Bis das der Tod sie scheidet
Als Johanna die Augen aufschlug, blickte sie in ein weißes, gleißendes Licht.
War dies jenes Licht, das den Weg zur Himmelspforte umgab?
„Sie ist wach.“ hörte sie eine Stimme wie von weitem. „Bringt sie ins Zimmer.“
Langsam lichtete sich der weiche Schleier um sie herum und Johanna bemerkte, dass mehrere Personen sich um sie herum bewegten. Waren das Engel?
Sie versuchte, sich zu bewegen, doch ein stechender Schmerz in ihrer linken Schulter ließ sie dieses Vorhaben schnell vergessen. Was war geschehen?
„Sie brauchen Ruhe. Ruhen sie sich aus. Es ist alles okay. Wir kümmern uns um sie.“ sagte die Stimme wieder, diesmal schon deutlich näher an ihrem Ohr.
Sie schloss die Augen.
„Geben sie ihr noch eine Infusion gegen die Schmerzen.“
Sie dämmerte weg, nachdem sie das Gefühl hatte, sich nicht mehr in Bewegung zu befinden.
Als sie aufwachte, befand sie sich in einem fremden Bett. Rings um sie herum piepsten Geräte, die wahrscheinlich zu den Schläuchen gehörten, die zu ihrem Körper führten. Bewegung schmerzte immer noch, doch sie schaffte es, sich aufzurappeln und in eine liegende Sitzposition zu gelangen.
„Frau Kranz, mein Name ist Meyer von der Kripo Köln. Wie geht es ihnen?“
Erst jetzt bemerkte Johanna, dass unweit von ihr ein Mann mittleren Alters auf einem Stuhl in der Zimmerecke saß und sie mit besorgten, großen braunen Augen ansah.
„Was ist passiert? Wo bin ich?“
Sie konnte sich nicht erinnern, was passiert war, denn wie ein dichter Nebel war ihre Erinnerung momentan uneinsichtig.
„Sie liegen im Stadtkrankenhaus Köln, Frau Kranz, weil sie eine Schussverletzung in ihrer linken Schulter haben. Sie haben da oben wohl einen Schutzengel, denn hätte die Kugel drei Zentimeter weiter unten eingeschlagen, so wäre von ihrem Herzen nicht allzu viel übrig geblieben.“
Angeschossen? Was.. warum.. warum ich? fragte sie sich.
„Und.. und wer..?“ Ihr fehlte die Kraft, um weiterzureden.
„Das ist genau der Grund, warum ich bei ihnen bin. Wir haben zwar von ihren Kindern eine Aussage und somit einen Verdächtigen, doch sie müssten uns ebenfalls bestätigen, dass wir dem Tatverdächtigen auf der Spur sind. Verstehen sie bitte, dass ich sie einiges fragen muss, damit wir uns ein Bild machen können. Meinen sie, sie haben schon die Kraft dazu?“
Johanna schaute dem Mann von der Kripo in die Augen. Sie hatten so etwas Flehendes, Treibendes an sich. Ihre Hilfe wurde wohl dringend gebraucht.
„Wie geht es meinen Kindern?“
„Sie sind in Sicherheit. Wir haben sie zu ihren Großeltern gebracht. Also, wenn sie so freundlich wären…“
„Nun“ fing Johanna an, „ nun, sie müssen wissen, dass ich seit einiger Zeit von einem Mann namens Frank Zander bedrängt werde, doch mit ihm zusammen in einer Familie zu leben.“
„Frank Zander.“ fragte Meyer nach, und nach einem Kopfnicken notierte er den Namen in einem Block.
„Frank habe ich vor gut drei Monaten in einer Disko kennen gelernt. Wir waren uns anfangs sympathisch, aber dann, dann lernte ich seinen wahren Charakter kennen und wollte mich trennen.“
„Was meinen sie mit ‚wahren Charakter’, Frau Kranz?“
„Nun, er sagte, er habe sich nach einer Woche so unsterblich in mich verliebt, dass er sich nicht mehr vorstellen könne, jemals noch mit einer anderen Frau zusammen zu leben. Ich fand ihn zwar nett, doch ging mir das zu schnell. Sie müssen wissen, erst vor vier Monaten ist meine Ehemann tot im Rhein aufgefunden worden.“
„Der Kranz Fall- ich erinnere mich. Er ging durch die ganze Presse, weil nicht geklärt werden konnte, warum ihr Mann ertrank. Mein Beileid.“
„Es war eine schlimme Zeit für mich und meine Kinder. Ich brauchte Ablenkung von alledem und ging in die Disko, wo ich dann Frank kennen lernte. Jedenfalls wurde ich ihn nach dieser Begegnung nicht mehr los. Nachdem ich ihm klar gemacht hatte, dass ich nicht mit ihm zusammen leben werde, schrieb er mir Briefe, mehrere jeden Tag. Es stand in ihnen, wie sehr er mich doch liebe, dass ich die Frau seines Lebens sei, dass ich ihn ebenfalls lieben müsste, weil er mir so viel Zuneigung schenke.“
„Die Briefe haben sie noch?“
„Zuhause, ja.“
„Die werden als Beweismittel gebraucht werden.“
„Ich werde sie ihnen zukommen lassen.“
„Wie haben sie auf die Briefe reagiert?“
„Anfangs habe ich sie ignoriert. Er kam mir vor wie ein pubertierendes Kind, das seiner ersten großen Liebe Liebesbriefe schreibt und sagt, sie sei sein ein und alles. Doch mit der Zeit änderten sich seine Briefe. Sie wurden rauer im Ton, fordernder und waren mit Zeichnungen übersäht, die eine nackte Frau zeigten. Können sie sich vorstellen, was ich für Angst bekam?“
Johanna zog die Decke ihres Bettes näher an sich heran, um ihr Gesicht in ihr zu versenken und eine Träne aus den Augen zu wischen. Man sah ihr an, wie sehr sie all dies mitnahm.
„Frau Kranz, wir können auch eine Pause machen, wenn es nicht mehr geht.“
„Nein, nein, ich will das jetzt durchziehen. Nach den Briefen stand er öfters vor meiner Tür und klopfte wild dagegen. Er meinte, mich sprechen zu müssen, doch ich sagte ihm eindeutig, dass er gehen sollte. Frank reagierte nicht darauf, rief immer wieder ‚Ich liebe dich’ und ‚Komm heraus, sonst passiert was!’. Wenn er dann gegangen war, wartete ich noch eine halbe Stunde, um sicher zu sein, dass er mich nicht im Flur überrasche. Als ich die Tür dann vorsichtig öffnete, sah ich eine zusammengerollte Zeitung am Boden liegen. Ich hob sie auf und heraus fiel eine tote Maus, die mit Zahnstochern durchlöchert war. Es war so schrecklich. Das war das erste seiner eindeutigen Zeichen.“
Johanna schluchzte. „Wenn ich daran denke, was er uns alles angetan hat…“
„Ihre Aussagen helfen uns sehr und bringen uns weiter, Frau Kranz. Bitte…“
„Nach cirka eineinhalb Monaten traute ich mich kaum noch, aus dem Haus zu gehen. Immer musste ich damit rechnen, Frank zu begegnen. Als ich eines Tages zum Einkaufen fahren wollte, fand ich hinter dem Scheibenwischer meines Autos eine Babypuppe, auf deren Brust ein Kreuz in rot gemalt war. Ich versteinerte für Sekunden, der Atem blieb weg. Ab diesen Augenblick dachte ich, der Mann gehört in eine psychiatrische Anstalt. Ich lief wieder nach oben und rief einen Freund, Herrn Paul Weinberg an und schüttete ihm mein Herz aus. Er versprach, öfters vorbeizukommen und mich zu beschützen.“
„Herr Weinberg war ebenfalls gestern Nacht anwesend, als sie… als sie angeschossen wurden, wissen sie noch?“
Johanna dachte nach, dann sagte sie leise: „Ich kann mich dunkel daran erinnern.“
„Wenn ich jetzt zusammenfasse, dann verdächtigen sie Herrn Zander, sie persönlich, mit Briefen und eindeutigen visuellen Symbolen der Gewalt bedrängt zu haben.“
„Nein, ich verdächtige ihn nicht nur, ich weiß, dass er es getan hat! Und er bedrängte mich nicht nur, sondern peinigte mich über Monate!“
„Okay, fällt ihnen sonst noch etwas ein?“
„Vor meiner Wohnungstür fand ich immer wieder Kreuze, die aus Ästen zusammen gebunden waren. Faule Eier klebten an meiner Wohnungstür, nachts wurde Sturm geklingelt, an der Tür wie am Telefon. Als ich abnahm, war er am anderen Ende. Er sagte, er wolle sich Nutten auf dem Strich besorgen, woraufhin ich sagte, solle er doch machen. Er liebe mich doch, war die nächste Antwort. Ich sagte, schön für dich, ich dich nicht. Dann wurde er aggressiv, schrie, ich müsse ihn erhören! Ich legte auf.“
„Habe ich notiert. Können wir uns nun der letzten Nacht zuwenden? Wir vermuten, dass Herr Zander in ihre Wohnung eingedrungen ist und sie erst bedroht und dann gefährlich verletzt hat. So berichtete es ihr Freund, Herr Weinberg und ihre Kinder.“
Johanna wurde schwarz vor Augen und sie fiel in Ohnmacht. Die aufflackernden Erlebnisse waren wohl zu viel für sie. Nach zwei Stunden wachte sie wieder auf, um sie herum standen Ärzte.
„Beruhigen sie sich, alles wird gut.“ sagte der Mann im weißen Kittel und der sanften Stimme neben ihr. Er gab ihr eine Spritze.
Johanna schloss die Augen und schlief ein.
Am nächsten Morgen wachte sie auf. Wieder saß her Meyer auf dem Stuhl in der Ecke.
„Guten Morgen, geht es ihnen heute schon besser?“
„Geringfügig.“
„Wir haben mit der Fahndung nach Herrn Zander begonnen, bis jetzt noch ohne Erfolg.“
„Hoffentlich kriegen sie dieses Schwein.“
„Ich habe ihre Angaben unseren Mitarbeitern zur Bearbeitung gegeben und sie haben ein psychologisches Profil von Herrn Zander erstellt. Demzufolge ist er ein so genannter Stocker, der krankhaft an der Liebe zu einer Person hängt und sein ganzes Leben auf diese Person, sie, fixiert.“
Fixiert. Ja, so kam sich Johanna immer vor. Fixiert auf einer Pritsche, unfähig, sich gegen ihn zu wehren. Gefesselt!
Herr Meyer fuhr fort: „Können wir an gestern anknüpfen?“ fragte er, woraufhin Johanna nickte. „Ich erinnere mich noch, wie er wieder vor meiner Tür stand und klopfte und meinen Namen schrie und mir drohte und mich verfluchte. Ich versuchte, ihn wieder zu ignorieren, doch diesmal ließ er nicht locker. Er trat meine Tür ein und stand plötzlich vor mir. Ich muss kreideblass geworden sein. Er nahm mich bei der Hand und zerrte mich ins Schlafzimmer, wo er mir meine Bluse vom Leib riss. Er wollte mich vergewaltigen!
Oh Gott!-- …“
„Ich weiß, es ist schlimm, doch sprechen sie bitte weiter.“
„...—ich ließ es über mich ergehen. Dann stand plötzlich Paul im Schlafzimmer. Er sah uns fassungslos an und Frank zückte seine Pistole. Er schrie, was der Typ hier mache und Paul versuchte, ihn mit beschwichtigenden Gesten zu beruhigen. Er war durch die offene Haustür hereingekommen, sagte er und wollte sehen, ob es mir gut ging. Was er Frank verheimlichte war, dass er bereits die Polizei verständigt hatte. Als dann Blaulicht durchs Fenster schien, verlor er die Beherrschung und muss geschossen haben. Wie oft, weiß ich nicht.“
„Viermal“ sagte Herr Meyer. „Drei Kugeln stecken in der Wand, eine hat sie in der Schulter getroffen. Er konnte fliehen, wir haben ihn nicht finden können. Er muss sich gut in der Gegend auskennen.“
„Ja, er sagte mir, dass er früher hier in der Nähe gewohnt habe.“
„Danke Frau Kranz, das war es auch schon. Wir werden uns bemühen, ihn zu verhaften.“
„Bitte bemühen sie sich, Herr Meyer. Andernfalls weiß ich nicht, ob ich das alles überlebe.“
„Ruhen sie sich aus, wir tun unser Bestes!“
Als Johanna zwei Wochen später aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war Zander immer noch nicht gefasst. Mehrere Hinweise führten zu immer weiteren Spuren, doch keine war so konkret, dass sie zum Erfolg geführt hätte.
Monate strichen ins Land, und langsam schaffte es Johanna, die traumatischen Ereignisse zu verarbeiten.
Eines Tages fand sie einen Zettel an ihrer Haustür.
Ein „Hallo“ stand darauf.
Sie schenkte ihm keine Beachtung.
Als sie im Haus war, klingelte das Telefon.
„Ja?“ meldete sie sich.
„Ich weiß, wer bald neben ihrem Mann im Rhein schwimmen wird!“ sagte eine ihr wohlbekannte Stimme am anderen Ende der Leitung.
Mit der plötzlichen Gewissheit der Erkenntnis lief der Film vor Johannas Augen ab. Der Tod ihres Mannes, das zufällige Treffen in der Disko, all die Briefe…
„Wie heißt es doch so schön Johanna: Bis das der Tod uns scheidet- hahahahahaha!!!!!“