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Bis ans Ende seines Weges
Bis ans Ende seines Weges
Eine Geschichte über die Urteilskraft von Schmerz
Er wollte diese Bilder nicht sehen, um nichts in der Welt. Am liebsten wäre er aufgestanden und aus dem Gerichtssaal gelaufen. Er saß da, auf seinem kleinen Holzstuhl, mit von Schweiß durchnässtem Hosenboden, seine zu Fäusten verkrampften Hände in seinen Schoß gelegt. So viele Stunden und Tage hörte er sich dieses Grauen nun schon an und es schien noch längst nicht alles gesagt worden zu sein. Warum jetzt auch noch diese Bilder? Hatte er nicht schon genug gelitten? Immer wieder schloß er seine Augen, verbot sich selbst, das Geschehen an sich heranzulassen. Aber vergebens. Zu tief war es in ihn bereits eingedrungen, gnadenlos verankert.
Als man die vergrößerten Hochglanzfotos zur Ansicht aufspannte, wandte er sich mit schockartig eintretendem Ekel ab. Sein Magen rebellierte und jagte ihm seinen Inhalt stoßartig die Kehle hoch. Mit Müh und Not gelang es ihm, tief Luft zu holen und gerade noch zu verschlucken, was in der nächsten Sekunde auf seinem Anzug gelandet wäre. Er lief weiß an und Schweißperlen drangen durch seine Poren auf die Stirn. Er hörte das Raunen im Saal und atmete erneut einige Male tief durch. Dann vernahm er wieder Stimmen. Sie kamen überall her. Der Staatsanwalt sagte etwas, dann der Richter. Eine Frau antwortete und durfte den Zeugenstand wieder verlassen.
In der Nacht lag er lange wach. Erinnerungen stiegen in ihm hoch, überspannten seine Schlafstätte wie ein riesiges Spinnennetz voller Ungetier. Er sah nicht hin, vergrub seine Augen in seinen Fäusten. Doch je angestrengter er versuchte, diese Bilder aus seinem Gedächtnis zu löschen, umso unerbittlicher krallten sie sich in seinem Schädel fest, einem Alligator gleich, der - einmal zugeschnappt - nicht wieder loslässt, bis sich seine Beute, nach langem qualvollem Kampf, endlich ihrem Schicksal ergeben hat.
Zu den Visionen mischten sich nun auch Stimmen, Geräusche, Laute. Und ebenso, wie sich die Bilder, jeder Gegenwehr zum Trotz, auf seiner Netzhaut eingebrannt hatten, konnte er nichts gegen dieses durchdringende Flüstern in seinen Ohren tun. Wie Würmer schlüpften diese Wortfetzen zwischen seinen Fingern hindurch und nisteten sich unauslöschlich in seinen Gehirnzellen ein.
Als er endlich schlief, durchdrang er ein Tor, dessen Existenz er bislang immer geleugnet hatte. Doch was dahinterlag, entzog sich menschlichem Verstand um ein Vielfaches und kalte Dunkelheit umhüllte ihn, nahm ihn ein, stieß ihn ab und sog ihn gleichzeitig weiter in sich hinein. Immer tiefer, immer dunkler, kälter, weit weit hinab ...
Die Hand streicht über weiße Haut. Nur ein Finger, dessen Nagel. Still bebend, zerrt er jedes einzelne Haar aus den Poren, dehnt es, spannt es bis zum Zerreißen an, lässt es dann durch sein Nagelbett gleiten und hinter sich Gänsehaut zurück. Behäutetes Fleisch drängt zur Seite, lässt Druck auf Muskeln und Knochen zu und verfärbt sich erst weiß, dann rötlich. Der Fingernagel gleitet zurück, setzt an der gleichen Stelle wieder an und zieht erneut seine schneidende Bahn. Abermals ergibt sich das Fleisch dieser Kraft, weicht flehend beiseite, doch hält dem Druck nicht länger Stand. Ein winziger Stich spaltet die Haut zwischen zwei Poren und quellendes Leben verfolgt ihn sogleich, bis ans Ende seines Weges.
Schicht um Schicht. Haut um Haut. Blutige Schlieren benetzen den Arm. Nass und warm dringt es durch die Poren, reagiert mit dem Sauerstoff der Luft, will sich festsetzen und gerinnen. Doch der Fingernagel lässt nicht nach. Wie ein Pflug schlägt er durch das Fleisch. Unerbittlich langsam und scharf, zieht er seine feinen Linien. Ein Skalpell vollbrächte kein präziseres Werk. Muskelfasern reißen entzwei, Gewebeteile platzen auf. Erneut dringt Blut aus frischen Wunden, vermischt sich mit Schweiß puren Leides.
Die Klinge aus Horn, abgewetzt und blutverschmiert, beginnt zu glätten, was dereinst von Fleisch und Haut verdeckt war. Sie schabt über nackte Knochen, schält noch die eine oder andere Faser hervor und verliert sie im toten Haufen neben sich. Zurück führt ihr Weg. Den linken Unterarm freigelegt, Speiche und Elle entblößt, zieht sie weiter über diesen Körper her. Ein Kadaver, der zum Sterben nicht bereiter sein könnte. Doch noch ist nicht alles Leben aus ihm entwichen. Der Schock hält Angst noch länger wach. Bereit für Schmerz und Leid. Endlos.
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Er saß wieder auf seinem kleinen Holzstuhl. Er atmete flach, seine Fäuste lagen zitternd auf seinen Schenkeln. Wie er die Nacht überstanden hatte, wußte er nicht mehr. Auch die Freude darüber, dass sie endlich vorbei war, währte nur wenige Augenblicke. Denn die Dunkelheit wartete bereits auf ihn, um ihn erneut mit ihren Klauen der Wirklichkeit zu entreißen. Einer Wirklichkeit, die ihm auch bei Tag für lange Zeit noch Grauen bereiten würde.
Auf ein Neues erhob der Richter das Wort, um es schießlich dem Verteidiger zu erteilen, welcher nun aufstand und mit langsamen Schritten an ihre Bank herantrat.
"Sehr geehrte Damen und Herren. Sie mußten im Verlauf dieses Prozesses einiges über sich ergehen lassen. Sie haben ... einen Mann gesehen ... Sie möchten ihn vielleicht als Tier bezeichnen und glauben Sie mir, ich kann das nachvollziehen. Wer nicht? Sieht man sich seine Taten an, fragt man sich unweigerlich, was an diesem Wesen Mensch sein soll. Wir haben gehört ... und gesehen ... was er getan hat. Niemand mit wachem Verstand wird wohl jemals auch nur ansatzweise begreifen können, wie so etwas überhaupt möglich ist und ich fühle mich mit Ihnen tief verbunden in meinem Leid und meiner Ratlosigkeit, angesichts dieses schrecklichen Geschehens.
Vielleicht denken Sie, dass Gnade Grenzen hat. Wir alle sind uns einig, dass Thomas Janis Strafe verdient hat. Es muss bestraft werden, was Leben genommen hat. Wir leben in einer Gesellschaft in der wir uns auf Regeln geeinigt haben, jeder einzelne von uns. Wer sie bricht, kann nicht ungeschoren davon kommen. Ich stimme mit Ihnen überein."
Er sah dem Verteidiger in die Augen, hörte seine Worte aus seinem Mund. Er versuchte sich auf den Sinn hinter diesen Worten zu konzentrieren, strich sich ein paar Mal über die schweißnasse Stirn, gerade so, als wollte er immer wiederkehrende Bilder aus seinem Gesicht wischen, die wie ein grauer Nebel vor seinen Augen hingen und ihm jeglichen klaren Gedanken zunichte machten.
"Doktor Massauer kann bei Thomas Janis keinen >wie auch immer gearteten psychischen Defekt< nachweisen, der auf irgendeine Geisteskrankheit hinweisen würde. Thomas Janis ist in medizinischer Hinsicht gesund. Er ist gesund.
Ich weiß nicht wie es Ihnen geht, aber in meiner Welt tun gesunde Menschen so etwas nicht. Doktor Massauer ist ein angesehener Spezialist und sein Gutachten wurde mehrmals geprüft und bestätigt. Aber ich frage Sie ... wie kann man ... auch nur im Entferntesten, ernsthaft davon ausgehen, dass dieser Mann gesund ist? Ich habe geisteskranke Mörder gesehen, abnorme Rechtsbrecher, wie sie die Justiz nennt, und ich sehe wohl einen Unterschied. Der Unterschied liegt darin, dass diese Menschen keine Kontrolle über ihren Geist haben. Man kann sie deswegen nicht von Schuld freisprechen, aber ihr Handeln war ihnen nur in eingeschränktem Maße bewusst. Dieser Mann hier aber, Thomas Janis, wußte was er tat, er tat es im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte!"
Sein Blick war vom Verteidiger abgeschwenkt und tastete sich nun zaghaft durch den großen Raum. Die wandernden Schatten lösten erneut Schwindelgefühle aus, brachten sie doch mit jeder Minute die Dunkelheit zurück. Ein Lichtstreif zog vom gegenüberliegenden Fenster quer durch den Saal und ließ einen Mann, in unwirklichem Widerschein, aus der Menge hervortreten. Seine Pupillen rotierten, bei dem Versuch, dem gleißenden Reflex zu entgehen. Wie ein blinder Fleck, als hätte er zu lange in eine Lampe gestarrt, brannte dieses Licht in seinen Augenwinkeln und rang ihm Kräfte des Widerstandes ab, die ihn von den Worten des Verteidigers noch weiter entfernten.
"Meine Frau hat mich letztens gefragt, ob ich an Das Böse glaube. Die Antwort ist mir nicht leicht gefallen und um ehrlich zu sein, bin ich sie ihr bis heute noch schuldig geblieben.
Ich denke nicht ... dass Menschen tatsächlich böse geboren werden können. So etwas wie Das Böse gibt es nicht. Wir nennen etwas böse, wenn es uns jede Hoffnung zu zerschlagen droht. Aber allem Bösen liegt auch ein tiefer Schmerz zu Grunde ... und es ist unsere Aufgabe, eines jeden einzelnen von uns ... diesen Schmerz zu erforschen und mit aller Liebe, die wir aufzubringen im Stande sind, zu lindern ... wenigstens zu lindern."
Mit einem mal horchte er wieder auf. Die letzten Worte waren durch den Schleier vor seinen Augen hindurchgedrungen. Mit ihnen konnte er etwas anfangen. Vielleicht zum ersten Mal im Laufe dieses Prozesses. Liebe, Schmerz, lindern, das waren Begriffe aus seiner Welt. Aber mit diesen Worten wurde ihm auch schlagartig bewußt, dass es so etwas wie seine Welt nicht gab, nicht geben konnte. Den Mann auf der Anklagebank, der zuvor in so gleißendem Licht erschienen war, umhüllte nun wieder die Kälte mächtiger Schatten. Er war es, der ihn in diese Welt von Perversion, Gewalt und Grausamkeit gesogen hatte und ihm letzten Endes das traurige Bewußtsein bescherte, das all dies ebenso Teil seiner Welt war. Eine Wirklichkeit, der er sich nun stellen musste, ob er wollte oder nicht.
"Ich weiß nicht, wie man ... nachdem was wir alles erfahren mussten ... Gesundheit und Krankheit noch definieren und voneinander unterscheiden soll. Wenn Sie mich fragen, gibt es Krankheit jenseits medizinischer Fassbarkeit, muss es sie einfach geben. Thomas Janis ... sein Leben mag Ihnen nicht viel bedeuten, aber wenn es so etwas wie einen Sinn gibt, dann ist jener seines Lebens vielleicht, uns diese bittere Erkenntnis zu vermitteln. Diese bittere Erkenntnis, dass es an uns liegt, diesen Schmerz zu erforschen ... und zu lindern ... wenigstens zu lindern.
Wenn Sie sich jetzt also bald zur Beratung zurückziehen, möchte ich Ihnen diesen Gedanken mit auf den Weg geben. Ich danke Ihnen."
Der Mann auf der Anklagebank hatte einen Namen. Ebenso seine Opfer. Er selbst hatte keinen Namen. Nicht innerhalb dieses Gerichtssaals. Er war nur eine Stimme, die nun über Recht oder Unrecht zu entscheiden hatte. Er war Geschworener.
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Als er ihr einstimmiges Urteil verlas, ließ seine Anspannung um nichts nach. Auch nicht, als der Richter das Ausmaß der Strafe verkündete - sieben mal Lebenslänglich.
Er hatte dem zugestimmt. Über zwei Stunden hatten sie sich zurückgezogen. Obwohl sich jeder einzelne von ihnen schon beim Betreten des Beratungszimmers darüber klar war. Sie kannten die Opfer nicht, wußten nicht, was sie gefühlt haben mussten, konnten sich ihr Leid nicht einmal ansatzweise vorstellen. Als sie sich nach langen Minuten des blanken Entsetzens und purer Fassungslosigkeit einigermaßen gesammelt, gegenseitig Mut und Trost zugesprochen hatten und schließlich zu einem gemeinsamen Urteil gekommen waren, war ihnen bewußt, dass es ihr eigener Schmerz war, der sie diese Strafe aussprechen ließ. Ein Schmerz, der sie bis an ihr Lebensende verfolgen würde. Und wer würde diesen nun lindern ... wenigstens lindern ...?