Bildhafte Kindheitserinnerungen
Die Kunst wird in unseren vier Wänden hoch geschrieben. Schon mein Vater verschönerte die Wände mit Bildern, die meiner Kindheit und im Besonderen der Erinnerung an diese, einen wunderbaren, unnachahmbaren Glanz verliehen. Auf einem großen Bild im Flur war eine wunderbar detailreiche Stadt zu sehen, die golden von der Sonne angestrahlt wurde. Dieses Motiv, was mir heute als eindeutig bestes und wertvollstes Bild in der bescheidenen Sammlung meiner Familie auffällt, weckte damals kaum mein Interesse. Ein flüchtiger Blick auf die angestrahlte Stadt schien mir vielmehr zu deuten, dass ich zu Hause war. Immer, wenn ich von meinen Streifzügen, die die Grenzen meiner kleinen Welt überschritten, zurückkehrte, lehnte ich mich mit dem linken Arm, halb in der Hocke, an die dem Bild gegenüberliegende Flurwand und betrachtete es einige Sekunden lang flüchtig, bis ich mich, an der Ferse mit der linken Hand zu Hilfe kommend, meines rechten Schuhes entledigt hatte. War ich allerdings an meinem linken Fuß zugange, fiel mein Blick immer direkt auf den Schuhschrank, in den ich meine Schuhe gleich stellen würde, wenn ich auch den anderen ausgezogen hatte. Die goldenen Dächer der Stadt mit den drei hohen Türmen und dem unglaublich detail verliebtem Treiben auf dem Markt, weckten in mir also kaum mehr Interesse, als es der alte Schuhschrank tat.
Viel genauer betrachtete ich immer das Bild im Essenszimmer. Dort war gegenüber von meinem Platz das Bildnis einer jungen Frau zu sehen, die ein langes weißes Kleid trägt. Wie es auf Bildern üblich ist, ist sie sehr attraktiv, nur für mich, wie ich glaubte. Sie hat rote Vagen, und trägt ein weißes Kleid, das mit grauen Streifen verziert ist, hält einen passenden Regenschirm in der Hand.
Sie hat ein junges Gesicht, ist höchstens zwanzig, lebensfroh, kraftvoll und doch zart, erst, wenn ich mir das Bild jetzt, Jahre später wieder versuche vor mein geistiges Auge zu holen, wird mir klar, dass dieses Bildnis einer Frau sehr nah an das geistige Bild meiner Traumfrau heranreicht, die ich so lange in meinem Leben gesucht, aber nie gefunden habe, und wenn ich es glaubte, verstoßen und abgelehnt wurde.
Ich sehe mich, wie ich das Bild betrachte, die Frau wird von der Sonne genau in dem Maße angestrahlt, die es mir möglich macht, ihr Gesicht optimal zu erkennen. In der rechten Hand trägt sie ihren aufgeklappten Regenschirm, der über ihrem Kopf den Schatten erzeugte, der es mir möglich macht, ihr Gesicht trotz der Sonne optimal zu erkennen. Oder nein – es muss ja ein Sonnenschirm gewesen sein, all die Jahre!