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Bildermeer
Bei ihr ist alles voller Zettel und Papierbögen mit Zeichnungen, sie liegen kreuz und quer überall verstreut. "Sieh dir so viele an wie du willst", sagt sie. Ich nehme einige, greife fast gierig zu wie beim Schlussverkauf, was mir peinlich ist. Aber ich werde zu ihnen hingetrieben, will sie aufsaugen und verschlingen, sie zu meinen eigenen Bildern machen. Und ich bin dieser jungen Frau dankbar dafür, dass sie mich, einen Fremden, in ihre Wohnung gelassen hat, obwohl wir uns auf der Straße getroffen haben und uns erst seit einer halben Stunde kennen.
Bei einem Bild bleibe ich lange hängen, es zeigt ein Walross mit langen Stoßzähnen, die wie spitze Messer enden und blutige Wunden in den Boden ritzen. Auf einem anderen ist ein Jäger abgebildet, der einen Flammenwerfer in den Händen hält und einen überdimensionalen Hasen verbrennt. Ein weiteres zeigt eine Hand, in der ein kleiner abgeschnittener Babykopf liegt.
"Ich kann seit Monaten nichts anderes machen" sagt sie, hinter mir stehend. "Jeden Tag und jede Nacht schießen diese Bilder wie Blitze in meinen Kopf, und ich muss sie wieder herausbekommen, indem ich sie aufzeichne. Aber ich kann sie nicht einfach wegwerfen. Es ist, als ob sie zu mir sprechen und es nicht erlauben."
"Du brauchst dringend Hilfe." Sie lächelt ein wenig, aber es ist kein Lächeln aus Freude. "Die habe ich. Es gibt da einen Arzt..."
"Hast du sonst keinen zum Reden?" frage ich. Sie dreht mir den Rücken zu und setzt sich an ihren Schreibtisch, beginnt eine neue Zeichnung. Ich höre wie sie mit dem harten Bleistift über das Papier fährt. "Kann ich dich besuchen kommen?" frage ich. Ich will ihr unbedingt beistehen, bin in die Sache involviert, es ist jetzt auch meine Angelegenheit.
Aber plötzlich werde ich mir auch der Situation bewusst. Die Flut an Bildern droht, mich zu erdrücken. Ich habe das Gefühl, das Gebäude stürze über mir ein. Das ist mir alles zu viel hier.
"Komm morgen. Irgendwann.“
Ich glaube ich schaffe das gar nicht. Ich muss hier weg.
Aber das zeige ich nicht. "Wie heißt du?" frage ich. "Nadja“, sagt sie.
Sie umarmt mich zum Abschied wie einen guten Freund, was ich nicht erwartet hätte. Der Blick, den sie mir nachwirft, als ich die Treppe hinabsteige, zeugt von Bedrückung. Aber da ist auch so ein Funkeln in ihren Augen - was bedeutet es? Dann dreht sie sich um zur Tür und verschwindet in ihr Bildermeer.
Als ich aus dem Haus gehe ruft mein Chef auf dem Handy an und faselt irgend etwas von Selbstdisziplin und Verantwortungslosigkeit. Ich drücke ihn weg und mache mich auf den Weg nach Hause. Da bemerke ich einen Zettel in meiner hinteren Jeanstasche. Es ist eine Zeichnung von Nadja: eine Frau und ein Mann und viele Sprechblasen, die mit kleinen Bildern gefüllt sind.