Bilder (und was dahinter steckt)
Was macht den Tisch zum Tisch?
Seine Materialien? Seine Form?
Wenn ich einen Tisch zersäge, ist er dann kein Tisch mehr? Warum nicht?
Ich sage dir, was ein Tisch ist: Er ist nichts weiter als das Bild, der Gedanke „Tisch“, der sich in unsere Köpfe gebohrt hat. Wenn man ein Bild genau betrachtet, und nicht auf das hört, was unsere Menschlichkeit uns darüber erzählt, erkennt man, das es sich nur um Papier und Farbe handelt.
Genauso ist es mit dem Menschen, weißt du. Wenn man erst das Bild namens „Mensch“ durchschaut hat, ist der Rest nicht mehr schwierig. Wie du vielleicht feststellst, habe ich keine Angst vor dir. Keine Ehrfurcht und keinen Respekt. Das bist du nicht gewohnt, nicht wahr? Jeder hat doch vor dir Angst! Aber für mich bist du nur noch Fleisch und Fett, Biomüll. Ich habe deine Größe und deine Kraft durchschaut. Es ist ganz einfach: Muskeln kontrahieren, die Kraft wird über Sehnen weitergeleitet und über Gelenke wird eine Bewegung ausgeführt. Wie du wohl gerade mit Verzweiflung feststellst, sind deine Muskeln, und seien sie noch so groß und bedrohlich, genauso hilflos wie zuckende Kaulquappen an land. Zumindest sobald keine Sehnen an ihnen befestigt sind, die die Kraft weiterleiten könnten.
Bemüh dich nicht, du kannst nicht mehr schreien. Alles was man hört, ist dein mitleiderregendes Keuchen und Röcheln. Bitte unterlass das.
Du fragst dich vielleicht, wie du überhaupt hierhin kommst. Hier in dieses Zimmer, völlig nackt und mit mir allein gefangen. Natürlich, die Nachwirkungen des Chloroforms sind verheerend. Dir ist schwindelig, schlecht, und du hast klaffende Lücken in deinem Gedächtnis. Wie gesagt, wenn man erst mal das Bild durchschaut hat, kann man ganz logisch vorgehen. Alles eine Frage der Physik und der Chemie. Meine Lieblingsfächer, musst du wissen. Pure Logik.
Dein ach so scharfer Verstand kann dir nichts nützen, wenn die Nervenbahnen blockiert sind. Du brauchst nur ein paar Tropfen dieser Substanz einzuatmen, und schon arbeitet dein Hirn auf Hochtouren, während alles andere lahmgelegt ist. Ich habe dich hierher gebracht und dich ausgezogen... Keine Angst, ich bin nicht sexuell an dir interessiert. Ich habe dich schließlich durchschaut. Sexuelle Reize können mir nun nichts mehr anhaben. Aber die Kleidung gehört mit zu dem Bild deiner Persönlichkeit, und ich musste sie entfernen, um ganz unbeeinflusst mit unserem Unterricht beginnen zu können.
Ich hoffe, du hast bereits begriffen, wovon ich gerade sprach. Alles was wir kennen, oder zu kennen glauben, ist nur das äußere Bild dessen, was es tatsächlich ist. Erst, wenn man diese Bild entlarvt hat, kann man effektiv mit dem Objekt arbeiten. Sehen wir uns deinen Körper mal genauer an: Das Gehirn braucht Verbindungen zum Körper. Sonst geht gar nix. Deine Muskeln brauchen Verbindungen zu den Objekten, die sie manipulieren wollen. Während du schliefst, habe ich also die Sehnen an deinen Hand- und Fußgelenken durchtrennt, was gar nicht so einfach war. Deine Haut ist ganz schon reißfest. Ich musste mit dem Messer richtig bohren, um zwischen deine Ferse und die Sehne zum Unterschenkel zu kommen. Solche Sehnen sind ganz schön glitschig und schlüpfrig, weißt du, und sie flutschen von einer Seite zur anderen. Kaum klein zu kriegen. Hat mich ganz schöne Kraft gekostet, minutenlang hin- und herzusägen, bis die beiden Scheißdinger endlich durch war. Das Geräusch hättest du hören sollen, als diese Sehne, wie einem Bogen gespannt, durchriss und in dein Fleisch zurücksprang... und wie deine sonst so wunderschönen und vielbeneideten Muskeln sich unter der Haut verformten und zu zuckenden Klumpen wurden. An deinen Händen musste ich übrigens besonders vorsichtig sein, denn wir wollen ja nicht, dass unser Unterricht schon vor der letzten Lektion unterbrochen wird... du weißt, wie empfindlich diese Pulsadern sind.
Mann, das muss ein komisches Gefühl sein... du strengst deine Muskeln so sehr an, wie du nur kannst... und nichts bewegt sich. Und dabei spürst du nicht einmal den Schmerz, den die Rezeptoren an deiner Haut und in deinem Körper ununterbrochen an dein Gehirn funken. Das ist eine der positiven Eigenschaften nervenbeeinflussender Chemikalien wie Morphium.
Besonders stolz bin ich auf meinen Eingriff in deinen Kehlkopf, bei dem es mir gelang, deine Stimmbänder größtenteils zu entfernen, ohne deine Luftröhre oder deine Halsschlagadern so stark zu beschädigen, dass sie unseren Unterricht gefährden könnten. Natürlich bin ich das eine oder andere mal abgerutscht, aber das wird uns jetzt noch nicht stören. Die Wunde an deinem Hals ist noch offen, wundere dich also nicht, wenn du plötzlich nicht mehr den Mund zum Atmen aufzumachen brauchst.
Du siehst also, ich habe dich gefangen, unschädlich gemacht und verhindert, dass du um Hilfe rufen könntest... und das alles völlig ohne rohe, körperliche Gewalt und ohne Fessel und Knebel. Ist doch schon mal eine ansehnliche Leistung... behaupte ich einfach mal. Und wie ich höre, widersprichst du mir in diesem Punkt nicht.
Also bitte! Solche Annäherungsversuche bringen doch nichts! Du kannst zwar deine Arme und Beine bewegen, aber ohne Hände und Füße sind sie praktisch nutzlos. Jeder schlag von dir ist so unkoordiniert, dass du gleich wieder auf den Boden klatschst. Siehst du? Zack! Hihi! Schon hast du einen klaffenden Spalt im Arm! Und noch einen! Jedes mal, wenn du versuchst, mich zu erreichen, steche ich wieder zu. Lass es lieber bleiben, es hat doch keinen Sinn. Und glaub nicht, ich hätte da Hemmungen. Tatsächlich kann ich eine sehr lange Zeit auf deine Arme und Beine einstechen, bevor du eine Wirkung verspürst. Und noch einen! Was ist das für ein Gefühl, so völlig hilflos zu sein und nichts tun zu können, um die Situation irgendwie aufzubessern? Scheiße, nicht wahr? Oh ja, ich kenne das.
Oha, was ist das? Hört das Schmerzmittel langsam auf zu wirken? Welcher Schmerz ist wohl der schlimmste? Der an deinen verstümmelten Gelenken? Oder der an deinem offenen Hals? Oder die an den vielen tiefen Schnitten in den Armen und Beinen? Hey, ich kann ja ein Stück von deinem Knochen sehen! DAS muss wehtun.
Weißt du, früher wollte ich immer Arzt werden. Es ist doch ein zauberhafter Beruf... geradezu auf magische Weise heilt man die Menschen von allen möglichen Leiden. Die moderne Medizin macht es möglich, mit größter Präzision den Körper zu sezieren und ihn mit beeindruckender Sauberkeit zu reparieren. Dann habe ich das Bild des Arztes durchschaut und gesehen, was er wirklich ist: Ein Metzger. Er heilt den Körper nicht, er repariert ihn nicht, er zerstört ihn! Er durchtrennt Gewebe, so wie es ein Löwe mit seinen Zähnen macht, um seine Beute zu töten. Er zerstückelt, zerschnibbelt und zerstört alles, was die Natur so schön gemacht hat... und ich kann dabei keine zauberhafte Präzision oder Sauberkeit mehr erkennen, die an magische Heilkünste erinnern würden.
Irgendwie habe ich das Gefühl, du hörst mir gar nicht mehr zu... sind die Schmerzen vielleicht schon zu groß, zu unerträglich? Naja, auch gut. Ich gebe dir noch eine Spritze von diesem wunderbaren Morphium, jaah, das ist gut, nicht wahr? Aber schlaf mir bloß nicht ein, hörst du?
Also, da du jetzt wieder ruhig bist, können wir ENDLICH zu unserer letzten Lektion kommen. Hey! Hör mir zu, verdammt! Also, ich schneide dir jetzt beide Halsschlagadern durch – hey, hey, psssst, nicht wehren! Lass es einfach geschehen. Pssssssst, ja so ist gut. Also, du spürst nichts davon, aber ich beschreibe es dir gern. Allein mit dieser kleinen 10 Zentimeter-Klinge habe ich dir all diese Wunden zugefügt... siehst du das? Das ist dein Blut, ja. Ich hab mich ja immer schon gefragt, warum manche Adern blau aussehen, und manche rot, aber dein blut ist sprudelt aus allen Adern rot heraus. Hmm... Nun gut, jetzt müsstest du fühlen, wie du langsam müde wirst, deine Muskeln entspannen sich, und jeder klare Gedanke aus deinem Kopf löst sich nach und nach in Nichts auf. Vielleicht läuft ja gerade dein Leben im Zeitraffer vor deinen Augen ab, und du weißt sicher, was das bedeutet. Das wird deine letzte Lektion sein: Pass genau auf, was passiert, wenn dein Leben erst mal vorbei ist. Ich hoffe, dann endlich wirst auch du das Privileg haben, dieses wunderschöne Bild des „Todes“ zu durchschauen. Wenn du stirbst, und ja, du wirst gleich sterben, dann fängt nicht ein neues, wundervolles Leben in einer anderen Welt an. Du wirst auch nicht wiedergeboren, und du wirst auch kein Geist werden, der die Erde bewandelt und die lebenden verflucht. Es wird einfach NICHTS sein, nicht einmal schwarz, sondern Nichts. Ende des Programms. Kein Funke mehr im Gehirn, kein Gefühl mehr im Körper. Auch wenn es schwer zu begreifen ist, aber der Tod ist nichts. Der Tod ist nur das Ende vom Leben. Und, sehen wir es, wie es ist, dein Leben ist nur Papier und Farbe.
Und? Kannst du es sehen? Durchschaust du –