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Bis ans Ende seines Weges

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12.01.2003
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Bis ans Ende seines Weges

Bis ans Ende seines Weges

Eine Geschichte über die Urteilskraft von Schmerz


Er wollte diese Bilder nicht sehen, um nichts in der Welt. Am liebsten wäre er aufgestanden und aus dem Gerichtssaal gelaufen. Er saß da, auf seinem kleinen Holzstuhl, mit von Schweiß durchnässtem Hosenboden, seine zu Fäusten verkrampften Hände in seinen Schoß gelegt. So viele Stunden und Tage hörte er sich dieses Grauen nun schon an und es schien noch längst nicht alles gesagt worden zu sein. Warum jetzt auch noch diese Bilder? Hatte er nicht schon genug gelitten? Immer wieder schloß er seine Augen, verbot sich selbst, das Geschehen an sich heranzulassen. Aber vergebens. Zu tief war es in ihn bereits eingedrungen, gnadenlos verankert.
Als man die vergrößerten Hochglanzfotos zur Ansicht aufspannte, wandte er sich mit schockartig eintretendem Ekel ab. Sein Magen rebellierte und jagte ihm seinen Inhalt stoßartig die Kehle hoch. Mit Müh und Not gelang es ihm, tief Luft zu holen und gerade noch zu verschlucken, was in der nächsten Sekunde auf seinem Anzug gelandet wäre. Er lief weiß an und Schweißperlen drangen durch seine Poren auf die Stirn. Er hörte das Raunen im Saal und atmete erneut einige Male tief durch. Dann vernahm er wieder Stimmen. Sie kamen überall her. Der Staatsanwalt sagte etwas, dann der Richter. Eine Frau antwortete und durfte den Zeugenstand wieder verlassen.

In der Nacht lag er lange wach. Erinnerungen stiegen in ihm hoch, überspannten seine Schlafstätte wie ein riesiges Spinnennetz voller Ungetier. Er sah nicht hin, vergrub seine Augen in seinen Fäusten. Doch je angestrengter er versuchte, diese Bilder aus seinem Gedächtnis zu löschen, umso unerbittlicher krallten sie sich in seinem Schädel fest, einem Alligator gleich, der - einmal zugeschnappt - nicht wieder loslässt, bis sich seine Beute, nach langem qualvollem Kampf, endlich ihrem Schicksal ergeben hat.
Zu den Visionen mischten sich nun auch Stimmen, Geräusche, Laute. Und ebenso, wie sich die Bilder, jeder Gegenwehr zum Trotz, auf seiner Netzhaut eingebrannt hatten, konnte er nichts gegen dieses durchdringende Flüstern in seinen Ohren tun. Wie Würmer schlüpften diese Wortfetzen zwischen seinen Fingern hindurch und nisteten sich unauslöschlich in seinen Gehirnzellen ein.
Als er endlich schlief, durchdrang er ein Tor, dessen Existenz er bislang immer geleugnet hatte. Doch was dahinterlag, entzog sich menschlichem Verstand um ein Vielfaches und kalte Dunkelheit umhüllte ihn, nahm ihn ein, stieß ihn ab und sog ihn gleichzeitig weiter in sich hinein. Immer tiefer, immer dunkler, kälter, weit weit hinab ...

Die Hand streicht über weiße Haut. Nur ein Finger, dessen Nagel. Still bebend, zerrt er jedes einzelne Haar aus den Poren, dehnt es, spannt es bis zum Zerreißen an, lässt es dann durch sein Nagelbett gleiten und hinter sich Gänsehaut zurück. Behäutetes Fleisch drängt zur Seite, lässt Druck auf Muskeln und Knochen zu und verfärbt sich erst weiß, dann rötlich. Der Fingernagel gleitet zurück, setzt an der gleichen Stelle wieder an und zieht erneut seine schneidende Bahn. Abermals ergibt sich das Fleisch dieser Kraft, weicht flehend beiseite, doch hält dem Druck nicht länger Stand. Ein winziger Stich spaltet die Haut zwischen zwei Poren und quellendes Leben verfolgt ihn sogleich, bis ans Ende seines Weges.
Schicht um Schicht. Haut um Haut. Blutige Schlieren benetzen den Arm. Nass und warm dringt es durch die Poren, reagiert mit dem Sauerstoff der Luft, will sich festsetzen und gerinnen. Doch der Fingernagel lässt nicht nach. Wie ein Pflug schlägt er durch das Fleisch. Unerbittlich langsam und scharf, zieht er seine feinen Linien. Ein Skalpell vollbrächte kein präziseres Werk. Muskelfasern reißen entzwei, Gewebeteile platzen auf. Erneut dringt Blut aus frischen Wunden, vermischt sich mit Schweiß puren Leides.
Die Klinge aus Horn, abgewetzt und blutverschmiert, beginnt zu glätten, was dereinst von Fleisch und Haut verdeckt war. Sie schabt über nackte Knochen, schält noch die eine oder andere Faser hervor und verliert sie im toten Haufen neben sich. Zurück führt ihr Weg. Den linken Unterarm freigelegt, Speiche und Elle entblößt, zieht sie weiter über diesen Körper her. Ein Kadaver, der zum Sterben nicht bereiter sein könnte. Doch noch ist nicht alles Leben aus ihm entwichen. Der Schock hält Angst noch länger wach. Bereit für Schmerz und Leid. Endlos.

---

Er saß wieder auf seinem kleinen Holzstuhl. Er atmete flach, seine Fäuste lagen zitternd auf seinen Schenkeln. Wie er die Nacht überstanden hatte, wußte er nicht mehr. Auch die Freude darüber, dass sie endlich vorbei war, währte nur wenige Augenblicke. Denn die Dunkelheit wartete bereits auf ihn, um ihn erneut mit ihren Klauen der Wirklichkeit zu entreißen. Einer Wirklichkeit, die ihm auch bei Tag für lange Zeit noch Grauen bereiten würde.
Auf ein Neues erhob der Richter das Wort, um es schießlich dem Verteidiger zu erteilen, welcher nun aufstand und mit langsamen Schritten an ihre Bank herantrat.

"Sehr geehrte Damen und Herren. Sie mußten im Verlauf dieses Prozesses einiges über sich ergehen lassen. Sie haben ... einen Mann gesehen ... Sie möchten ihn vielleicht als Tier bezeichnen und glauben Sie mir, ich kann das nachvollziehen. Wer nicht? Sieht man sich seine Taten an, fragt man sich unweigerlich, was an diesem Wesen Mensch sein soll. Wir haben gehört ... und gesehen ... was er getan hat. Niemand mit wachem Verstand wird wohl jemals auch nur ansatzweise begreifen können, wie so etwas überhaupt möglich ist und ich fühle mich mit Ihnen tief verbunden in meinem Leid und meiner Ratlosigkeit, angesichts dieses schrecklichen Geschehens.
Vielleicht denken Sie, dass Gnade Grenzen hat. Wir alle sind uns einig, dass Thomas Janis Strafe verdient hat. Es muss bestraft werden, was Leben genommen hat. Wir leben in einer Gesellschaft in der wir uns auf Regeln geeinigt haben, jeder einzelne von uns. Wer sie bricht, kann nicht ungeschoren davon kommen. Ich stimme mit Ihnen überein."

Er sah dem Verteidiger in die Augen, hörte seine Worte aus seinem Mund. Er versuchte sich auf den Sinn hinter diesen Worten zu konzentrieren, strich sich ein paar Mal über die schweißnasse Stirn, gerade so, als wollte er immer wiederkehrende Bilder aus seinem Gesicht wischen, die wie ein grauer Nebel vor seinen Augen hingen und ihm jeglichen klaren Gedanken zunichte machten.

"Doktor Massauer kann bei Thomas Janis keinen >wie auch immer gearteten psychischen Defekt< nachweisen, der auf irgendeine Geisteskrankheit hinweisen würde. Thomas Janis ist in medizinischer Hinsicht gesund. Er ist gesund.
Ich weiß nicht wie es Ihnen geht, aber in meiner Welt tun gesunde Menschen so etwas nicht. Doktor Massauer ist ein angesehener Spezialist und sein Gutachten wurde mehrmals geprüft und bestätigt. Aber ich frage Sie ... wie kann man ... auch nur im Entferntesten, ernsthaft davon ausgehen, dass dieser Mann gesund ist? Ich habe geisteskranke Mörder gesehen, abnorme Rechtsbrecher, wie sie die Justiz nennt, und ich sehe wohl einen Unterschied. Der Unterschied liegt darin, dass diese Menschen keine Kontrolle über ihren Geist haben. Man kann sie deswegen nicht von Schuld freisprechen, aber ihr Handeln war ihnen nur in eingeschränktem Maße bewusst. Dieser Mann hier aber, Thomas Janis, wußte was er tat, er tat es im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte!"

Sein Blick war vom Verteidiger abgeschwenkt und tastete sich nun zaghaft durch den großen Raum. Die wandernden Schatten lösten erneut Schwindelgefühle aus, brachten sie doch mit jeder Minute die Dunkelheit zurück. Ein Lichtstreif zog vom gegenüberliegenden Fenster quer durch den Saal und ließ einen Mann, in unwirklichem Widerschein, aus der Menge hervortreten. Seine Pupillen rotierten, bei dem Versuch, dem gleißenden Reflex zu entgehen. Wie ein blinder Fleck, als hätte er zu lange in eine Lampe gestarrt, brannte dieses Licht in seinen Augenwinkeln und rang ihm Kräfte des Widerstandes ab, die ihn von den Worten des Verteidigers noch weiter entfernten.

"Meine Frau hat mich letztens gefragt, ob ich an Das Böse glaube. Die Antwort ist mir nicht leicht gefallen und um ehrlich zu sein, bin ich sie ihr bis heute noch schuldig geblieben.
Ich denke nicht ... dass Menschen tatsächlich böse geboren werden können. So etwas wie Das Böse gibt es nicht. Wir nennen etwas böse, wenn es uns jede Hoffnung zu zerschlagen droht. Aber allem Bösen liegt auch ein tiefer Schmerz zu Grunde ... und es ist unsere Aufgabe, eines jeden einzelnen von uns ... diesen Schmerz zu erforschen und mit aller Liebe, die wir aufzubringen im Stande sind, zu lindern ... wenigstens zu lindern."

Mit einem mal horchte er wieder auf. Die letzten Worte waren durch den Schleier vor seinen Augen hindurchgedrungen. Mit ihnen konnte er etwas anfangen. Vielleicht zum ersten Mal im Laufe dieses Prozesses. Liebe, Schmerz, lindern, das waren Begriffe aus seiner Welt. Aber mit diesen Worten wurde ihm auch schlagartig bewußt, dass es so etwas wie seine Welt nicht gab, nicht geben konnte. Den Mann auf der Anklagebank, der zuvor in so gleißendem Licht erschienen war, umhüllte nun wieder die Kälte mächtiger Schatten. Er war es, der ihn in diese Welt von Perversion, Gewalt und Grausamkeit gesogen hatte und ihm letzten Endes das traurige Bewußtsein bescherte, das all dies ebenso Teil seiner Welt war. Eine Wirklichkeit, der er sich nun stellen musste, ob er wollte oder nicht.

"Ich weiß nicht, wie man ... nachdem was wir alles erfahren mussten ... Gesundheit und Krankheit noch definieren und voneinander unterscheiden soll. Wenn Sie mich fragen, gibt es Krankheit jenseits medizinischer Fassbarkeit, muss es sie einfach geben. Thomas Janis ... sein Leben mag Ihnen nicht viel bedeuten, aber wenn es so etwas wie einen Sinn gibt, dann ist jener seines Lebens vielleicht, uns diese bittere Erkenntnis zu vermitteln. Diese bittere Erkenntnis, dass es an uns liegt, diesen Schmerz zu erforschen ... und zu lindern ... wenigstens zu lindern.
Wenn Sie sich jetzt also bald zur Beratung zurückziehen, möchte ich Ihnen diesen Gedanken mit auf den Weg geben. Ich danke Ihnen."

Der Mann auf der Anklagebank hatte einen Namen. Ebenso seine Opfer. Er selbst hatte keinen Namen. Nicht innerhalb dieses Gerichtssaals. Er war nur eine Stimme, die nun über Recht oder Unrecht zu entscheiden hatte. Er war Geschworener.

---

Als er ihr einstimmiges Urteil verlas, ließ seine Anspannung um nichts nach. Auch nicht, als der Richter das Ausmaß der Strafe verkündete - sieben mal Lebenslänglich.
Er hatte dem zugestimmt. Über zwei Stunden hatten sie sich zurückgezogen. Obwohl sich jeder einzelne von ihnen schon beim Betreten des Beratungszimmers darüber klar war. Sie kannten die Opfer nicht, wußten nicht, was sie gefühlt haben mussten, konnten sich ihr Leid nicht einmal ansatzweise vorstellen. Als sie sich nach langen Minuten des blanken Entsetzens und purer Fassungslosigkeit einigermaßen gesammelt, gegenseitig Mut und Trost zugesprochen hatten und schließlich zu einem gemeinsamen Urteil gekommen waren, war ihnen bewußt, dass es ihr eigener Schmerz war, der sie diese Strafe aussprechen ließ. Ein Schmerz, der sie bis an ihr Lebensende verfolgen würde. Und wer würde diesen nun lindern ... wenigstens lindern ...?

 

Ich weiß ... betteln ist verpönt, aber ... :shy:

Gerade bei dieser Story würde mich das eine oder andere Feedback doch interessieren, weil sie - aus meiner Sicht - von meinen bisherigen Geschichten hier etwas abweicht und ich ziemlich unsicher bin.

Kein Feedback deutet für mich immer auf Mittelmäßigkeit hin. Ist es das? Denn eindeutig Gutes und eindeutig Schlechtes kann man halt besser kommentieren, als dieses form- und haltlose Zwischendrin.
Wirkt sie auf euch auch so "zusammengeschustert", wie mittlerweile auf mich?

Grüße
Visualizer

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Visualizer!

Kein Feedback deutet für mich immer auf Mittelmäßigkeit hin. Ist es das?
Daß kein Feedback auf Mittelmäßigkeit hindeutet, kann man nicht sagen, denn es gibt genug mittelmäßige Geschichten, bei denen das auch dabeisteht.
Es ist, denke ich, sogar so, daß man sich bei mittelmäßigen Geschichten eher was dazuzuschreiben weiß oder auch traut, als bei solchen Geschichten, die nachdenklich machen, hinter denen wirklich eine tiefere Aussage steckt.
Allerdings sehe ich es nicht gern, wenn gerade Leute, die selbst viele Kritiken schreiben, dann mit null Beiträgen sitzen gelassen werden. Das war eigentlich der primäre Grund, warum ich Deine Geschichte gelesen habe. Ich finde es in so einem Fall schon gerechtfertigt, daß Du nachfragst. Anders sähe ich das, wenn Du nur Deine Geschichten reinstellen würdest und nichts anderes postest - aber das ist ja nicht der Fall.

Die Idee Deiner Geschichte hat mir jedenfalls gut gefallen und ich denke seit ich sie las über Deine Aussage dahinter nach. Vor allem darüber, wie weit sie geht.

Du fragst, ob sie zusammengestoppelt wirkt: Den Teil mit den Aussagen in der Verhandlung, wo Du eine direkte Rede nach der anderen hast, den empfand ich ein bisschen so. Wenn Du die einzelnen Aussagen vielleicht ein wenig mit Text dazwischen verbindest, wäre das glaub ich behoben. Eventuell die Gedanken des Protagonisten dazwischen, oder Eindrücke der Gerichtssaalatmosphäre. Oder jeweils den Sprechenden kurz beschreiben, Gesichtsausdruck, Körperhaltung, etc.

Was mir irgendwie fehlt, ist eine Aussage des Angeklagten, also des Protagonisten. Am Schluß würde er etwa bestimmt auch nochmal gefragt werden, ob er noch etwas zu sagen hat - das könntest Du vielleicht noch einfügen, selbst, wenn er sagt, daß er nichts mehr zu sagen hat. Üblicherweise bittet man da um ein mildes Urteil...

Bei dem kursiven Teil bin ich mir nicht ganz sicher, was er denn da träumt. Ist es das, was er gemacht hat, oder ist es das, was ihm vielleicht als Kind zugefügt wurde, oder ist es nur im übertragenen Sinn zu lesen?
Damit will ich auch sagen, daß mir nicht ganz klar ist, was der Protagonist mit seinen Opfern gemacht hat, denn irgendwie kann ich nicht ganz glauben, daß er sie mit den Fingernägeln aufgeschlitzt, ermordet hat...?
Aber das ist letztlich auch nicht so wichtig für die Aussage der Geschichte.

In Deinen Schilderungen im ersten Teil wird klar, daß er wohl nicht mit ganz wachem Geist gehandelt hat, was ihm von den Experten dann aber abgesprochen wird.

Im weiteren Verlauf bin ich mir dann nicht ganz sicher, worauf Du hinaus willst.
Da ist einmal die Aussage, daß allem Bösen auch ein tiefer Schmerz zugrunde liegt (also jemand handelt böse, weil er selbst verletzt worden ist), und dann ist da die Feststellung, daß die Geschworenen ihr Urteil aufgrund ihres eigenen Schmerzes gefällt haben.

Da sehe ich jetzt die Aussage, daß die Geschworenen nicht mehr objektiv urteilen können, da sie mit dem Urteil ihren eigenen Schmerz, ausgelöst durch Mitgefühl für die Opfer, bekämpfen und das Urteil deshalb logischerweise dementsprechend hoch ausfallen muß, damit es auch sicher wirkt.

Dann sehe ich darin eine Kritik der Darstellung vor Gericht, weil durch die großen Bilder etc. das Urteilsvermögen aller beeinträchtigt wird - eben dadurch, daß es ihnen im Schmerz nicht mehr möglich ist, wertfrei zu urteilen.

Und schließlich könnte es auch sein, daß Du aussagen willst, daß sie selbst alle Schmerz erlitten haben, und es ihnen deshalb so weh tut. Also vielleicht Gefühle aus der eigenen Kindheit projiziert werden. Sie durch die Bilder nur an eigene Schmerzen erinnert wurden, die sie diese Strafe aussprechen ließen, in der Hoffnung, ihr eigener Schmerz, der sie schon ein Leben lang verfolgt und es auch weiter tun wird, würde dadurch gelindert. Rache an einer Ersatzperson, einem Opfer. Der Täter (der selbst einst Opfer war) wird zum Opfer für sie, und sie werden zu Tätern, indem sie ihn zu einer Strafe verurteilen, die ihm vielleicht in dem Ausmaß gar nicht gebührt hätte. Das Urteil mehr ein Racheakt für Schmerzen, an deren Verursacher man sich nicht rächen kann bzw. konnte?

Ja, und dann fällt mir noch die Möglichkeit ein, daß sie kein zu mildes Urteil aussprechen wollen, damit sie dann nicht vielleicht vom Schmerz des schlechten Gewissens, nicht hart genug geurteilt zu haben, bis ans Lebensende verfolgt werden? Sozusagen "sicherheitshalber mal mehr, man weiß ja nie"?

Jedenfalls, auch wenn ich auf keine eindeutige Aussage komme und mir der Traum nicht ganz klar ist, macht mich die Geschichte nachdenklich und im Prinzip hast Du damit wahrscheinlich erreicht, was Du wolltest. Wenn Du aber ein bisschen mehr Klarheit reinbringst, dann ist man weniger mit Rätseln darüber, wie Du das meinst, beschäftigt, sondern kann sich konkreter mit Deiner Aussage befassen, denke ich.

Am Text selbst hab ich kaum was zu kritisieren, im Satz
"Die Zeugin antwortete und durfte den Stuhl wieder verlassen."
- würde ich eventuell den "Stuhl" durch "Zeugenstand" ersetzen. Ich glaub, ich kenn nur Wiener, die das zuerst mit der anderen Bedeutung lesen (und in dem Fall zähl ich mich zu den Wienern). Bei den Deutschen kann ich das nicht kritisieren, da ist "Stuhl" für die Sitzgelegenheit das Gebräuchlichste, aber wenn ich das bei einem Wiener les, dann denk ich erst an den anderen Stuhl... :D
Nachdem Du vermutlich nicht Sessel schreiben willst, schlag ich Dir den Zeugenstand vor - in dem steht man nämlich auch, wenn man eine Aussage macht, man sitzt auf keinem Sessel dabei. ;)

Und warum sitzt der Angeklagte auf "seinem kleinen Holzstuhl"? Sitzt er nicht auf der Anklagebank?

"auf seiner Netzhaut eingebrannt"
- eventuell "in seinem Unterbewußtsein eingebrannt"? Auf der Netzhaut brennt es sich ja nicht wirklich ein...

"Doch das was dahinterlag, entzog sich menschlichem Verstand um ein Vielfaches und kalte Dunkelheit umhüllte ihn, nahm ihn ein, stieß ihn ab und sog ihn gleichzeitig weiter in sich hinein. Imm tiefer, ..."
- Nach Vielfaches würde ich einen Punkt machen und dann mit "Kalte ..." fortsetzen.
- Immer tiefer
- "das was" ist nicht schön...

"Diese bittere Erkenntnis, dass es an uns liegt"
- würde nur "Die bittere Erkenntnis" schreiben, finde das wirkt mehr - ist aber Geschmacksache.

Alles liebe,
Susi

 

Hi Häferl,

vielen lieben Dank für deinen wirklich ausführlichen Kommentar. Ich hab jetzt schon eine ellenlange Antwort geschrieben gehabt, bin jetzt aber zu dem Schluß gekommen, die Geschichte noch einmal zu überarbeiten, nicht zuletzt Dank deiner hilfreichen Hinweise.
Ich meld mich dann noch einmal und möchte auch noch das eine oder andere dazu sagen. (Kann natürlich ein paar Tage dauern)

Grüße
Visualizer

PS: Danke für die netten PMs! ;)

 

So, nachdem ich mich nun gleich dran gemacht habe und auch genügend Zeit hatte, hat es jetzt doch nicht ein paar Tage gedauert: Die überarbeitete Version steht jetzt online.

@ Häferl
Ich denke, sie ist jetzt klarer und dadurch auch besser. Vielleicht solltest du sie jetzt noch einmal lesen, bevor du dich über meinen nachfolgenden Kommentar machst. Ich schätze du wirst sie jetzt, durch die Änderungen bedingt, mit anderen Augen lesen.

---

Hier jetzt mein Kommentar:
Leider hab ich's ja in der ersten Version nicht geschafft, die beschriebene Person näher zu benennen, was dich auch zu dem Irrglauben geführt hat, es handle sich um den Angeklagten. Das sollte jetzt wohl bereinigt sein. In den ersten beiden Abschnitten habe ich es ja bewusst vermieden, eben weil ich beim Leser eine gewisse Unsicherheit erzeugen wollte, aus wessen Sicht denn nun erzählt wird. Erst im letzten Abschnitt sollte es klarer werden - was es jetzt wohl auch ist.

Und damit kommen wir zu deinen (wirklich ausführlichen) Interpretationen.
Bevor ich mit dem Schreiben begonnen hab, war ich mir selbst noch nicht sicher, aus wessen Sicht ich erzählen sollte. Ursprünglich wollte ich die Perspektive des Verteidigers einnehmen, was sicher auch interessant gewesen wäre, dann bin ich aber auf die Idee des Geschworenen gekommen und hab sie besser gefunden, weil man sich als unbedarfter Leser wahrscheinlich besser mit ihm, als mit sonst jemandem, identifizieren kann. So viel ich weiß, werden Geschworene ja mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip aus der Bevölkerung ausgewählt, rein theoretisch könnte also jeder von uns einmal auf diesem kleinen Holzstuhl Platz nehmen und in die Zwangslage, ein Urteil fällen zu müssen, gebracht werden.

Die Frage, die ich jetzt versucht habe aufzuwerfen, ist einfach die, wie ein Geschworener, mit der Flut an Informationen über Gewalt, Perversion und Grausamkeit konfrontiert, überhaupt noch in der Lage ist, objektiv zu urteilen. In meiner Geschichte sind sie ganz bestimmt überfordert und lassen im Endeffekt mehr ihren eigenen Schmerz (über das was sie gesehen und gehört haben) sprechen, als ihren klaren Verstand (auch wenn das Urteil deswegen nicht entscheidend milder ausgefallen wäre).
Ich persönlich möchte jedenfalls nie an einem derartigen Prozess teilnehmen und dann noch dazu als Geschworener ein Urteil bilden müssen. Eben, weil ich mir denke, dass einen so etwas lange Zeit verfolgt. Auf diesem Gefühl basiert die Geschichte.

Zum Traum: Ja, es wird die Tat ansatzweise beschrieben und ja ... der Täter hat seine Opfer bei lebendigem Leib mit zugespitzten Fingernägeln aufgeschlitzt.
Es gab eine Stelle im Plädoyer des Verteidigers, wo das auch klar ausgesprochen wurde, hab ich aber wieder gestrichen, weil ich's für überflüssig gehalten habe. Ist auch ganz gut so, denke ich. Ich habe versucht, die Tat im Traum mit detaillierten "Großaufnahmen" fast ein wenig abstrakt wirken zu lassen und dem Leser keinen Gesamtüberblick über die ganze Stätte des Grauens zu ermöglichen, um das verstörende Gefühl zu steigern. Denn genau diese Details sind es, die im Gedächtnis des Geschworenen hängen bleiben und ihn quälen. Nicht so sehr die Tatsache, dass ein Mensch so und so viele andere Menschen getötet hat, sondern die Vorstellung wie es genau passiert ist.

Den Verteidiger hab ich einen Drahtseil-Akt durchführen lassen. Da ich die Geschichte eben aus der Sicht eines Geschworenen geschildert habe, habe ich eine Beschreibung der Emotionen des Verteidigers zur Gänze ausgelassen und sie nur in seinen Monolog eingebaut. Ich denke, ein Verteidiger hat in so einem klaren(?) Fall nicht wirklich viel zu melden und er tut sein Bestes, um seiner Pflicht - der Verteidigung - nachzukommen und gleichzeitig realistisch und glaubwürdig zu bleiben. Dass sein Mandant zu einer hohen Strafe veruteilt wird, ist ihm selbst klar, und vielleicht oder sogar wahrscheinlich wünscht er ihm auch nichts anderes. Also widerspricht er dem Urteil des Arztes und erkärt seinen Mandanten kurzerhand für krank, denn "in meiner Welt tun gesunde Menschen so etwas nicht". Er appelliert somit an das Mitgefühl der Geschworenen und bittet "nur" um "Linderung des Schmerzes", also um ein mildes Urteil, wohlwissend, dass er mehr gar nicht verlangen kann.

Den "Stuhl-Satz" habe ich jetzt geändert. ;)
Ich wollte zuerst nicht schreiben, dass die "Zeugin den Zeugenstand verlässt" (Wortwiederholung). So geht's jetzt aber auch.
Allein dass du das Wort "Stuhl" bei einem Wiener anders interpretierst, als bei unseren Nachbarn, finde ich aber schon ein wenig seltsam. Da fühl ich mich als Autor schon ein wenig eingeengt, wenn ich so etwas höre. ;)

Grüße
Visualizer

 

Hallo Visualizer!

Wow, jetzt hast Du sie aber ganz toll überarbeitet! :thumbsup:

Also momentan bin ich wirklich beeindruckt, deshalb kann ich jetzt auch keine Kritikpunkte finden... Aber ich schau in ein paar Tagen noch einmal vorbei, vielleicht find ich dann noch was. ;)

Ich denke, daß Du jetzt alles stimmig rüberbringst, auch die Spannung, wer der Protagonist ist, bleibt bis zum Schluß, wo Du es verrätst, erhalten. Da war ich überrascht, denn ich dachte dann erst, er könnte vielleicht ein (überlebendes) Opfer sein...

Die Gedanken, die Du in die Geschichte einbringst, finde ich äußerst interessant und stimme Dir absolut zu: Das sind wohl nicht zu unterschätzende menschliche Probleme, die Du da aufzeigst.

Ach, das hatte ich bei der ersten Kritik vergessen:
"Immer wieder schloß er seine Augen"
- schloss ("ß" nur dann, wenn der Selbstlaut davor lang gesprochen wird, oder ein Diphtong - au, ei, eu, usw. - vorausgeht)

Alles liebe,
Susi

 

Wirkt sie auf euch auch so "zusammengeschustert", wie mittlerweile auf mich?

Keine Sorge, das problem kenne ich selber. Dem ist aber meistens nicht so, hier auch nicht, denke ich.
Allerdings sehe ich es nicht gern, wenn gerade Leute, die selbst viele Kritiken schreiben, dann mit null Beiträgen sitzen gelassen werden. Das war eigentlich der primäre Grund, warum ich Deine Geschichte gelesen habe.

:rolleyes: Teile Häferls Meinung.
Diphtong

Aha, Häferl spricht jetzt als nicht mehr die Sprache des gemeinen Volkes, sondern der Orthografen... :p ;)


Morgen Vizualizer,
hätte mir mehr von dir versprochen. Klingt hart, und ich weiß auch nicht warum; ich will nicht behaupten, dass die Story nichts wäre, aber mir erscheint sie zu lang.
Ein Verteidiger, der zuerst gegen seinen Mandanten redet und dann an die Liebe appeliert. Meiner Ansicht nach unglaubwürdig. Ebenso, dass in einem offensichtlich amerikanischen ( Geschworenenprozeß ) für derartige Verbrechen nicht die Todesstrafe angewandt wird. Oder ist sie etwa nicht in allen Staaten legal? :confused:
Sprachlich ist sie jedoch durchaus gelungen, wenn auch nicht überdurchschnittlich. Die Beschreibung der Seelenqual des Protagonisten ist auch in Ordnung, und ich weiß auch nicht genau, warum ich eigentlich nicht zufrieden bin... wahrscheinlich, weil die Geschichte wirklich einfach nicht genug verdichtet ist, relativ wenig Spannung auf mich ausübte und mir der Verteidiger unglaubwürdig vorkam.
Mach dir jedoch nichts draus, diese Meinung ist höchst subjektiv, und wahrscheinlich wäre sie weniger harsch ausgefallen, wenn ich heute gute Laune und nicht vorher Archetyps überragende Geschichte "Das lange Sterben" gelesen hätte. Werde beizeiten mehr von dir lesen, um ein unfaires Urteil zu vermeiden.
Nichts für ungut,
para


******************************************************************************************

Mit Müh und Not gelang es ihm, tief Luft zu holen und gerade noch zu verschlucken, was in der nächsten Sekunde auf seinem Anzug gelandet wäre
"Mit Müh´ und Not"? Bitte nicht. Passt stilistisch überhaupt nicht.

In der Nacht lag er lange wach. Erinnerungen stiegen in ihm hoch, überspannten seine Schlafstätte wie ein riesiges Spinnennetz voller Ungetier.
Nicht schlecht.

Doch je angestrengter er versuchte, diese Bilder aus seinem Gedächtnis zu löschen, umso unerbittlicher krallten sie sich in seinem Schädel fest, einem Alligator gleich, der - einmal zugeschnappt - nicht wieder loslässt, bis sich seine Beute, nach langem qualvollem Kampf, endlich ihrem Schicksal ergeben hat.
Ist ein Alligator erst einmal zugeschnappt. Erinnert mich an Bärenfallen. Wäre "hat er einmal zugeschnappt" besser?

Doch das was dahinterlag
Hier kannst du auf das "das" ruhig verzichten.

Die Hand streicht über weiße Haut. Nur ein Finger, dessen Nagel. Still bebend, zerrt er jedes einzelne Haar aus den Poren, dehnt es, spannt es bis zum Zerreißen an, lässt es dann durch sein Nagelbett gleiten und hinter sich Gänsehaut zurück.
Dafür braucht es doch zwei Finger. :confused:

Der Schock hält Angst noch länger wach. Bereit für Schmerz und Leid. Endlos.
Prometheische Träume :lol:

Niemand mit wachem Verstand, wird wohl jemals auch nur ansatzweise begreifen können, wie so etwas überhaupt möglich ist
Kein Komma vor "wird".

sich ein paar mal über die schweißnasse Stirn,
"Mal"

Vielleicht zum ersten mal im Laufe dieses
s.o.

 

Hi Paranova,

die Todesstrafe gibt es absolut nicht in jedem US-Bundesstaat (weiß zwar momentan gerade nicht in welchen ja/in welchen nein, aber das ist schon so).

Aber ansonsten kann ich mit deiner Kritik durchaus etwas anfangen, weil diese Geschichte eben für mich auch nicht so 100%ig ist und ich weiß eben auch nicht genau, warum.
Aber vielleicht liegt's wiklich zu einem Teil auch an diesem "Zusammenschustern", weil diese Story eigentlich aus einem anderen Textentwurf heraus gebildet wurde, der für sich gesehen, eine völlig andere Bedeutung gehabt hätte. Da ich aber mit diesem Konstrukt nichts anzufangen wusste, ist später dann irgendwie "Bis ans Ende seines Weges" draus geworden. Naja.

Dafür braucht es doch zwei Finger.
Fang jetzt doch nicht an, Haare zu spalten, Mann! :D

Danke für's Lesen und Kommentieren!
(Und Danke für die Änderungsvorschläge!)

Grüße
Visualizer

 

die Todesstrafe gibt es absolut nicht in jedem US-Bundesstaat (weiß zwar momentan gerade nicht in welchen ja/in welchen nein, aber das ist schon so).

Im Moment neigt man ja dazu, alles amerikanische schlecht zu machen. Vielleicht daher meine irrtumliche Meinung. Danke für die Aufklärung.

Danke für's Lesen und Kommentieren!
(Und Danke für die Änderungsvorschläge!)
Das hör ich sehr gerne.

Fang jetzt doch nicht an, Haare zu spalten, Mann!
:D Ist aber so. :p
Ist immer schlecht, wenn man beim lesen über so etwas stolpert, denn man denkt drüber nach und fällt aus dem Lesefluß.

Schlaf gut,
para

 

@Paranova -

Ebenso, dass in einem offensichtlich amerikanischen ( Geschworenenprozeß ) für derartige Verbrechen nicht die Todesstrafe angewandt wird.
Warum deutet ein Geschworenenprozeß auf Amerika hin? Die gibt es doch bei uns auch, es kommt nur auf die Anklage an - aber bei einem Mord ist es immer ein Geschworenengericht.
Daß es die Todesstrafe nicht in allen US-Bundesstaaten gibt, stimmt aber auch.

Das mit dem Fingernagel und den Haaren habe ich so verstanden, daß das die Haare auf der Haut sind, der Fingernagel drüberfährt und dadurch dran reißt - da braucht man keinen zweiten Finger dazu. So in der Art wie die Werbung für die Wegwerfrasierer. ;)

Alles liebe,
Susi

 

Hei Vis, so richtig gut hat mir gefallen, wie du die Technik und die Prozedur des Schmerzenzufügens beschreibst. Das halte ich für sehr gelungen. Ansonsten ist es Durchschnitt. Susi hat viele Dinge verbessert, die ich auch verbessern würde. Ja, macht sie schon toll.

Ich hätte es alles etwas abstrahierter geschrieben. Für die Länge der Story geschieht zu wenig. Plädoyer vermischt sich ein wenig mit Geschwafel. Die Einleitung finde ich schon zu lang. In der Einleitung bist du sehr bemüht dem Leser vor Augen zu halten welches Grauen sich abgespielt hat. Etwas zuviel Dramaturgie für meinen Geschmack. (Ich check das auch nach n paar Sätzen, schon:D )

Du sorgst also für Spannung, sie läuft aber nicht von selbst, in dieser Geschichte.

Wie gesagt: Hervor sticht die hübsche Detail-Schilderungen im Bereich der "Körperöffnung", sodaß ich fast sagen möchte, dass mir schon fast unverständlich ist, dass es bei diesem einen Qualitätsausbruch blieb!!

Liebe grüsse Stefan

 

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