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Bilo-Bilo
Als Edna schwanger war, konnte ich mich vor Neugierde und lästigen Fragen nicht mehr retten. Schier unglaublich, was die Leute alles wissen wollten. Und kam ich nach Hause, ging es weiter: „Na, Bärle, wie geht’s eurer baldigen Mutter?“, bohrte meine Frau, „Könnt’s zwar auch in der Zeitung lesen, aber du bist näher dran.“
„Das schon, aber die Zeitung dichtet mehr dazu – und da hätte es genau so gut unsere fantasievolle Carla schreiben können.“
Auf der Galerie wurde unsanft ein Stuhl gerückt. „Was ist mit mir schon wieder!? Ich höre den ganzen Tag nur Carla, Carla, Carla!“, schrie sie mit erhobenen Armen von oben runter und warf den Pferdeschwanz hin und her, „Carla hier, Carla da – da kriegt man doch Zustände!“
„Ach, das arme Kind!“, sagte ich in die Luft. „So weit ist es schon gekommen“
„Und ernst genommen werde ich auch nicht!“ Sie beugte sich übers Geländer und flennte: „Von niemandem!“
„Oh doch, meine Süße. Weißt doch, wie lieb dich Mami und Papi haben“, versuchte ich mich im Spötteln, „du musst nur eine gute Figur im Team machen.“
„Das heißt wohl parieren?", fragte sie aufgekratzt, "Kannst Du haben: Zu Befehl, Herr Vater! Das ist doch, was du hören willst.“
„Oh, das wäre wunderbar! Aber leider hast du immer noch deinen Kopf durchgesetzt.“
Meine Frau unterstützte mich: “Deshalb gibt’s schon wieder Bolognese. Jetzt lasst es nicht kalt werden!“ Die Spaghetti waren schön weich, ich hasse harte Nudeln.
Zwar wusste ich nur, dass Edna wegen einer Zyste geröntgt und dabei das junge Leben entdeckt wurde, doch wirbelte es in meinem Kopf. Ich stellte mir alle möglichen Situationen vor, in die unser Nachwuchs geraten konnte - oder auch wir, die wir für ihn zu sorgen hatten. Ein Orang-Utan-Baby - was für eine Sensation! Uns machte die Arbeit mehr Spaß als je zuvor.
Jedenfalls veränderte sich von da an die Atmosphäre des Vailinger Zoos. Es wurde geschwätzt und spekuliert, ein nervöses Raunen zog durch die Korridore.
Der Winter ging dahin und das tolle Frühlingswetter wurde gelobt und gepriesen. Danach hatte man sich verzehrt, lange schon. Wieder draußen sitzen, das Gesicht der Sonne entgegengereckt, mit entblößten Schultern und Beinen. Und am Abend eines solchen Tages wurde Bilo-Bilo geboren.
Ednas Wehen begannen schon am Morgen, unsere Mannschaft war vollzählig. Alkohol war verboten, doch schon mittags machten einige Pikkolos die Runde. Kollegen, die sich mieden, plauschten unversehens miteinander, die Stimmung war ungewohnt heiter, in den folgenden Stunden sogar ausgelassen.
Auf der anderen Seite der Barriere war die Begeisterung über die gute Nachricht fast in Hysterie umgeschlagen. Die Zeitungen übertrumpften einander mit tollen Fotos und Berichten, die frohe Kunde galoppierte in alle Himmelsrichtungen und die Menschen waren entzückt. Der Zoo schrieb das erste Mal schwarze Zahlen, das Fernsehen war vor Ort und Unzählige mussten abgewiesen werden – einem solchen Ansturm war der Zoo nicht gewachsen.
Viele sahen wohl in dem kleinen Kerl mit Telleraugen und rötlichem Haarschopf auch eine Symbolfigur angesichts des täglichen Raubbaus am Regenwald, aber er wird’s nicht richten können – das müssten sie schon selbst in die Hand nehmen. Jedenfalls erschien mir die ganze Aufgeregtheit übertrieben, zumal es nichts zu sehen gab. Bilo-Bilo war in Quarantäne.
Besorgt, die Mama könne ihren Talisman in einem unbedachten Augenblick erdrücken oder sonstwie gefährden, nahm man den Kleinen in Obhut. Denn auch von außen drohte Gefahr: Die Medien versprühten Panikbazillen wegen Geflügelgrippe, Schweinepest und tausend anderer Bedrohungen. Doch das liegt schon Wochen zurück.
Der Kleine, Wohlbehütete ist die reine Lebenslust, ein Schelm und Possenreißer. Er wächst in einem erstaunlichen Tempo, und das verwundert niemanden, der seinen Appetit kennt.
Bilo-Bilo mag seine Eltern. Er hat mehrere Mütter und Väter – und die sind sehr lieb zu ihm; ihre Haut ist glatt und seidig wie Kokosmilch.
Wer schöne Eltern hat, wird so wie sie. Er weiß, dass er ein Schöner ist. So tollt er durch die Gegend, hat eine Menge Spielzeug, trainiert die Doppelspirale am Seil und klaut alles Mögliche, mit dem er dann doch nichts Rechtes anzufangen weiß.
Es wird Sommer, Gewitterwolken türmen sich; über die Außenkameras schaue ich Bilo beim Balancieren zu. Bald verliert er die Lust und kommt ins Haus. Trotz des launischen Himmels flutet die Sonne den ganzen Raum, alles spiegelt sich edel und klar. Jetzt hab ich ihn auf dem anderen Monitor. Ich sehe, wie er an der Trennscheibe plötzlich zusammenzuckt – wie vom Blitz getroffen. Er weicht einen Schritt zurück. Ich schalte die zweite Kamera dazu. Sein Gegenüber ist ein fürchterlicher Geselle. Zottelig, mit rotbraunem Fell, mit großen runden Augen und unschönen langen Armen. Bilo steht wie erstarrt. Wohl unbewusst kratzt er sich hinterm Ohr – und das Gleiche tut sein Gegenüber!
Jetzt kneift er ein Auge zu – der andere auch.
Bilo machte dies – der andere auch.
Er machte das – der andere ebenso!
Schließlich bringt es die Sonne an den Tag. Ein goldener Strahl kitzelt seine Nasenlöcher und er niest, heftig und scheppernd – zeitgleich mit seinem Spiegelbild! Jetzt hat er’s kapiert.
Er bekommt nicht genug Luft, er steht unbeweglich. Dann beugt er sich etwas vor, weil so das Atmen leichter fällt. Ungläubig starrt er in sein Gesicht.
Die Fröhlichkeit ist dahin, das unbeschwerte Herumtoben. Er sitzt zerknirscht in einer Ecke, aus der er nicht mehr heraus will. Wir locken ihn mit Schokolade, doch er rührt sie nicht an. Für nichts mehr interessiert er sich. Er beachtet sein Futter nicht, auch wenn es das allerfeinste ist. Sein Fell ist jetzt stumpf, die Augen blicken glanzlos zu Boden. Je mehr ihn die Apathie umfängt, desto aufgeregter wird die Atmosphäre um ihn herum. Tierpsychologen und -mediziner, Rekispezialisten und andere Fachleute bemühen sich nach Kräften, seinen Lebenswillen wieder zu stimulieren, doch es geschieht kein Wunder. Wir leiden mit ihm. Richard, der Witze-Erzähler, hält den Mund – selbst über seinen besten Joke würde kein Mensch lachen. Eine bedrückende Stimmung liegt in der Luft, lustlos wird die Arbeit verrichtet. Ein jeder fühlt sich erbärmlich, weil er doch nicht helfen kann.
Wir halten bei ihm Wache, Tag und Nacht. Er bekommt mehr Wärme, noch weichere Kissen, Injektionen mit Nährlösung, aufgelöste Tabletten, leise Musik – doch er wird immer kleiner unter der Infrarotlampe, auf den dicken Kissen. Es ist, als ob er schrumpft. Sein herumliegendes Spielzeug wirkt in dieser Traurigkeit wie eine bunte Geschmacklosigkeit.
Die junge Tierärztin räumt es dann am nächsten Morgen weg, mit nassen Augen und zuckenden Mundwinkeln. Er braucht es nicht mehr. Dann faltet sie das obere Kissen zusammen wie ein Kuvert und trägt ihn hinaus. Wir stehen im Gang und nehmen unsere Mützen ab, suchen nach einem Taschentuch: Witze-Richard, Alligator-Tarzan, auch der, der auf dem Nashorn reitet, und Hubert, der Herr der Elefanten.