir entlang der etwas abseits gelegenen Straße in Schöneberg, auf der sie vor und in ihren Wohnwagen traditionelle Dienstleistungen anbieten. Sie erwägen ihren Betrieb um einen Massagesalon unter dem Namen „Club Biggi“ in unserer Familienwohnung zu erweitern.
Die überall in der Stadt anzutreffende Al-Hassan Seite, begegnet unserer mittlerweile entwickelten Idee eines Familienfestes mit Begeisterung und löst eine Welle der Eigeninitiative aus.
Im claneigenen Copyshop, sind die Einladungskarten fix gedruckt. Grafisch fragwürdig, dafür zweisprachig.
Ein Großcousin betreibt einen Schlüsseldienst in Kreuzberg. Er vervielfältigt unseren verbliebenen zweiten Wohnungsschlüssel. Eine Kopie wird jeder Einladung beigefügt.
Heiß diskutiert wird die Frage, ob auch Al-Hassans beziehungsweise Birgits aus anderen Teilen Deutschlands eingeladen sind. So oder so werden Busparkplätze angemietet.
Viele Kinder haben sich uns zwischenzeitlich angeschlossen. Teilweise tragen sie Fahnen und skandieren laut Termin und Örtlichkeit des angesagten Familienvölkerfestes.
Die Sache entwickelt sich als Selbstläufer. Wenn wir einen neuen Stadtteil betreten, sind die Straßen bereits geschmückt und die Menschen jubeln uns zu. Einige halten auch Koffer und Taschen hoch, als Zeichen der Verbundenheit.
Berlin muss groß. Kleinklein sollen die anderen.
Telefonisch stehen wir in ununterbrochenen Kontakt zum mittlerweile gegründeten Organisationsbüro.
Zusagen erreichen uns von diversen Caterern, Getränkelieferanten, Riesenradbetreibern, Showtanzgruppen, Bushido und der SPD.
Ob die obligatorischen Auftritte von Lindenberg und BAP noch verhindert werden können, liegt jetzt bei Gericht.
Wir sind nun seit zwei Tagen unterwegs. Zwar ist sich der Mann immer noch sicher, die Straße in der unser Auto parkt, sofort wieder zu erkennen, wenn er sie sieht. Nur ist nicht klar, wann dies der Fall sein wird.
Die Stadt macht uns schwer zu schaffen. Wir werden nicht nur von tausenden Verwandten auf Schritt und Tritt begleitet und beobachtet, auch haben sich uns mehrere Hundertschaften der Polizei angeschlossen, sowie Feuerwehr, THW, ADAC und der Rote Halbmond.
Die Führung des Zuges haben mittlerweile Frank Zander und Klaus Wowereit übernommen. Obwohl sie ja eigentlich gar nicht wissen können, wo unser Auto steht.
Es kommt immer wieder zu spontanen Kundgebungen. Jetzt gerade zum Beispiel mit einer Lesung von Max Goldt. Das lenkt die Massen etwas ab. Wir nutzen den Moment zum einen für einen kleinen Snack, zum anderen zur Flucht.
Wir entkommen durch das WC-Fenster des indonesischen Schnellimbisses. Mit Hilfe einer Schleuserbande aus dem Kosovo gelingt es dem Mann und mir schließlich sogar die Stadt zu verlassen.
Unsere Koffer müssen wir dabei leider zurücklassen.